Schizophrenie - Suche nach Ursachen und Auslösern
Studien der letzten Jahre mit verbesserten epidemiologischen und neuen biologischen Methoden widerlegen die Annahme, die Krankheit habe vorwiegend psychosoziale oder familiendynamische Ursachen und werde durch wachsende Zivilisation und Technisierung gefördert. Hingegen zeigte sich, daß das weibliche Geschlechtshormon Östrogen einen gewissen Schutzeffekt hat.
Etwa ein Prozent der Bevölkerung erkrankt im Laufe des Lebens an Schizophrenie, einer ernsten, wenn auch nur ausnahmsweise tödlich verlaufenden Geistesstörung. Sie beginnt meist in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter und verläuft gewöhnlich in Schüben, die in mehr als der Hälfte der Fälle neuropsychische Defizite hinterlassen: Solche Menschen haben Probleme, Informationen adäquat zu verarbeiten; sie werden antriebslos, kontaktarm und emotional weniger ansprechbar. Gut ein Drittel aller Erkrankten büßt dadurch erheblich an kognitiven und sozialen Fähigkeiten ein. Bei rund einem Fünftel hingegen heilt die Schizophrenie – was allgemein weniger bekannt ist – nach dem ersten Schub folgenlos aus.
In den akuten psychotischen Phasen – medizinisch Episoden genannt – stehen Sinnestäuschungen, Wahn und Denkstörungen im Vordergrund: Die Kranken hören Stimmen, die ihr Tun kommentieren oder sich unterhalten; sie glauben, ihre Gedanken würden blockiert, beeinflußt oder abgehört, und sie fühlen sich entmächtigt, im Denken und Handeln durch fremde Einflüsse gesteuert, beobachtet, verfolgt und bedroht (Bild 1). Gedankengänge und sprachliche Äußerungen werden zerfahren und sprunghaft, Begriffe unscharf ausgeweitet und Wörter neu geschaffen. All diese sogenannten positiven Symptome – auch als Plus- oder als Produktiv-Symptomatik bezeichnet – kennzeichnen, was der Volksmund unter Verrücktheit versteht. Sie gehen in der akuten Phase mit Verwirrung, elementarer Beunruhigung und Angst einher, und sie sind in der Regel begleitet von sogenannten negativen oder besser Defizit-Symptomen – den schon erwähnten, häufig bleibenden kognitiven, emotionalen und sozialen Beeinträchtigungen. Hinzu kommen mitunter schwer nachvollziehbare Gefühlsreaktionen und Verhaltensabweichungen. All das macht verständlich, warum man bis in die Zeit der Aufklärung von Schizophrenen oft glaubte, sie seien von Dämonen besessen.
Folgenschwere Unkenntnis
Erstmals wissenschaftlich beschrieben wurden einzelne Merkmale dieser vielgestaltigen Krankheit Mitte des letzten Jahrhunderts von französischen und deutschen Psychiatern. Der erste, der die verschiedenen Erscheinungsformen und Verläufe als zusammengehörig erkannte, war der deutsche Psychiater Emil Kraepelin. Er faßte sie 1896 unter der Bezeichnung Dementia praecox zusammen, weil er annahm, das früh auftretende (lateinisch praecox) Leiden münde unausweichlich in eine „eigenartige Form von Geistesschwäche“ (Demenz). Als Ursache vermutete er eine unbekannte Störung bestimmter Hirnfunktionen. Den Namen Schizophrenie – Spaltungsirresein – prägte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler 1911, weil er in einer Assoziationsstörung, die er als Spaltung psychischer Funktionen bezeichnete, das zugrundeliegende funktionelle Defizit dieses Leidens sah. Er hatte bereits erkannt, daß der Defekt, der sich dabei entwickeln kann, etwas grundlegend anderes ist als die durch Gefäßkrankheiten oder Verlust von Nervenzellen verursachten Demenzprozesse des höheren Lebensalters. Was der Schizophrenie jedoch zugrunde liegt, vermochte auch er nicht zu erklären.
Noch immer sind aus der Gesamtheit der Faktoren, die Schizophrenie verursachen, nur wenige bekannt – und das nur fragmentarisch und ohne klaren Zusammenhang. Darum fehlen auch Mittel und Maßnahmen, dem Ausbruch der Krankheit vorzubeugen, sie kausal zu behandeln oder ihre Folgen – die geistigen und sozialen Behinderungen – zuverlässig zu verhindern. Die Möglichkeiten beschränken sich auf eine symptomatische Therapie mit speziellen Medikamenten: Diese Neuroleptika unterdrücken rasch die positiven Symptome während der akuten psychotischen Episoden und beugen danach Rückfällen vor. Zurückbleibende Behinderungen lassen sich vorerst nur durch soziale und kognitive Trainingsverfahren, Verhaltenstherapie und Rehabilitationsmaßnahmen günstig beeinflussen.
Wo die modernen Möglichkeiten voll ausgeschöpft werden, haben sich das Schicksal der Erkrankten wie auch die Atmosphäre psychiatrischer Krankenhäuser einschneidend gewandelt. Noch 1930 blieb ein Schizophrener, der erstmals in eine dieser Kliniken Württembergs eingewiesen worden war, durchschnittlich 8,5 Jahre, und dies waren im Vergleich mit anderen westlichen Ländern – etwa den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Irland – eher günstige Zahlen; heute dagegen sind es wenige Wochen.
Das Fehlen wirksamer Therapien ließ die Betroffenen und ihre Familien, aber auch die Psychiater resignieren. Dies hat sich im Vergessen der durchweg als unheilbar eingestuften Kranken und im Vernachlässigen der Heil- und Pflegeanstalten ebenso niedergeschlagen wie im unzureichenden Widerstand vieler Ärzte und mancher Angehöriger gegen die beschönigend Euthanasie genannte Tötung psychisch Kranker in Deutschland unter dem nationalsozialistischen Regime.
Das tragische Schicksal der Kranken und die unklaren Ursachen ihres Leidens waren nach dem Zweiten Weltkrieg Anlaß zu intensiven Forschungsbemühungen, aber auch zur Entwicklung spekulativer Theorien. Erheblichen Einfluß vor allem auf die amerikanische Psychiatrie gewannen psychoanalytische Hypothesen wie die von der schizophrenogenen Mutter, der gespaltenen Familie und den gestörten familiären Kommunikationsprozessen (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1987, Seite 38). Sie wirkten sich in einer fatalen familienfeindlichen Strömung innerhalb und außerhalb der Psychiatrie aus. Den Eltern, die mit und unter ihren schizophrenen Söhnen oder Töchtern meist schwer zu leiden hatten, bürdete man damit auch noch Schuldgefühle auf. Sie haben sich deshalb in Angehörigenverbänden organisiert und wirksam gegen diese Diskriminierung zur Wehr gesetzt. Mittlerweile ist die Beratung von Angehörigen, mitunter auch ihre Einbeziehung in Therapie und Rehabilitation, zu einem Bestandteil guter Schizophreniebehandlung geworden.
Niedriger Sozialstatus
Die Suche nach den Ursachen der Schizophrenie hat Forscher aus nahezu allen Gebieten der Humanwissenschaften beschäftigt. In den fünfziger und sechziger Jahren hatte sich vor allem in den Vereinigten Staaten unter Sozialwissenschaftlern und Medizinern die Überzeugung verbreitet, das Leiden sei eine Folge sozialer Benachteiligung. Ausgangsbasis war eine große ökologische Studie aus dem Jahre 1939 in Chicago, wonach sich die einzelnen Stadtteile im Prozentsatz Neuerkrankter – gemessen als Rate erstmals stationär aufgenommener Schizophrener – unterschieden: Die höchste Erstaufnahmerate wurde aus dem sozial desintegrierten Zentrum mit seinen schlechten und billigen Mietwohnungen ermittelt, die niedrigste aus den Stadtrandgebieten, wo die Wohlhabenderen lebten. Dieses Verteilungsmuster hat sich in zahlreichen weiteren Studien auch in europäischen Städten überwiegend bestätigt.
Eine entsprechende Ungleichverteilung zeigt sich, wenn man statt nach Wohnbezirken direkt nach dem Sozialstatus aufschlüsselt: Die höchsten Erstaufnahmeraten für Schizophrenie fanden sich in der Mehrzahl der Studien in der niedrigsten Klasse. Nach Schätzungen amerikanischer Wissenschaftler aus dem Jahre 1988 hat – bei einer Unterteilung in drei Klassen – die untere ein dreifach höheres Erkrankungsrisiko als die obere.
Dieser statistische Zusammenhang mit dem Sozialstatus wurde voreilig als Kausalkette gedeutet, bei der einzelne Glieder ineinandergreifen. Die Annahmen darüber, welche Sachverhalte hier mitspielen, gingen indes auseinander. Vorgeschlagen wurden familiäre Wertemuster oder Persönlichkeitszüge, die mit der Sozialisation in der Unterklasse verbunden sein sollen, schlechtere Schwangerschafts- und Entbindungsfürsorge für Arme wie auch vermehrte psychische Belastungen angesichts mangelnder sozialer Unterstützung. Keine dieser Hypothesen ließ sich jedoch empirisch bestätigen, was – anders als im Falle der spekulativen Erklärungsmodelle der Psychoanalyse und der Kommunikationstheorie – wenigstens ausgiebig versucht wurde.
Die alternative Erklärung für die beobachtete Ungleichverteilung ist, daß Schizophrene bereits vor der erstmaligen Aufnahme in eine Klinik deutlich weniger hohe soziale Positionen erreicht haben und danach auch noch absteigen. Der soziale Abstieg hat sich in zahlreichen Studien bestätigt. Aber auch ein vorab beeinträchtigter Aufstieg liegt nahe, da die Erstaufnahme meist geraume Zeit nach dem eigentlichen Ausbruch der Krankheit erfolgt – in der 1991 von meiner Arbeitsgruppe veröffentlichten deutschen ABC-Schizophreniestudie waren es durchschnittlich 4,5 Jahre (das Kürzel steht für Age at Beginning and Course, also Ersterkrankungsalter und Verlauf). Bereits in den sechziger Jahren hatte man bei Studien in London und in New York den sozialen Status schizophrener Männer mit jenem ihrer Väter und mit einer nach dem Beruf der Väter parallellisierten Kontrollgruppe verglichen; für die Betroffenen war tatsächlich schon zum Zeitpunkt der ersten Krankenhausaufnahme ein auffällig geringerer sozialer Aufstieg typisch.
Noch deutlicher zeigte sich der Einbruch der Krankheit in die soziale Biographie bei der ABC-Studie. Sie umfaßt die größte der bisher direkt untersuchten Stichproben erstaufgenommener Schizophrener, 267 Probanden aus einer Bevölkerung von rund eineinhalb Millionen im Raum Mannheim, Heidelberg, Rhein-Neckar-Kreis und Vorderpfalz. Verglichen wurden dazu drei Ereignisse des frühen Krankheitsverlaufs – frühestes, meist uncharakteristisches Krankheitszeichen, erstes psychotisches Symptom und Erstaufnahme – mit drei Schritten sozialen Abstiegs, nämlich Verlust von derzeitiger Stellung, Partner und eigenen Einkünften überhaupt (Bild 3). Das Ergebnis: Nach Beginn der Krankheit verloren 56 Prozent der Männer und 35 Prozent der Frauen ihre derzeitige Beschäftigung, 64 Prozent der Männer und 47 der Frauen ihren weiblichen oder männlichen Partner sowie 35 Prozent der Männer und 27 Prozent der Frauen ihr eigenes Einkommen, ehe sie erstmals zur Behandlung in ein psychiatrisches Krankenhaus aufgenommen wurden.
Wenn dieser Vergleich auch keine kausalen Aussagen zuläßt, ob die Kontinuitätsbrüche in der sozialen Biographie durch die Entwicklung der Krankheit bedingt sind oder umgekehrt, so weist er doch eindeutig auf einen zeitlichen Zusammenhang hin. Da das Leiden bei Frauen im Schnitt drei bis vier Jahre später als bei Männern in den Lebensweg einbricht, wird auch verständlich, warum es bei ihnen sozial günstiger verläuft. Ein späterer Beginn bedeutet nämlich, daß oft schon wichtige soziale Positionen wie abgeschlossene Ausbildung, Partnerschaft, Beruf und Rentenansprüche erlangt sind. Beispielsweise waren bei der ersten Krankenhausaufnahme von den schizophrenen Frauen 42 Prozent verheiratet, von den Männern nur 14 Prozent.
Denkbar ist, daß Betroffene noch früher, ehe überhaupt erste Krankheitszeichen auftreten, in ihrer Entwicklung und ihren Leistungen beeinträchtigt sind. Geprüft wurde dies in neuerer Zeit bei einer dänischen und einer finnischen Studie an Kindern schizophrener Eltern (die Nachkommenschaft eines solchen Paares hat, sofern beide Elternteile betroffen sind, ein fast fünfzigprozentiges Risiko, ebenfalls zu erkranken; Bild 2) sowie einer großen britischen Bevölkerungsstudie (im Rahmen dieser National Child Development Study wurden alle während einer Woche des Jahres 1958 in England Geborenen nach der Geburt und im Alter von sieben und elf Jahren untersucht). Die Ergebnisse belegen, daß ein Teil der später Erkrankenden bereits in Kindheit und Jugend Leistungsdefizite und abnorme Verhaltensweisen zeigt, die den Schulerfolg mindern. Dies gilt ausdrücklich nur für einen Teil der Betroffenen; die Mehrzahl entwickelt sich hinge- gen unauffällig und kann bis zum Ausbruch des Leidens den Anforderungen in Schule und Beruf auf normale Weise genügen.
Schwellen und Auslöser
Der Zusammenhang zwischen Ereignissen sozialen Abstiegs und dem Ausbruch ließe sich auch so interpretieren, daß belastende Lebensereignisse Schizophrenie auslösen. Diese Hypothese würde zwar nicht die Ursache des Leidens erklären, sich aber gut in ein Vulnerabilitätsmodell fügen, das der amerikanische Psychologe Joseph Zubin 1977 an der Columbia-Universität in New York entwickelt hat. Der Krankheit läge demnach eine im wesentlichen genetisch bedingte Disposition mit individuell unterschiedlich hohen Schwellenwerten zugrunde. Bei leicht verletzlichen, also hochvulnerablen Menschen könnten innere oder äußere Belastungen dann das spezifische Antwortmuster einer schizophrenen Psychose auslösen. Menschen mit niedriger Vulnerabilität – hoher Schwelle – würden hingegen gesund bleiben.
Tatsächlich lassen sich mit diesem Modell mehrere für die Schizophrenie charakteristische Beobachtungen erklären: Rückfälle können beispielsweise durch irgendwelche belastenden Lebensereignisse ausgelöst werden. Dies geschieht seltener, wenn man vorbeugend Neuroleptika verabreicht; die Medikamente reduzieren den Signalfluß an jenen Schaltstellen zwischen Neuronen im Gehirn, die mit dem Neurotransmitter Dopamin als Überträgerstoff arbeiten (man vermutet, daß ein Ungleichgewicht zwischen der Aktivität mehrerer Neurotransmittersysteme – wobei dem dopaminergen besondere Bedeutung zukommt – mit der erhöhten Vulnerabilität für schizophrene Episoden in Zusammenhang steht). Umgekehrt steigt die Wahrscheinlichkeit von Rückfällen in einem spannungsreichen Familienmi-lieu mit häufiger Kritik und Feindseligkeit oder Überfürsorglichkeit deutlich. Der kausale, auslösende Zusammenhang konnte durch Interventionsstudien gesichert werden: Mit einer realistischen Familientherapie, die eine Änderung die-ser Verhaltensweisen bewirkt, sinkt die Rückfallrate.
Lange Zeit hatte man deshalb angenommen, daß auch der ersten schizophrenen Krankheitsepisode belastende Lebensereignisse unmittelbar vorausgingen. Bei episodisch verlaufenden affektiven Erkrankungen hatten mehrere Studien übereinstimmend ergeben, daß die erste depressive Episode häufig durch belastende Lebensereignisse ausgelöst wird. Vor der ersten schizophrenen Episode hingegen findet sich keine Häufung solcher bedeutsamen Lebensereignisse oder Belastungssituationen, die vom Kranken unabhängig sind. Solange sich keine psychisch bedingte Auslösung der Schizophrenie nachweisen läßt, ist auch ein Brückenschlag zu jenen Theorien schwer möglich, die das Leiden als eine soziogene Erkrankung ansehen, mitbedingt beispielsweise durch ein verwirrendes widersprüchliches Kommunikationsverhalten der Eltern.
Das Reaktionsmuster der schizophrenen Psychose kann offenbar erst dann im Sinne des Vulnerabilitätsmodells durch belastende Lebensereignisse oder durch höhere Dosen stark dopaminerg wirkender Stoffe wie Amphetamine ausgelöst werden, wenn es bereits einmal aufgetreten ist (diese werden gelegentlich als Suchtmittel mißbraucht). Beim größten Teil der Rückfälle ist jedoch weder eine psychische noch eine biologische Auslösung nachzuweisen.
Erblichkeit
Hinweise auf mögliche Ursachen der Schizophrenie ergaben sich schon frühzeitig aus Familien- und Zwillingsstudien. Mit der Nähe der Verwandtschaft zu einem Betroffenen und folglich mit der Wahrscheinlichkeit gemeinsamer Gene steigt das relative Risiko (Bild 2).
Epidemiologische Zwillingsstudien, die anders als unsystematisches Rekrutieren von Zwillingspaaren oder Umfragetechniken verallgemeinerungsfähige Aussagen erlauben, sind überwiegend in den nordischen Ländern durchgeführt worden. Sie zeigen alle, daß bei eineiigen Zwillingen die Konkordanz – die Wahrscheinlichkeit, daß beide erkranken – wesentlich höher ist als bei zweieiigen. Die mittlere Konkordanz für das Lebenszeitrisiko aus acht systematischen Studien, die der Genetiker Matt McGue von der Universität von Minnesota in Minneapolis 1992 analysiert hat, liegt für eineiige Zwillinge bei 40, für zweieiige bei 10 Prozent. Mittlerweile haben Studien an Kindern, die bald nach ihrer Geburt adoptiert und damit dem Einfluß der biologischen Eltern entzogen worden waren, die Ergebnisse bestätigt: Wenn ein biologischer Elternteil an Schizophrenie litt, dann war ihr Risiko signifikant höher, als wenn ein Adoptivelternteil erkrankte.
Studien an Zwillingen und Adoptierten sowie genetische Untersuchungen an Familien machen jedoch auch deutlich, daß der einer Schizophrenie zugrundeliegende Genotyp (die Gen-Konstellation) sich nicht nur in der Alternative Erkrankung oder keinerlei erkennbare Krankheitszeichen ausprägen kann, sondern auch in sogenannten Spektrumstörungen: Sie sind entweder schizophrenieähnlich (und äußern sich dann etwa in schizoiden Persönlichkeitszügen) oder stellen nur uncharakteristische neurotische Störungen dar. Welche Faktoren dazu beitragen, daß sich eine schizophrene Psychose ausprägt, ist eine der wichtigsten ungelösten Fragen. Genetische Familienstudien – die methodisch zuverlässigste ist kürzlich von einer Arbeitsgruppe um Wolfgang Maier an der Universität Mainz abgeschlossen worden – belegen, daß Schizophrenie einigermaßen homogen an die Folgegeneration vererbt wird, und das deutlich getrennt von dem ebenfalls genetisch mitbestimmten Risiko für bipolare affektive Erkrankungen (Manie und Depression).
Die Häufigkeit
Jährlich erleiden in einer definierten Bevölkerung zwischen 140 und 740 von 100000 Menschen eine akute schizophrene Episode. Die große Streuung bei der ermittelten Jahresprävalenz liegt zum einen am unterschiedlichen methodischen Standard der zugrundeliegenden Bevölkerungsstudien, zum anderen an der Abhängigkeit von der durchschnittlichen Lebenserwartung. Prävalenz ist nämlich das Produkt aus Risiko und Dauer einer Erkrankung.
Dieser Parameter eignet sich deshalb für die Versorgungsplanung (weil man daraus ungefähr ableiten kann, wie viele Fälle pro Jahr stationär zu behandeln sind), nicht aber als Indikator des Krankheitsrisikos in ätiologischen – ursachensuchenden – Studien. Dafür braucht man die Inzidenzrate, das heißt, die Anzahl der Ersterkrankungen in einer definierten Bevölkerung und einer bestimmten Zeitspanne. Sie lag nach den bis 1985 publizierten größeren Studien verschiedener Länder bei 8 bis 69 pro 100000 Menschen. Leider hatten die zugrundeliegenden Erhebungen hauptsächlich einen entscheidenden Mangel: Sie stützten sich auf unterschiedliche Sets von diagnostischen Kriterien und Prozeduren. Darum darf man die Unterschiede in der ermittelten Inzidenz nicht als solche in der tatsächlichen Morbidität interpretieren.
Es ist im wesentlichen ein Verdienst der Weltgesundheitsorganisation, daß international präzise Diagnose-Definitionen und Kriterien-Sets sowie darauf gründende Erhebungsinstrumente entwickelt und akzeptiert wurden; dies ermöglichte eine systematische transnationale Epidemiologie der Schizophrenie. Mit ihrer Gemeinschaftsstudie über Faktoren, die den Ausgang schwerer Geistes- und Gemütskrankheiten bestimmen, hat die WHO erstmals unter hinreichenden methodischen Voraussetzun- gen eine umfassende Erhebung schizophrener Ersterkrankungen durchgeführt; zwölf Forschungszentren in zehn Ländern waren damit befaßt. Die Auswertung brachte zwei Überraschungen:
– Das Kernsyndrom der Krankheit ist überall gleich, damit kulturinvariabel.
– Die jährlichen Inzidenzraten für das Hauptrisikoalter zwischen 15 und 54 Jahren bewegen sich bei einer präzise operationalisierten Diagnose „Kernschizophrenie“ in allen Ländern um den gleichen Wert – unter 100000 Menschen erkranken rund 10 alljährlich erstmals daran; die früher gefundenen Unterschiede zwischen den Ländern sind mithin gänzlich auf unzureichende Erhebungsmethoden zurückzuführen.
Ähnliches dürfte für die Beantwortung der Frage gelten, ob Schizophre- nie häufiger oder seltener wird. In den frühen achtziger Jahren beunruhigten amerikanische und britische Epidemiologen die Öffentlichkeit mit der Kunde, das Krankheitsrisiko nehme seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts langsam zu. Die Ursache vermuteten sie in der wachsenden Zivilisation und Technisierung. Christian Astrup von der Universität Oslo, der 1956 in Norwegen, ohne den veränderten Altersaufbau der Bevölkerung zu beachten, einen ähnlichen Trend gefunden zu haben glaubte, schuldigte sogar den aufkommenden Kapitalismus an.
Im Jahre 1990 beruhigte die Arbeitsgruppe um Robin Murray vom Londoner Institut für Psychiatrie die Öffentlichkeit mit der entgegengesetzten Aussage: Weil nach der Statistik der psychiatrischen Krankenhäuser und Abteilungen in England und Wales zwischen 1963 und 1985 die Erstaufnahmeraten für Schizophrenie um rund 50 Prozent gesunken waren, vermuteten sie eine echte Abnahme der Morbidität. Ähnliche Abwärtstrends hatten andere Wissenschaftler anhand der dänischen und der schottischen Krankenhausstatistik zwischen 1969 und 1978 gefunden; aber sie glaubten eher an Artefakte der Erhebungen als an ein Schwinden der Schizophrenie.
Die Publikation der Londoner Forschergruppe löste kritische Diskussionen in führenden internationalen Fachzeitschriften aus. Die Bedenken konzentrierten sich auf drei Aspekte: Infolge des starken Abbaus von Krankenhausbetten – sichtbar am nahezu parallelen Rückgang der Erstaufnahmen von Patienten mit anderen Diagnosen in England und Wales – würden anteilig auch weniger Schizophrene stationär behandelt; ferner seien die administrativen Daten über erste Aufnahmen unzuverlässig, und außerdem sei die Diagnose Schizophrenie in der fraglichen Periode nachweislich immer zurückhaltender gestellt worden.
Damit sind die unerläßlichen Voraussetzungen für das Aufspüren von Morbiditätstrends auf der Grundlage von Krankenhausaufnahmen nicht erfüllt: gleiche diagnostische Definitionen und Prozeduren über die gesamte Beobachtungszeit, eine so gut wie hundertprozentige Wahrscheinlichkeit, daß ein Schizophrener wenigstens einmal im Laufe seines Lebens stationär behandelt wird, sowie ein zuverlässiges Erfassen aller Erstaufnahmen innerhalb einer statistisch gut aufbereiteten Bevölkerung. Nur drei Studien, die über vier oder mehr Jahrzehnte gehen, erfüllen bisher diese Voraussetzungen wenigstens annähernd. Zwei davon fußen auf dem nationalen norwegischen Fallregister und gehen über Perioden von 40 beziehungsweise 68 Jahren; die dritte wurde im australischen Bundesland Victoria durchgeführt und umfaßt eine Spanne von 130 Jahren. Bei allen drei Studien fanden sich über die gesamte Risikoperiode stabile Raten, also keine Auf- oder Abwärtstrends.
Ursachensuche mit genetischen und epidemiologischen Methoden
Ein Erkrankungsrisiko, das über Länder und Kulturen gleich verteilt ist, nach den Ergebnissen der ABC-Studie auf Lebenszeit gerechnet auch zwischen den Geschlechtern keine Unterschiede zeigt und offenbar selbst über die Zeit nicht wesentlich schwankt, ist kaum durch ökologische, soziokulturelle oder infektiöse Faktoren kausal erklärbar; denn diese variieren üblicherweise räumlich und zeitlich erheblich. Wahrscheinlich ist Schizophrenie größtenteils genetisch bedingt; doch weiß man bisher nur unzureichend, was vererbt wird, und noch gar nicht, wie dies geschieht.
Ein Bericht über die Entdeckung eines genetischen Markers auf Chromosom 5, der mit dem Erkrankungsrisiko für Schizophrenie assoziiert sein sollte, ließ sich bei einer exakten neuerlichen Analyse nicht aufrechterhalten; und Koppelungsanalysen zur Lokalisation auf anderen Chromosomen haben noch keine eindeutigen Ergebnisse geliefert (Spektrum der Wissenschaft, August 1993, Seite 76). Obwohl sich Schizophrenie inzwischen mit hoher Präzision diagnostizieren läßt (was Voraussetzung für eine solche Analyse ist), erschwert das Fehlen eines eindeutigen genetischen Markers die weitere Forschung ganz erheblich. Schließlich läßt sich das Vorhandensein des Genotyps, der zur Schizophrenie disponiert, bislang nur dann erkennen, wenn er sich als schizophrene Psychose ausprägt. Das geschieht mit einer Erblichkeitsrate zwischen 0,4 und 0,9 (sie gibt den Anteil der genetischen Komponente am Erkrankungsrisiko an und kann maximal den Wert 1 haben); bei den übrigen äußert sich die Disposition in nicht eindeutig identifizierbarer Form.
Hinweise auf ursächliche Faktoren oder wenigstens auf Risikofaktoren, die mit dem Ausbruch einer Erkrankung kausal verknüpft sind, erhält man bei epidemiologischen Studien in der Regel dann, wenn sich konsistent von Erwartungswerten abweichende Zusammenhänge auftun. Da aber das Erkrankungsrisiko für Schizophrenie über Länder und Kulturen hinweg gleich ist, fehlen bislang solche Hinweise auf der Ebene des allgemeinen Risikos.
Es gibt nur wenige von der Erwartung abweichende Detailbefunde, die in mehreren Ländern verzeichnet wurden. Einer davon ist, daß Schizophrene gehäuft in Winter- und Frühjahrsmonaten geboren wurden. Das gilt zwar auch für die Gesamtbevölkerung; bei den Betroffenen ist dieser jahreszeitliche Trend aber geringfügig verstärkt: um etwa 5 bis 10 Prozent. Ein Teil dieser Abweichung geht auf einen Altersartefakt zurück, weil die kurz nach dem Jahreswechsel Geborenen in den Statistiken bis zum Jahresende jeweils eine längere Risikoperiode durchlaufen haben. Aber selbst wenn man die Daten nach Quartalen oder nach einzelnen Monaten aufschlüsselt, bleibt ein Unterschied erhalten.
Als mögliche Erklärungen sind etwa der Einfluß von Temperatur und Ernährung oder eine saisonale Ungleichverteilung von Geburtskomplikationen und Totgeburten bemüht worden. Da auch bei Menschen mit anderen gravierenden Erkrankungen wie der schweren geistigen Behinderung die Geburtstermine ähnlich wie bei Schizophrenie verteilt sind, liegt freilich die Annahme nahe, daß sich das normale jahreszeitliche Auf und Ab der Zeugungs- beziehungsweise Empfängnisbereitschaft hier leicht verstärkt ausgewirkt hat. Denn epidemiologischen Familienstudien zufolge weist ein geringer Teil der Eltern Schizophrener selber schizophrene Spektrumstörungen auf, die häufig von Behinderungen im sozialen und wohl auch beim sogenannten Partnersuchverhalten begleitet sind. Dies könnte sich in der kalten Jahreszeit, in der ohnehin weniger Kinder gezeugt oder empfangen werden, verstärkt bemerkbar machen. In der warmen Jahreszeit – von Mai bis August – würden Kontakte dann relativ erleichtert.
In drei Studien wurde bisher die Verteilung der Geburtstermine bei gesunden Geschwistern Schizophrener untersucht, die von uns erwartete Abweichung vom Verteilungsmuster der Bevölkerung aber nicht gefunden. Allerdings sind die Zahlen zu klein, um unsere Annahmen endgültig zu widerlegen.
In jüngster Zeit ist eine neue Erklärung unterbreitet worden. Eine amerikanisch-finnische Forschergruppe hat 1988 einen zeitlichen Zusammenhang mit einer Grippe-Epidemie (mit dem Influenza-Virus A2) in Helsinki 1957 gefunden: Unter den fünf Monate später Geborenen gab es mehr Personen als gewöhnlich, die im Erwachsenenalter schizophren wurden. Ähnliches wurde inzwischen auf der Grundlage der Krankenhausstatistiken in Dänemark sowie in England und Wales festgestellt. An den Fallregisterdaten von Camberwell, einem Londoner Stadtbezirk, ließ sich allerdings nur für karibische Einwanderer und ihre Nachfahren, nicht aber für die britische Bevölkerung ein Zusammenhang nachweisen.
Die Annahme ist natürlich verführerisch, das Virus könnte in der Zeit um den fünften Schwangerschaftsmonat direkt durch Infektion des Fetus oder indirekt – durch eine Immunreaktion der Mutter oder des Ungeborenen auf die Infektion – das fetale Gehirn in einer Weise schädigen, die sich im Erwachsenenalter in Form einer Schizophrenie auswirkt. Das Problem ist allerdings, daß zwischen einer Influenza-Erkrankung der Schwangeren und einer zwei bis drei Jahrzehnte später auftretenden Schizophrenie des Kindes eine Kausalkette mit zahlreichen unbekannten Gliedern läge. Zudem hat die bisher einzige Studie, bei der individuell eine Grippeerkrankung während der Schwangerschaft nachgewiesen werden konnte, bei mittlerweile 45 Jahre alten Schizophrenen – im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen – keine höheren Erkrankungsraten der damals schwangeren Mütter ergeben. In allen anderen Studien wurden lediglich Indikatoren für eine in der Allgemeinbevölkerung grassierende Virusepidemie erfaßt (etwa die Sterbefälle infolge Influenza); daß die Mütter Schizophrener tatsächlich erkrankt waren, ließ sich damit nicht nachweisen.
Überdies vermochte man den Zusammenhang weder bei wesentlich sorgfältigeren Replikationsstudien anhand epidemiologischer Daten und der Statistiken von Krankenhäusern in Schottland zu bestätigen noch bei einer Studie in 19 amerikanischen Bundesstaaten, die etwa 50000 Schizophrene einbezog. Gegenwärtig scheint somit die Annahme, eine Influenza-A2-Infektion im fünften Schwangerschaftsmonat könnte das Erkrankungsrisiko für Schizophrenie erhöhen, wenig gerechtfertigt.
Anatomische und morphologische Befunde
Es gibt allerdings weitere Befunde, die eine Hirnschädigung als Ursache oder wesentlichen Risikofaktor für die Schizophrenie möglich erscheinen lassen. Seit sich das Gehirn Lebender mit modernen bildgebenden Verfahren risikofrei darstellen läßt, sind mehr als 100 entsprechende Studien an Betroffenen durchgeführt worden. Vor allem Untersuchungen mittels Computer- und Kernspin-Tomographie haben bei einem Teil der Schizophrenen – er wurde von amerikanischen Wissenschaftlern auf 30 Prozent geschätzt – leichte morphologische Veränderungen aufgezeigt. Meist sind die Seitenventrikel und die dritte Hirnkammer mäßig erweitert, was auf einen leichten Mangel an Substanz – Nerven- oder Stützzellen oder beides – in zentralen Teilen des Großhirns hinweist.
Eine kritische Analyse dieser Studien durch die Arbeitsgruppe von Geoffrey N. Smith an der Universität von British Columbia in Vancouver ergab jedoch, daß die Kontrollpersonen bei nahezu allen Erhebungen aus Krankenhauspatienten selektiv (unter Ausschluß von Hirnerkrankungen, aber auch harmloserer Beschwerden) ausgewählt worden waren; dadurch hat man die Unterschie- de zur Normalbevölkerung beziehungsweise die Häufigkeit morphologischer Auffälligkeiten bei Schizophrenen überschätzt; letztere dürfte daher deutlich unter 30 Prozent liegen.
Die ursprüngliche Vermutung, ein mit der Krankheit fortschreitender degenerativer Prozeß liege dem schizophrenen Defekt zugrunde, hat sich auch an den morphologischen Hirnbefunden nicht bestätigt. Erweiterte Ventrikel wurden auch schon bei Ersterkrankten gefunden, und in den wenigen Verlaufsstudien ließ sich keine Progression nachweisen. Damit bleibt die Frage nach der Bedeutung dieser Hirnveränderungen, die bei einem kleinen Teil Schizophrener vorkommen, offen.
Eine der meistvertretenen Deutungen ist, daß es sich um die Folgen von Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen handelt, die – wie auch Hirnschäden in der Normalbevölkerung – gehäuft das männliche Geschlecht betreffen. Vor allem die Londoner Arbeitsgruppe um Murray sowie mehrere andere nehmen an, daß solche Folgen zum Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, beitragen. Das Leiden soll nach dieser Meinung generell auf eine Entwicklungsstörung des Gehirns zurückgehen; und die würde sich darin äußern, daß beispielsweise Ganglienzellen nur unvollständig in bestimmte Rindenschichten einwandern – etwa jene der entwicklungsgeschichtlich jüngeren Bereiche des Schläfenlappens oder jene des Gyrus hippocampalis, des ältesten Teils. Die spät und häufiger bei Frauen auftretenden Schizophrenien hält Murray dagegen für eine harmlosere erblich bedingte affektive Erkrankung, was sich aber weder mit den Ergebnissen der systematischen Familien- und Zwillingsstudien noch mit unserer epidemiologischen ABC-Studie vereinbaren läßt.
Vorerst handelt es sich bei der Annahme, eine Entwicklungsstörung des Gehirns sei die Ursache der Schizophrenie, lediglich um eine interessante Hypothese, zumal die beschriebenen Befunde nicht spezifisch sind – beispielsweise auch bei Epileptikern vorkommen – und ihre Häufigkeit, ebenso wie die der Ventrikelerweiterungen, bisher nicht epidemiologisch gesichert worden ist. Überdies weichen die Ergebnisse einzelner Wissenschaftler sehr deutlich voneinander ab.
Da solche Hirnveränderungen bei Schizophrenie relativ selten sind, könnte es sich um ein zufälliges Zusammentreffen ohne ursächliche Verbindung handeln. Denkbar ist aber auch, daß fetale oder geburtsbedingte Hirnschäden, welche die Entwicklung des Gehirns stören, ein Risikofaktor sind, der die Wahrscheinlichkeit einer späteren schizophrenen Erkrankung in bescheidenem Maße erhöht. Eine Entscheidung zugunsten einer dieser alternativen Hypothesen ist bislang noch nicht möglich. Nachgewiesen ist jedoch inzwischen durch die Arbeitsgruppe von Wagner Farid Gattaz am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, daß Schizophrene mit einer Hirnschädigung auch etwas häufiger neuropsychologische Defizite haben und auf ihre Medikamente etwas weniger gut ansprechen.
Frühere Erkrankung von Männern
Kraepelin war schon Anfang des Jahrhunderts aufgefallen, daß Frauen mit Dementia praecox im Mittel mehrere Jahre später als Männer erstmals ins Krankenhaus aufgenommen wurden. Mittlerweile hat sich dies nach einer Meta-Analyse von Matthias Angermeier am Zentralinstitut in mehr als 50 Studien bestätigt. Sollte die Krankheit bei Frauen tatsächlich entsprechend später ausbrechen – und nicht nur länger verkannt oder ignoriert und damit auch später behandelt werden –, so könnte das Hinweise auf kausale Faktoren geben.
Mit einem eigens dafür entwickelten strukturierten Interview (Instrument for the Retrospective Assessment of the Onset of Schizophrenia, IRAOS) sind wir dem an unserer ABC-Stichprobe nachgegangen. Im Vergleich zu Männern traten bei Frauen alle vier von uns definierten Etappen des frühen Krankheitsverlaufs – frühestes, meist unspezifisches Zeichen der Erkrankung, erstes psychotisches Symptom, Beginn der ersten akuten Episode und erste Krankenhausaufnahme – im Mittel etwa drei bis vier Jahre später auf (Bild 3). Das bedeutet, daß der Geschlechtsunterschied im Erstaufnahmealter weitgehend auf einen solchen im Ersterkrankungsalter zurückgeht. Dieser erstaunliche Befund gilt nicht nur für die deutschen Probanden; wir konnten ihn zusammen mit der Arbeitsgruppe von Povl Munk-Jörgensen anhand des dänischen Fallregisters an der Universität Århus wie auch anhand der erwähnten, zehn Länder einbeziehenden WHO-Studie bestätigen.
Beide Geschlechter erkranken zwar unterschiedlich früh, Frauen holen aber jenseits des 30. Lebensjahres sozusagen voll auf; auf Lebenszeit gerechnet sind anteilig gleich viele Männer und Frauen betroffen (Bild 4). Das schließt die Annahme geschlechtsgebundener – beispielsweise geschlechtsspezifischer genetischer oder hormoneller – Faktoren als Ursache der Schizophrenie ziemlich sicher aus. Wir haben vielmehr mit Faktoren zu rechnen, die den Ausbruch verzögern oder beschleunigen.
Trägt man das Alter bei Krankheitsausbruch über die Zeit auf, dann zeigt sich für Männer ein steilerer Anstieg in der Jugend mit einem Maximum zwischen 15 und 24 Jahren und danach ein monotoner Abfall. Bei Frauen erscheint ein flacherer Anstieg mit einem Gipfel zwischen 20 und 29 Jahren und ein zweiter niedrigerer Gipfel zwischen 45 und 50 (Bild 5). Zu diesem Zeitpunkt hat das weibliche Geschlecht ein dreifach höheres Erkrankungsrisiko als das männliche.
Bereits vor mehreren Jahren wurde in Tierexperimenten nachgewiesen, daß einmalige Gaben des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen eine antidopaminerge Wirkung haben, ähnlich wie die zur Schizophreniebehandlung eingesetzten Neuroleptika. Dies und der flachere Anstieg bei jüngeren Frauen sowie der zweite Gipfel zur Zeit der Wechseljahre legen die Hypothese nahe, daß Östrogene die Vulnerabilität für Schizophrenie mindern.
Östrogen-Effekte
Geprüft haben wir das zusammen mit Gattaz und Stephan Behrens am Tiermodell auf die gleiche Weise, wie man sonst potentielle Wirkstoffe gegen Schizophrenie testet. Blockiert man bei Ratten die Dopamin-Rezeptoren mit Haloperidol, so werden die Tiere kataleptisch, das heißt, sie verharren unbewegt in einer bestimmten Körperhaltung. Stimuliert man hingegen die Rezeptoren, so treten unwillkürliche Mund- und Kaubewegungen (orale Stereotypien) sowie ein auffälliges Sitz- und Putzverhalten auf. Man prüft dann, wie eine zu testende Substanz sich auf die durch beide Stoffe induzierten Verhaltensweisen auswirkt.
Da es einen langfristigen Effekt zu untersuchen galt, haben wir zwei Gruppen neugeborener Rattenweibchen die Eierstöcke entfernt und die eine über längere Zeit mit relativ hohen Östrogendosen, die andere mit einem Scheinpräparat behandelt; eine dritte Gruppe, die ebenfalls ein Placebo bekam, behielt die Eierstöcke, so daß ihr Hormonspiegel normal war. Das Ergebnis fiel nur teilweise erwartungsgemäß, dann aber eindeutig aus: Unter langfristigen Östrogengaben traten die dopaminabhängigen Verhaltensweisen signifikant schwächer auf, gleich ob sie durch Blockade oder durch Stimulation ausgelöst worden waren.
Wie wir durch radioimmunchemische Untersuchungen am Gehirn nachweisen konnten, beruht dieser Effekt darauf, daß sich die Empfindlichkeit von Dopamin-Rezeptoren, die dem Typ 2 angehören, durch Östrogen verringert. Das weibliche Geschlechtshormon wirkt hier offensichtlich neuromodulatorisch und nicht wie Haloperidol als blockierender Bindungspartner (Bild 6).
Bei erwachsenen Tieren, an denen wir die Versuche ebenfalls durchführten, waren die Effekte gleichsinnig, aber eindeutig schwächer. Damit war zwar ein neuroleptika-ähnlicher Effekt der Östrogene am Tier bewiesen, nicht aber, daß dieser neurohormonale Mechanismus auch bei Menschen abläuft und Frauen im gewissen Maße vor der Manifestation schizophrener Symptome schützt.
Anita Riecher-Rössler hat zusammen mit uns deshalb bei 32 akut erkrankten schizophrenen Frauen mit normalem menstruellen Zyklus die jeweilige Höhe des Östrogenspiegels (der vor der Monatsblutung sinkt und danach wieder steigt) mit der Stärke der schizophre- nen Symptomatik verglichen; bei ho-hem Spiegel war diese in der Tat am schwächsten ausgeprägt, bei niedrigem verstärkte sie sich rapide. Das bedeutet, daß die am Tierversuch gewonnenen Ergebnisse mit einiger Wahrscheinlichkeit auf den Menschen übertragbar sind.
Der neuromodulatorische Effekt der Östrogene, der die Sensitivität der D2-Rezeptoren im Gehirn reduziert und vermutlich bereits vor Abschluß der Hirnentwicklung wirksam wird, erhöht offenbar die Schwelle für Schizophrenie beim weiblichen Geschlecht; dadurch verzögert sich der Anstieg von Ersterkrankungen in Jugend und Adoleszenz. Der zweite Gipfel von Ersterkrankungen um die Wechseljahre erklärt sich dann daraus, daß zur Schizophrenie disponierte Frauen, die bis dahin gesund geblieben sind, nun ihren relativen Schutz verlieren: Ihre Östrogenproduktion fällt ab und die Vulnerabilitätsschwelle sinkt, so daß sie die Erkrankung gleichsam nachholen.
Wie die Neuroleptika, die nur die Symptomatik der Krankheit unterdrücken, ihre Ursache aber nicht beeinflussen, scheinen auch Östrogene lediglich auf den pathophysiologischen Entstehungsmechanismus der Symptome, nicht aber auf die eigentlich ursächlichen Faktoren der Schizophrenie einzuwirken. Offensichtlich muß das Dopamin-System intakt oder hypersensitiv sein, damit sich schizophrene Symptome manifestieren (möglicherweise gilt das auch für jene anderen ausgedehnten Psychosen, die sich durch Neuroleptika erfolgreich behandeln lassen). Wird es durch Östrogene unempfindlicher gemacht oder durch Neuroleptika blockiert, so wird der Ausbruch der Symptomatik gebremst oder sogar unterdrückt.
Mit diesen neuesten Ergebnissen ist zwar die Ursache der Schizophrenie noch immer ungeklärt; die größte Hoffnung richtet sich jetzt auf molekulargenetische Studien. Doch die Entdeckung des pathophysiologischen Mechanismus, auf den Östrogen wirkt, ist trotz seiner begrenzten Erklärungskraft für die weitere Forschung interessant. Die Untersuchungen haben jedenfalls unser Verständnis der neurobiologischen Prozesse, die am Entstehen der Symptome beteiligt sind, ebenso erweitert wie das der Wirkungsweise neuroleptischer Medikamente. Aus all dem lassen sich neue Ansatzpunkte für Therapie und Prävention erkennen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1993, Seite 50
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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