Schlangen
Schon früheste Aufzeichnungen belegen, daß die Schlangen auf den Menschen seit je eine besondere Faszination ausgeübt haben. Einerseits galten sie als Sinnbild des Bösen schlechthin, wie in der biblischen Geschichte von Adam und Eva im Paradies; andererseits wurden sie in vielen frühen Hochkulturen als mythische Wesen, die Leben, Heilung, Weisheit oder Unsterblichkeit symbolisieren, geradezu gotthaft verehrt.
Diese Bipolarität hat sich bis in die heutige Zeit erhalten. Viele Menschen lehnen Schlangen instinktiv als ekelhaft oder sonstwie unheimlich ab. Andere fühlen sich geradezu manisch zu ihnen hingezogen und halten sich sogar Giftschlangen. Sigmund Freud (1856 bis 1939) hat versucht, dieses Phänomen tiefenpsychologisch als unterdrückten Sexualtrieb zu erklären, sehr zum Mißfallen der Schlangennarren.
Wer als Herpetologe (Fachwissenschaftler für Reptilien und Amphibien) an einem Museum tätig und dadurch mit der Öffentlichkeit verbunden ist, kennt zahllose erheiternde oder abschreckende Beispiele für übersteigerte Fehleinstellungen. Für den Wissenschaftler aber sind die zwölf Schlangenfamilien mit ihren etwa 2800 Arten lediglich eine – höchst fesselnde – Tiergruppe mit einem spezialisierten Körperbau und Verhaltensweisen, die ihrer Stellung im Gefüge der Natur entsprechen. Mit dem Ziel, darüber die Menschen aufzuklären, ist auch das vorliegende Buch geschrieben.
Es gibt zahlreiche Sachbücher über Schlangen. Die allermeisten sind nach jeweils bestimmten Gesichtspunkten zusammengestellt, beispielsweise als eher lexikalische Übersichten, als theoretische Abhandlungen der anatomischen oder physiologischen Gegebenheiten oder als Monographien einzelner Gruppen oder Verbreitungsgebiete, aber auch als praktische Anleitungen für die Haltung der Tiere. Noch nie aber habe ich ein derart umfassendes Kompendium über die Gesamtheit der Schlangen unter allen denkbaren Aspekten gefunden wie das vorliegende Werk.
Schon das Inhaltsverzeichnis läßt diese Vielseitigkeit erkennen. Als wichtigste Kapitel seien genannt: die Stellung der Schlangen im Tierreich (Entwicklungsgeschichte und Mannigfaltigkeit der Arten), die Lebensweise (Sinnesorgane, Bewegung, Physiologie, Fortpflanzung und Ernährung), die Ökologie (Lebensraum, Verbreitung, Färbung, Verhalten und Feinde) sowie die Beziehungen zum Menschen.
Bereits beim ersten Durchblättern besticht das Werk durch seine gefällige Aufmachung. Das Kunstdruckpapier bringt die vielen Abbildungen eindrucksvoll zur Wirkung. Dem ästhetischen Reiz der Bilder dürfte sich auch derjenige nicht entziehen können, dem die Schlangen nicht besonders am Herzen liegen.
Der Text entspricht dieser Qualität von Ausstattung und Illustration. Das ist auch nicht verwunderlich, denn er stammt von einer Gruppe französischer Autoren, zu der einige der international führenden Fachwissenschaftler gehören. Ihre Darstellungen geben durchweg den heutigen Stand des Wissens wieder. Dieses Gemeinschaftswerk zustande gebracht zu haben ist eine besonders verdienstvolle Leistung des Herausgebers, des emeritierten Pariser Zoologen Roland Bauchot. Die Übersetzer und ihr fachlicher Berater Konrad Klemmer vom Frankfurter Senckenberg-Museum haben eine korrekte, gut zu lesende deutsche Fassung erarbeitet.
Trotz ihrer grundsätzlich gleichförmigen Gestalt weisen die Schlangen eine erstaunliche Mannigfaltigkeit auf. Schon ihre Körperlänge variiert zwischen ungefähr zehn Zentimetern und knapp zehn Metern. Nicht allen fehlen die Gliedmaßen gänzlich; bei den Angehörigen der urtümlichen Gruppen, etwa den Riesenschlangen, sind noch Reste von Hinterbeinen und eines Beckengürtels zu erkennen. Das beweist, daß die Schlangen von vierfüßigen Vorfahren abstammen. Deren Identität ist allerdings noch nicht einwandfrei geklärt.
Bemerkenswert ist auch die Vielfalt der Färbungen und Zeichnungen. Es gibt unscheinbare und einheitliche Tönungen, aber auch leuchtend bunte Farben und Muster, die an die Pracht orientalischer Teppiche erinnern. Manche ungiftigen Arten sind auffälligen Giftschlangen täuschend ähnlich und genießen dadurch den gleichen Respekt, den die Freßfeinde den gefährlichen Vorbildern entgegenzubringen gelernt haben.
Nicht minder vielseitig sind die Lebensräume. Schlangen leben in allen nur denkbaren Biotopen, von den trockensten Wüsten bis zum üppigsten Urwald sowie im Süß-, Brack- oder Meerwasser. Es gibt tatsächlich Seeschlangen, nur erreichen sie keineswegs die Ausmaße ihrer Namensvettern aus der Sensationspresse oder dem Seemannsgarn, sondern werden kaum länger als 2,50 Meter. Schlangen wühlen im Boden, kriechen über scharfkantiges Geröll, klettern im Gesträuch und bis in die Wipfel von Bäumen, wo einige Arten sogar in einer Art Schwebeflug von Ast zu Ast zu gleiten vermögen.
Wie die Echsen, unter denen ihre Vorfahren zu suchen sind, nehmen die Schlangen ihre Beute züngelnd mit Hilfe chemischer Sinnesorgane wahr. Manche Arten, so die Riesenschlangen und die Grubenottern, haben zudem wärmeempfindliche Sinnesorgane ausgebildet, Hautgruben, mit denen sie Temperaturunterschiede bis zu 0,003 Celsiusgraden und damit ein warmblütiges Beutetier selbst bei völliger Dunkelheit auf mehrere Meter Entfernung wahrzunehmen vermögen.
Abschließend behandelt das Buch die vielseitigen Beziehungen, die zwischen den Schlangen und dem Menschen bestehen und vielfach immer noch von nicht minder irrationalen Vorstellungen geprägt sind als die alten Mythen und Legenden. Dazu gehört vor allem der Nimbus der tödlichen Giftigkeit der Schlangen schlechthin, der auf die meisten Menschen abschreckend, auf andere aber anscheinend geradezu faszinierend wirkt.
Auch bei der Behandlung dieses Themas zeichnet sich das Buch durch seine wissenschaftliche Objektivität aus: Nur etwa 15 Prozent der Schlangenarten sind im eigentlichen Sinne giftig, also imstande, mit ihren Toxinen den Gebissenen ernsthaft zu gefährden. Das Schlangengift ist in der Evolution keineswegs als eine besonders heimtückische Waffe entstanden, sondern ursprünglich als ein Verdauungsferment, um die Beute chemisch aufzuschließen. Es findet sich auch im Speichel solcher Arten, die gemeinhin als ungefährlich für den Menschen gelten, wie etwa bei der Ringel- und der Schlingnatter. In seiner Wirksamkeit gleicht das Gift der Schlingnatter durchaus dem einer Kobra, doch fehlen der Natter die Giftzähne, mit denen andere Arten der Beute oder dem Feind das Gift injizieren.
Die Auswirkungen können verheerend sein. Je nach Artzugehörigkeit enthält das Toxin blutschädigende (hämorrhagische) und nervenschädigende (neurotoxische) Komponenten in unterschiedlicher Zusammensetzung. Einige Schlangen können ihr Gift sogar mit erstaunlicher Genauigkeit einem Opfer über mehrere Meter Entfernung ins Auge spritzen. Was auch immer ihre fanatischen Verehrer behaupten mögen: Völlig harmlos sind die Schlangen nicht. Andererseits dient ein Schlangengift-Enzym, die Reptilase, medizinischen Zwecken.
Wer es trotz mancher Gefahren nicht lassen kann, sich Schlangen im Heim zu halten, findet schließlich Hinweise auf die gesetzlichen Bestimmungen, die für die eigene Sicherheit und die der Nachbarn gelten, für den Handel und für den Schutz der Arten, die in ihrem Fortbestand gefährdet sind. Gern hätte ich noch eindringlichere Warnungen gegen den Unfug eines Giftschlangenkultes im Text gefunden; aber wer bei der Lektüre des Buches nicht von selber zur Einsicht gelangt, dem ist ohnehin nicht zu helfen.
Es widerstrebt mir, jede übersehene Kleinigkeit, jede nicht unumstrittene Auffassung und jedes falsch gesetzte Komma anzukreiden. Vielmehr fühle ich mich verpflichtet, allen Personen und Institutionen, die am Zustandekommen dieses wahrhaft erfreulichen Werkes beteiligt waren, uneingeschränkte Anerkennung auszusprechen. Das gilt auch für den Verlag, der dieses Prachtwerk zu einem überraschend günstigen Preis herausgebracht hat.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1995, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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