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Schneller als Licht?

Der Relativitätstheorie von Albert Einstein zufolge stellt die Lichtgeschwindigkeit eine obere Grenze dar; nichts – weder ein Teilchen noch irgendeine Information – kann sich schneller fortbewegen. Manche quantenmechanischen Vorgänge scheinen diese Regel zu verletzen. Wie läßt sich dieses Paradoxon erklären?

Bei Experimenten zur Quantenmechanik scheint häufig das Unmögliche real zu werden. Ein neueres Beispiel dafür sind Untersuchungen zum Phänomen der Nichtlokalität, bei dem sich Teilchen scheinbar über weite Entfernungen hinweg beeinflussen. Dieses bizarre Phänomen stellt eine der Grundlagen der modernen Physik in Frage – nämlich den Lehrsatz, daß sich nichts schneller als Licht bewegen kann.

Diese für allgemeingültig gehaltene Regel wird offenbar verletzt, wenn ein Teilchen an einer Wand verschwindet, um – beinahe sofort – auf der gegenüberliegenden Seite wieder aufzutauchen. In der Quantenphysik ist ein derartiger Tunneleffekt nichts Ungewöhnliches; in der gewohnten makroskopischen Welt hingegen tritt er nicht auf, sondern nur in phantastischen Spielen mit der Realität wie in der Science-fiction oder in dem Kinderbuch „Alice im Spiegelland des englischen Mathematikers und Schriftstellers Lewis Carroll (1832 bis 1898): Als Alice neugierig durch den Spiegel über dem Kaminsims tritt und sich erstaunt auf der anderen Seite in einem Spiegelreich wiederfindet, stellt ihre Bewegung in gewissem Sinne eine Fernwirkung oder Nichtlokalität dar – sie durchdringt den festen Körper ohne Zeitverzögerung (Bild 1).

Ein quantenphysikalisches Teilchen verhält sich beim Tunneln ähnlich merkwürdig: Für seine Durchschnittsgeschwindigkeit erhält man einen Wert, der größer ist als die Geschwindigkeit des Lichtes.

Aber ist das möglich? Läßt sich eines der bekanntesten Gesetze der modernen Physik ohne weiteres verletzen? Haben wir vielleicht ein falsches Verständnis von der Quantenmechanik oder vom Zeitbegriff beim Vorgang des Tunnelns?

Um herauszufinden, wie sich die Nichtlokalität bei Quantenteilchen bemerkbar macht, führen wir – ebenso wie andere Forscher – seit einiger Zeit zahlreiche optische Experimente durch. Dabei konzentrieren wir uns besonders auf drei Beispiele. Beim ersten veranstalten wir gleichsam ein Wettrennen zwischen zwei identischen Photonen, von denen eines eine Barriere durchtunneln muß. Beim zweiten zeigen wir anhand der Laufzeitmessung, daß jedes der Photonen gleichzeitig beide Wegstrecken durchläuft. Und schließlich weisen wir nach, welcher Zusammenhang zwischen beiden Photonen besteht – auch wenn sie so weit voneinander entfernt sind, daß selbst mit Lichtgeschwindigkeit kein Austausch von Information zwischen ihnen möglich ist.

Ortsunschärfe und Tunneleffekt

Die Unterscheidung zwischen Lokalität und Nichtlokalität hängt mit dem Begriff der Bahn eines Teilchens zusammen. In der vertrauten Welt der klassischen Physik durchläuft beispielsweise eine rollende Krocketkugel eine definierte Bahn – zu jedem Zeitpunkt hält sie sich an einem genau angebbaren Ort auf; und würde man zahlreiche, in rascher Folge gewonnene Momentaufnahmen übereinanderlegen, so bildete ihre Trajektorie eine glatte, ununterbrochene Linie. An jedem Bahnpunkt hat die Kugel zudem eine definierte Geschwindigkeit, die von ihrer kinetischen Energie abhängt. Auf einer flachen Gefällstrecke gelangt die Kugel ungehindert ins Ziel. Sobald sie jedoch einen Hügel hinaufrollt, beginnt sich ihre kinetische in potentielle Energie umzuwandeln. Dadurch wird sie langsamer und kehrt schließlich wieder um.

Ein vergleichbares Hindernis, das so hoch ist, daß die kinetische Energie eines Teilchens nicht ausreicht, es zu überwinden, nennt man in der Sprache der Physik eine Potentialbarriere. Auch eine Mauer stellt für ein klassisches Teilchen ein solches Hindernis dar. Sofern man eine Krocketkugel nicht mit so ungeheurer Wucht schlägt, daß sie die Mauer durchbricht, wird sie stets von dieser zurückprallen. (Lewis Carroll würde gemäß dem merkwürdigen Krocketspiel in seinem vielleicht noch bekannteren Buch „Alice im Wunderland die Titelheldin dies mit zusammengerollten Igeln anstelle von Kugeln tun lassen; Bild 2.)

Quantenmechanisch ist diese Vorstellung von einer Trajektorie nicht korrekt. Im Gegensatz zur Krocketkugel läßt sich die Position eines quantenmechanischen Teilchens nämlich nicht als mathematischer Punkt beschreiben. Man muß es sich vielmehr als verschmiertes Wellenpaket vorstellen, dessen Höhe langsam zunimmt und nach Überschreiten eines Maximums wieder abflacht – ähnlich wie eine Glockenkurve oder der Panzer einer Schildkröte. Die Höhe des Wellenpakets an einer bestimmten Stelle ist ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen an diesem Ort anzutreffen; mithin ist dessen Aufenthaltswahrscheinlichkeit im Maximum des Wellenpakets am größten.

Die Länge des Wellenzuges ist die jedem quantenmechanischen Teilchen eigene Ortsunschärfe (siehe Kasten auf Seite 45). Weist man das Teilchen jedoch durch einen Meßvorgang an einer bestimmten Stelle nach, verschwindet die Ortsunschärfe und damit auch das Wellenpaket. Wo sich das Teilchen zuvor aufgehalten hat, vermögen wir nicht zu erfahren.

Aus der Ortsunschärfe folgt eine der wichtigsten Aussagen der Quantenmechanik: Da die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Teilchens, das sich auf der einen Seite einer Potentialbarriere befindet, auf der gegenüberliegenden nicht null ist, besteht eine zwar kleine, aber durchaus reelle Chance, es dort anzutreffen. Das Teilchen vermag also den Potentialberg mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gleichsam zu durchtunneln. Dieser rein quantenmechanische Effekt – klassisch wäre die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Teilchens auf der anderen Seite der Barriere exakt null – spielt in Wissenschaft und Technik eine bedeutende Rolle: bei der Kernfusion und modernen Theorien der Kosmologie ebenso wie bei schnellen elektronischen Schaltelementen und hochauflösenden Mikroskopen.

Das Tunneln eines Teilchens läßt – anders, als die Bezeichnung vielleicht vermuten ließe – die Potentialbarriere völlig unversehrt. Es kann sich nämlich nicht im Inneren der Barriere aufhalten, da dort seine kinetische Energie negativ wäre. Eine reale Geschwindigkeit wäre dem Teilchen dann nicht zuzuordnen, denn diese ist proportional zur Quadratwurzel aus der kinetischen Energie, und eine Wurzel aus einer negativen Zahl ist imaginär. Dieser Umstand erklärt in Bild 2 den erstaunten Gesichtsausdruck des durch die Wand getunnelten Igels beim Betrachten der Uhr, die er sich vom weißen Kaninchen geborgt hat. Welche Uhrzeit liest er ab? Wie lange hat der Tunnelvorgang gedauert?

Viele Antworten wurden im Laufe der Jahre vorgeschlagen, aber keine gilt als allgemein akzeptiert. Unsere Arbeitsgruppe hat nun kürzlich – mit Photonen anstelle von Igeln – ein Experiment durchgeführt, das eine genaue Definition der Tunneldauer erlaubt.

Wie lange dauert das Tunneln?

Photonen sind die elementaren Quanten, aus denen Licht jeder Wellenlänge besteht. Eine gewöhnliche Glühbirne emittiert in einer milliardstel Sekunde mehr als 100 Milliarden von ihnen.

Für unser Experiment hingegen benötigen wir weit weniger: Unsere Lichtquelle sendet jeweils nur zwei identische Photonen gleichzeitig aus, von denen jedes einen anderen Detektor erreicht. Während das eine ungehindert dorthin gelangt, befindet sich im Weg des zweiten ein Hindernis, an dem es in der Regel reflektiert wird und somit verlorengeht; in der Mehrzahl der Fälle registrieren wir demnach nur das unbeeinflußte Photon. Gelegentlich gelingt es jedoch dem zweiten Lichtquant, die Barriere zu durchtunneln, so daß beide Detektoren ansprechen. In diesen Fällen können wir die Ankunftszeiten vergleichen und daraus die für das Tunneln benötigte Zeit ermitteln.

Als Barriere benutzen wir ein alltägliches optisches Element, einen Spiegel. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Haushaltsexemplaren, die mit Metall beschichtet sind und bis zu 15 Prozent des einfallenden Lichtes absorbieren, bestehen Laborspiegel aus zwei verschiedenen transparenten Glassorten, in denen sich Licht unterschiedlich schnell fortpflanzt und die abwechselnd in mehreren dünnen Schichten aufgebracht sind. Eine einzelne Schicht würde das Licht nur unmerklich verlangsamen; die periodische Abfolge vieler Lagen wirkt jedoch als sehr effektive Bremse, so daß Licht kaum in das Glas eindringen kann. Ein aufgedampfter Mehrschichten-Belag mit einer Gesamtdicke von einem Mikrometer – einem Hundertstel des Durchmessers eines menschlichen Haares – reflektiert mehr als 99 Prozent des einfallenden Lichtes einer bestimmten Farbe, für die der Spiegel optimiert ist. In unserem Experiment untersuchen wir das eine Prozent der Photonen, die durch den Spiegel tunneln.

Nach mehreren Tagen Betrieb hatten wir insgesamt mehr als eine Million dieser tunnelnden Photonen registriert. Wir verglichen ihre Ankunftszeiten am Detektor mit denen der Photonen, die ihren Weg ungehindert und mit Lichtgeschwindigkeit zurückgelegt hatten. Das überraschende Ergebnis: Im Mittel kamen die Tunnelphotonen eher an als die unbeeinflußten; die durchschnittliche Tunnelgeschwindigkeit sollte demnach das 1,7fache der Lichtgeschwindigkeit betragen.

Dieser Befund scheint der klassischen Vorstellung der Kausalität zu widersprechen. Denn könnte sich ein Signal entgegen der Relativitätstheorie von Albert Einstein (1879 bis 1955) doch mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten, würde dies aus der Sicht mancher Beobachter die Abfolge von Ursache und Wirkung vertauschen. So könnte etwa eine Glühbirne zu leuchten beginnen, bevor der Lichtschalter betätigt wird.

Wir wollen das etwas veranschaulichen. Angenommen, zu einem bestimmten Zeitpunkt öffnen Sie einen Verschluß, so daß Photonen auf einen Spiegel gelangen können. Eine zweite Person befinde sich hinter dem Spiegel, um die tunnelnden Photonen zu beobachten. Wieviel Zeit vergeht, bevor Ihr Gegenüber merkt, daß Sie den Verschluß geöffnet haben? Man könnte meinen, da die Photonen mit Überlichtgeschwindigkeit tunneln, müßten sie den Beobachter eher erreichen als ein Signal, das sich mit der theoretischen Höchstgeschwindigkeit ausbreitet. Dies würde die Einsteinsche Kausalitätsbedingung verletzen und wäre sicherlich die Basis für die Entwicklung einer Reihe seltsamer Kommunikationstechniken. Solche und ähnliche Gedanken zur Überlichtgeschwindigkeit hatten einige Physiker zu Beginn dieses Jahrhunderts angeregt, nach Alternativen zur herkömmlichen Interpretation der Quantenmechanik zu suchen.

Gibt es dennoch eine mit der Quantenmechanik verträgliche Erklärung für dieses Paradoxon? Ja, in der Tat – und sie versagt uns leider, mit den phantastischen Möglichkeiten einer Umkehr von Ursache und Wirkung zu liebäugeln.

Bisher haben wir die Tunnelgeschwindigkeit von Photonen im klassischen Sinne behandelt, so als wäre sie eine direkt beobachtbare Größe. Der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation zufolge ist sie dies jedoch nicht. Denn danach sind weder der Zeitpunkt, zu dem ein Photon ausgesandt wird, noch dessen genauer Ort oder genaue Geschwindigkeit präzise definiert. Die Position eines Photons wird vielmehr besser durch eine glockenförmige Wahrscheinlichkeitsverteilung beschrieben, deren Breite ein Maß für die Ortsunschärfe des Photons darstellt.

Ein bildhafter Vergleich dieser Verteilungskurve mit der Form eines Schildkrötenpanzers mag uns weiterhelfen. (Carroll-Fans stellen sich vielleicht die Falsche Suppenschildkröte vor.) Beim Start eines Rennens zwischen zwei Schildkröten – entsprechend dem Öffnen des Photonenverschlusses im Experiment – schieben zwei dieser Kriechtiere ihre Nasen gleichzeitig über die Startlinie (Bild 3). Der Durchgang der Nasenspitzen über die Linie markiert den frühestmöglichen Zeitpunkt, zu dem eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, das Photon dort beobachten zu können; vorher kann an dieser Stelle grundsätzlich kein Signal empfangen werden. Wegen der Ortsunschärfe dauert es im Mittel jedoch einen Moment, bis das Photon die Linie überquert, denn seine Aufenthaltswahrscheinlichkeit ist im mittleren Teil des Schildkrötenpanzers am größten.

Der Einfachheit und Anschaulichkeit halber nennen wir die Wahrscheinlichkeitsverteilung des ungehinderten Photons „Schildkröte 1 und die des Tunnelphotons „Schildkröte 2. Beim Auftreffen von Schildkröte 2 auf die Barriere teilt sie sich in zwei unterschiedlich große Schildkröten auf: in eine (entsprechend der Reflexionswahrscheinlichkeit von 99 Prozent) größere, die zurückprallt, und in eine (entsprechend der Transmissionswahrscheinlichkeit von 1 Prozent) kleinere, die durch das Hindernis tunnelt. Beide Teil-Schildkröten zusammen geben die Wahrscheinlichkeitsverteilung des ursprünglichen Photons wieder. Sobald das Lichtquant nun an einer bestimmten Stelle durch eine Messung nachgewiesen wird, verschwindet die andere Teil-Schildkröte sofort.

Wir sehen nun in Bild 3, daß der Scheitelpunkt des Panzers von Schildkröte 2, der den wahrscheinlichsten Aufenthaltsort des Tunnelphotons repräsentiert, zwar etwas früher das Ziel erreicht als derjenige von Schildkröte 1. Aber die Nasenspitzen beider Tiere sind auf gleicher Höhe. Dies bedeutet, daß das Kausalitätsprinzip gewahrt bleibt.

Andererseits ist die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Photons an der Schildkrötennase so gering, daß man es dort kaum jemals beobachten wird. Am ehesten kann man es am höchsten Punkt des Rückens nachweisen. Obwohl also die Nasen beider Schildkröten am Ziel gleichauf liegen, hat der Scheitelpunkt von Schildkröte 2 einen leichten Vorsprung gegenüber dem von Schildkröte 1. (Wir erinnern uns: Die getunnelte Schildkröte ist kleiner als Schildkröte 1.) Ein durch die Barriere getunneltes Photon erreicht darum das Ziel sehr wahrscheinlich eher als eines, das sich ungestört mit Lichtgeschwindigkeit bewegt – was unser Experiment bestätigt hat.

Wir glauben aber nun nicht, daß sich der Scheitelpunkt oder irgendein anderer Teil des Wellenpakets des getunnelten Photons schneller als Licht fortbewegt. Vielmehr verändert sich die Form des Pakets so, daß dessen vorderer Bereich gleichsam gestaucht wird und einen neuen Scheitelpunkt bildet.

Im Jahre 1982 beobachteten Steven Chu von der Universität Stanford (Kalifornien) und Stephen Wong, damals an den AT&T-Bell-Laboratorien, einen ähnlichen Umformungseffekt. Sie experimentierten mit aus vielen Photonen bestehenden Laserpulsen und fanden heraus, daß die wenigen Photonen, die ein Hindernis durchdringen konnten, vor solchen im Detektor ankamen, die ungehindert dorthin gelangten.

Bei diesem Versuch ließe sich einwenden, daß vielleicht nur die ersten Photonen jedes Pulses die Barriere durchdrangen, was die Annahme einer Umformung des Wellenpakets überflüssig machte. In unserem Falle läßt sich dieser Einwand jedoch nicht erheben, denn wir untersuchen immer nur einzelne Photonen. Im Augenblick des Nachweises springt gleichsam das gesamte Photon in den durchgelassenen Teil des Wellenpakets und verweist in mehr als der Hälfte aller Fälle in diesem ungleichen Rennen das ungehinderte Photon auf den zweiten Platz.

Wenngleich sich also unsere Beobachtungen mit einer solchen Umformung erklären lassen, sind die Gründe für diesen Effekt bis heute unbekannt – niemand vermag eine physikalische Erklärung für das schnelle Tunneln zu geben, obgleich bereits in den dreißiger Jahren manche Physiker sich dafür zu interessieren begannen. Eugene Wigner zum Beispiel, der 1963 den Nobelpreis erhielt, wies schon damals darauf hin, daß solch hohe Tunnelgeschwindigkeiten aus der Quantentheorie zu folgen scheinen. Während einige seiner Fachkollegen mutmaßten, in dieser Vorhersage benutzte Näherungen seien falsch, hielten andere die Theorie zwar für korrekt, mahnten aber zur vorsichtigen Interpretation.

Etliche Wissenschaftler, insbesondere Markus Büttiker und Rolf Landauer vom Thomas-J.-Watson-Forschungszentrum der Firma IBM in Yorktown Heights (New York), halten andere Größen als die Ankunftszeit des Wellenpaket-Maximums – etwa den Winkel, um den ein Teilchen mit Eigendrehimpuls sich beim Tunneln dreht – für geeigneter, die quasi in der Barriere verbrachte Zeit zu beschreiben. Aber wenngleich die Quantenmechanik die mittlere Ankunftszeit eines Teilchens vorherzusagen vermag, fehlt ihr doch der klassische Begriff einer Teilchenbahn, ohne den die „in einem Bereich verbrachte Zeit keine definierte Bedeutung hat.

Einen Hinweis gibt es jedoch; er folgt aus einer speziellen Eigenschaft des Tunneleffekts. Theoretisch nimmt nämlich die zum Tunneln benötigte Zeit nicht mit der Breite einer Barriere zu. Dies läßt sich mit Hilfe der Unbestimmtheitsrelation andeutungsweise verstehen. Je kürzer wir nämlich ein Photon beobachten, desto weniger wissen wir über seine Energie. Deshalb gibt es selbst dann, wenn ein auf eine Barriere treffendes Photon nicht über genügend Energie verfügt, diese zu durchqueren, in gewisser Weise anfangs einen kurzen Moment, in dem seine Energie unbestimmt ist. In dieser Phase ist es so, als könnte sich das Photon gewissermaßen kurzzeitig Energie borgen, um mit deren Hilfe die Barriere zu überwinden. Die Länge dieser Zeitspanne hängt dabei nur von der geborgten Energiemenge, nicht aber von der Breite der Barriere ab; darum ist die Tunneldauer stets gleich. Für ein genügend breites Hindernis könnte daher die – wohlgemerkt scheinbare – Durchgangsgeschwindigkeit des Teilchens die Lichtgeschwindigkeit übersteigen.

Aufbau der Rennstrecke

Damit unser Experiment brauchbare Ergebnisse lieferte, bauten wir zunächst zwei exakt gleich lange Strahlengänge für die beiden Photonen auf. Dazu bedienten wir uns einer Laufzeitmessung: Sobald die Zeiten für jeden Strahlengang (ohne Barriere) gleich sind, muß auch die Distanz von der Lichtquelle zum Detektor für beide Photonen gleich sein.

Da die Lichtgeschwindigkeit etwa 300000 Kilometer pro Sekunde beträgt, wäre eine Zeitmessung mit herkömmlichen elektronischen Verfahren untauglich – selbst in einer milliardstel Sekunde legen Photonen noch 30 Zentimeter zurück. Wie also sollten wir die benötigte extrem hohe Zeitauflösung erreichen? Glücklicherweise haben Leonard Mandel und seine Mitarbeiter von der Universität von Rochester (New York) ein Interferenzverfahren entwickelt, mit dem sich die Laufzeiten unserer beiden Photonen vergleichen lassen.

Der Grundbaustein von Mandels Quanten-Stoppuhr ist ein Strahlteiler (Bild 4). Dieser läßt die Hälfte aller einfallenden Photonen durch, die andere Hälfte reflektiert er. Die Strahlengänge werden nun so justiert, daß zwei jeweils gleichzeitig ausgesandte Photonen aus entgegengesetzten Richtungen auf den Strahlteiler fallen. Dann gibt es vier Möglichkeiten: Beide Photonen werden vom Strahlteiler durchgelassen (Bild 4 b), beide werden reflektiert (Bild 4 c), beide verlassen den Strahlteiler in die eine Richtung, oder beide verlassen ihn in die andere. In den ersten beiden Fällen nehmen die Photonen vom Strahlteiler ausgehend unterschiedliche Wege, so daß beide Detektoren ansprechen und eine sogenannte Koinzidenzmessung ermöglichen. Leider entspricht jedoch die Zeitauflösung der Detektoren mit einer milliardstel Sekunde etwa der Zeit, welche die Photonen für das Zurücklegen des gesamten Weges benötigen; sie ist somit viel zu ungenau für unser Experiment.

Welche Rolle übernehmen dann aber Strahlteiler und Detektoren? Wir stellen die Länge eines der beiden Strahlengänge einfach so ein, daß alle Koinzidenzereignisse verschwinden. Zugegeben, dieser Vorschlag mutet etwas seltsam an – schließlich sollten bei gleichen Weglängen die Photonen gleichzeitig an den Detektoren ankommen. Warum also sollen gerade keine Koinzidenzereignisse stattfinden?

Der Grund dafür liegt in der Wechselwirkung zwischen quantenmechanischen Teilchen. Diese lassen sich entsprechend ihrem Verhalten in Bosonen und Fermionen einteilen. Identische Fermionen – zu denen beispielsweise Elektronen gehören – unterliegen dem von Wolfgang Pauli (1900 bis 1958) formulierten Ausschließungsprinzip, welches besagt, daß sich nie mehr als eines dieser Teilchen gleichzeitig in einem bestimmten Zustand befinden kann. Bosonen hingegen – zu denen auch Photonen zählen – sammeln sich gerne im selben Zustand. Darum bewegen sich die beiden Photonen nach gleichzeitigem Erreichen des Strahlteilers bevorzugt in dieselbe Richtung. In diesem Falle werden weniger (in einem idealen Experiment keine) Koinzidenzen nachgewiesen, als wenn die Photonen wirklich unabhängig voneinander wären oder den Strahlteiler zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreichen würden.

Wenn wir also einen der Strahlengänge entsprechend justieren, wird die Anzahl der Koinzidenzereignisse in der Nähe der richtigen Weglänge abnehmen und nach Durchlaufen eines Minimums wieder ansteigen. Die Breite dieser Senke (das ist in unserem Experiment der die Auflösung begrenzende Faktor) entspricht dabei der Größe der Photonen-Wellenpakete – etwa der Entfernung, die Licht in einigen Hundertstel einer billionstel Sekunde zurücklegt.

Erst nach dieser Justage installierten wir die Barriere und begannen das Experiment. Unsere Detektoren registrierten nun mehr Koinzidenzereignisse als vorher, so daß jeweils eines der beiden Photonen den Strahlteiler vor dem anderen erreicht haben mußte. Nur durch Verlängern des vom Tunnelphoton zurückgelegten Weges konnten wir die Anzahl der Ereignisse wieder minimieren – ein Hinweis darauf, daß Photonen zum Durchtunneln einer Barriere weniger Zeit benötigen als bei ihrer ungehinderten Bewegung.

Ausgleich der Dispersion

Trotz aller technischen Raffinesse beim Aufbau des Experiments hätten wir es nicht durchführen können, wenn es das Prinzip der Nichtlokalität nicht gäbe. Das Gelingen des Versuchs allein ist denn auch eine weitere Bestätigung dieses Phänomens.

Um den Zeitpunkt der Emission eines Photons präzise bestimmen zu können, wäre es offensichtlich wünschenswert, daß das Wellenpaket möglichst kurz und damit seine Ortsunschärfe gering ist. Wegen der Unbestimmtheitsrelation wäre dann aber die Energie beziehungsweise die Farbe des Photons um so weniger bekannt (Kasten auf Seite 45). Aus diesem Grunde müßte nun bei unserem Experiment ein Problem auftreten; denn beim Durchgang eines Wellenpakets durch Glas zerlaufen gleichsam die Farben eines Photons, so daß das Wellenpaket breiter und die Zeitmessung unpräziser wird. Diese Dispersion entsteht durch die unterschiedliche Ausbreitungsgeschwindigkeit verschiedener Farben im Glas – blaues Licht ist langsamer als rotes (Bild 5). Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Aufspaltung weißen Lichts in seine Spektralfarben mit Hilfe eines Prismas.

Genau dies passiert auch bei unserem Experiment: Wenn das Photon ein dispersives Medium – die Barriere oder eines der anderen optischen Elemente im Strahlengang – durchdringt, verbreitert sich das Wellenpaket; die roten Farbanteile werden weniger stark gebremst als die blauen. Eine einfache Rechnung zeigt, daß sich die Photonenpulse beim Durchgang durch ein 2,5 Zentimeter dickes Glas um das Vierfache verbreitern würden. Dieser Effekt müßte eigentlich eine genaue Zeitmessung zunichte machen, so daß wir dann nicht sagen könnten, welches Photon zuerst am Detektor ankommt. Erstaunlicherweise wird die Messung dadurch jedoch nicht beeinträchtigt.

Hierin liegt unser zweiter Nachweis der Quanten-Nichtlokalität. Im Grunde müssen beide identischen Photonen jeweils beide Strahlengänge gleichzeitig durchlaufen. Dadurch gleichen sich mögliche Zeitmeßfehler auf scheinbar wundersame Weise aus.

Um dies zu verstehen, müssen wir eine besondere Eigenschaft unserer Photonenpaare näher betrachten. Erzeugt werden sie in einem Kristall mit nichtlinearen optischen Eigenschaften, der ein einzelnes Photon absorbiert und an dessen Stelle gleichzeitig zwei identische Photonen mit jeweils etwa der halben Energie des einfallenden Lichtquants emittiert. Durch diese sogenannte spontane parametrische Abwärtskonversion (spontaneous parametric down-conversion) entstehen beispielsweise aus einem ultravioletten Photon zwei infrarote. Dabei ist die Summe ihrer Energien exakt gleich der Energie des Mutterphotons – wenn das eine etwas energiereicher, sozusagen etwas blauer (und deshalb im Glas etwas langsamer) ist, dann muß folglich das andere etwas röter (und deshalb schneller) sein.

Daraus könnte man nun schließen, daß ein solcher Unterschied zwischen den Photonen den Ausgang des Experiments beeinflussen könnte – daß also gewissermaßen eine Schildkröte etwas sportlicher sei als die andere. Wegen der Nichtlokalität ist aber jeder Unterschied zwischen den beiden Photonen bedeutungslos. Der entscheidende Punkt ist nämlich, daß keiner der Detektoren ausmachen kann, welches Photon welchen Weg genommen hat. Jedes der beiden Photonen könnte also durch die Barriere getunnelt sein.

Die Koexistenz von zwei oder mehr Möglichkeiten, die alle dasselbe Resultat hervorrufen, hat einen Überlagerungseffekt zur Folge. In unserem Falle nimmt jedes der beiden Photonen beide Wege gleichzeitig, und diese beiden Möglichkeiten überlagern einander. Das heißt, die Möglichkeit, daß das durch das Glas gegangene Photon das rötere (schnellere) war, überlagert sich mit derjenigen, daß es sich dabei um das blauere (langsamere) gehandelt hat. Dadurch gleichen sich die Geschwindigkeitsunterschiede und somit die Auswirkungen der Dispersion aus. Die dispersive Verbreiterung eines einzelnen Wellenpakets spielt mithin keine Rolle mehr.

Gäbe es ein Lokalitätsprinzip, hätten wir große Schwierigkeiten gehabt, überhaupt eine Messung durchzuführen. Da aber die einzige logische Erklärung unseres Experiments die Annahme ist, daß jedes der beiden Photonen beide Strahlengänge – also sowohl den mit als auch den ohne Barriere – durchlaufen hat, belegt dies beispielhaft die Nichtlokalität.

Einsteins spukhafte Fernwirkungen

Bislang haben wir zwei Beispiele von Nichtlokalität unserer Quanteneffekt-Experimente kennengelernt: die Messung der Tunnelzeit, für die zwei Photonen exakt zum selben Zeitpunkt starten und exakt die gleiche Weglänge zurücklegen müssen, sowie die Aufhebung der Dispersion, die auf einer genauen Korrelation der Photonenenergien beruht – man sagt, die Photonen seien in der Energie (also in dem, was sie tun) und in der Zeit (wann sie es tun) korreliert. Unser letztes Beispiel ist im Prinzip eine Kombination dieser ersten beiden. Dabei reagiert sozusagen ein Photon ohne jede Zeitverzögerung auf das, was sein Gegenstück macht – unabhängig davon, wie weit beide tatsächlich voneinander entfernt sind.

Aufmerksame Leser werden wahrscheinlich an dieser Stelle protestieren, denn der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation zufolge ist es unmöglich, sowohl Zeit als auch Energie genau anzugeben. Und sie hätten recht – allerdings nur für ein einzelnes Teilchen. Für zwei Teilchen hingegen lassen sich in der Quantenmechanik sowohl der zeitliche Abstand zwischen ihrer Emission als auch die Summe ihrer Energien gleichzeitig angeben, auch wenn weder die Emissionszeit noch die Energie der Teilchen selbst genau bestimmt ist.

Aus diesem Umstand hatten Einstein sowie seine Kollegen Boris Podolsky und Nathan Rosen geschlossen, daß die Quantentheorie unvollständig sei. Im Jahre 1935 formulierten sie ein berühmtes Gedankenexperiment, mit dem sie die Mängel der Quantenmechanik aufzuzeigen suchten.

Glaubt man der Quantenmechanik, so ihr Argument, dann sind zwei in einem Vorgang wie der Abwärtskonversion erzeugte Teilchen gekoppelt. Angenommen, wir messen nun die Emissionszeit des einen Teilchens, dann wüßten wir wegen der engen zeitlichen Korrelation auch über die Emissionszeit des anderen Bescheid, ohne dieses je durch einen Meßvorgang stören zu müssen. Ebenso könnten wir die Energie des zweiten Teilchens direkt messen und daraus diejenige des ersten ableiten. Auf diese Weise hätten wir sowohl die Energie als auch die Emissionszeit beider Teilchen exakt ermittelt und somit die Unbestimmtheitsrelation umgangen. Wie können wir die Korrelationen verstehen und den Widerspruch lösen?

Es gibt im Prinzip zwei Ansätze. Der erste entspricht dem, was Einstein damals „spukhafte Fernwirkungen nannte. In diesem Falle beruft man sich nur auf eine rein quantenmechanische Beschreibung. Dann ist einem Photon so lange weder eine Energie noch eine Emissionszeit zuzuordnen, bis man zum Beispiel die Energie gemessen hat. Aus dieser einzelnen Messung folgt aber mehr: Da die Summe der beiden Photonenenergien gleich der Gesamtenergie des Mutterphotons sein muß, springt die zuvor unbestimmte Energie des zweiten Photons, die nicht ermittelt worden ist, im Augenblick der Messung auf den von dem Energieerhaltungssatz geforderten Wert. Dieser nichtlokale „Kollaps würde unabhängig von der Entfernung zum zweiten Photon erfolgen. Die Unbestimmtheitsrelation ist dabei nicht verletzt, denn wir können nur entweder die eine oder die andere Variable ermitteln: Die Messung der Energie stört das System, indem sie unmittelbar eine Zeitunschärfe erzeugt.

Selbstverständlich sollte man ein solch bizarres nichtlokales Modell nur dann akzeptieren, wenn es kein einfacheres gibt. Eine eingängigere Erklärung ist, daß die Emissionszeiten und die Energien der beiden Photonen definiert und jeweils miteinander korreliert seien. Der Umstand, daß sich diese Größen nicht simultan bestimmen lassen, wäre dann bloß ein Indiz für die Unvollständigkeit der Quantentheorie.

Einstein, Podolsky und Rosen traten für diese zweite Deutung ein. Ihrer Meinung nach gäbe es in den beobachteten Korrelationen zwischen den Teilchenpaaren nichts Nichtlokales, da die Eigenschaften jedes Teilchens im Augenblick der Emission festgelegt seien. Die Quantenmechanik sei demnach nur als Wahrscheinlichkeitstheorie (eine Art Photonen-Soziologie) korrekt und könne daher nicht alle einzelnen Teilchen umfassend beschreiben. Es sei aber vorstellbar, daß es eine grundlegende Theorie gäbe, mit der sich die spezifischen Ergebnisse aller möglichen Messungen vorhersagen ließen und die nachweise, daß die Teilchen lokal wechselwirkten. Eine solche Theorie würde auf einer noch unbekannten verborgenen Variablen basieren.

Im Jahre 1964 vermochte jedoch John S. Bell vom Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik (CERN) in der Nähe von Genf auf mathematischem Wege zu zeigen, daß alle Annahmen von lokalen verborgenen Variablen Voraussagen ergeben, die nicht im Einklang mit der Quantenmechanik stehen.

Seitdem haben zahlreiche Experimente die nichtlokale (quantenmechanische) Betrachtungsweise bestätigt und die von Einstein, Podolsky und Rosen vorgeschlagene intuitive Vorstellung widerlegt. Diese bahnbrechenden Erkenntnisse beruhen zu einem großen Teil auf den Arbeiten der Gruppen um John Clauser von der Universität von Kalifornien in Berkeley und Alain Aspect, der heute am Institut für Optik in Orsay bei Paris forscht. In den siebziger und frühen achtziger Jahren untersuchten sie die Korrelationen zwischen den Polarisationsrichtungen von Photonen. Zudem haben kürzlich John G. Rarity und Paul R. Tapster vom Royal Signals and Radar Establishment in Malvern (England) die Korrelationen zwischen den Impulsen von Photonenpaaren untersucht (vergleiche „Quanten-Philosophie von John Horgan, Spektrum der Wissenschaft, September 1992, Seite 82).

Unsere Forschungsgruppe hat diese Experimente noch einen Schritt weiterentwickelt. Auf der Grundlage einer von James D. Franson von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) 1989 vorgeschlagenen Idee haben wir ein Experiment durchgeführt, mit dem wir ermitteln wollten, ob irgendein mit einer lokalen verborgenen Variablen arbeitendes Modell die Energie- und Zeitkorrelationen exakt beschreiben kann. In diesem Versuch werden die beiden im parametrischen Konverter erzeugten Photonen getrennt auf zwei identische Interferometer geleitet (Bild 6). Beide Anordnungen sind ähnlich aufgebaut wie eine Autobahn mit einer ausgewiesenen Umleitungsstrecke. Ein Photon kann darin entweder den direkten, kurzen Weg von seiner Quelle zum Ziel oder aber den Umweg (dessen Länge wir einstellen können) nehmen.

Was passiert nun, wenn wir zwei identische Photonen auf die Reise schicken? Ob ein Lichtquant den direkten oder den längeren Weg nimmt, hängt vom Zufall ab. Am Ende des Interferometers können beide die Anordnung durch eine von zwei Blenden (eine obere und eine untere) verlassen. Unseren Beobachtungen zufolge benutzen die Photonen beide Ausgänge mit gleicher Wahrscheinlichkeit. Daraus könnte man intuitiv schließen, daß Photon 1 seine Austrittsöffnung unabhängig von Photon 2 wählt. Falsch: Die beiden Photonen zeigen eine enge Korrelation in ihrem Verhalten. So beobachteten wir bei bestimmten Längen der Umleitungsstrecke, daß immer dann, wenn Photon 1 durch die obere Blende austrat, auch Photon 2 im anderen Interferometer dieselbe Öffnung wählte.

Nun, vielleicht könnte diese Korrelation von Anfang an festgelegt sein, so wie man beim Auslosen zu Beginn einer Schachpartie einen weißen Bauern in der einen und einen schwarzen in der anderen Hand versteckt. Sobald wir eine Faust öffnen, wissen wir dann mit Sicherheit, welche Farbe der Bauer in der anderen haben muß.

Eine solche Annahme reicht jedoch nicht aus, die weit erstaunlicheren Ergebnisse unserer Experimente zu erklären. Durch Verändern der Weglänge in einem der beiden Interferometer läßt sich nämlich die Art der Korrelationen beeinflussen. So können wir kontinuierlich von einem Zustand, in dem beide Photonen ihr Interferometer jeweils durch dieselbe Blende (also beide durch die obere oder durch die untere) verlassen, zu dem anderen Extrem übergehen, in dem sie jeweils durch entgegengesetzte Ausgänge hindurchtreten. Im Prinzip würde eine solche Korrelation sogar auch dann bestehen, wenn wir die Weglänge erst nach der Emission der Photonen einstellten.

Das bedeutet: Vor dem Eintritt in das Interferometer weiß sozusagen keines der beiden Photonen, welchen Weg es darin wird nehmen müssen – beim Verlassen weiß jedoch jedes sofort (nichtlokal), was sein Partner tut, und verhält sich entsprechend.

Zur Untersuchung dieser Korrelationen messen wir, wie oft die Photonen aus ihren jeweiligen Interferometern gleichzeitig austreten und dabei in den beiden an den oberen Blenden angebrachten Detektoren ein Koinzidenzsignal erzeugen. Wenn wir die Weglänge eines Interferometerarmes variieren, ändert sich zwar weder die Photonenzählrate des rechten noch die des linken Detektors, dafür aber die Anzahl der Koinzidenzereignisse – ein Indiz für das korrelierte Verhalten jedes Photonenpaares. Dabei entsteht ein Überlagerungsmuster, das an die im bekannten Doppelspalt-Experiment erzeugten hellen und dunklen Interferenzstreifen erinnert, mit denen man die Wellennatur von Teilchen nachweisen kann.

Das Streifenmuster in unserem Experiment läßt auf einen seltsamen Interferenzeffekt schließen. Wie bereits angedeutet, kann eine Interferenz als Resultat von zwei oder mehr ununterscheidbaren, gleichzeitig existierenden Möglichkeiten zum Erzeugen ein und desselben Ergebnisses aufgefaßt werden (ähnlich wie in unserem zweiten Beispiel für Nichtlokalität, in dem ein Photon gleichzeitig zwei Strahlengänge durchläuft und so eine Interferenz erzeugt). In unserem jetzigen Experiment kann ein Koinzidenzereignis auf zwei Arten zustande kommen: Entweder legen beide Photonen den kurzen Weg zurück, oder beide nehmen den Umweg. (In den Fällen, in denen die Photonen unterschiedliche Weglängen zurücklegen, kommen sie zu verschiedenen Zeiten an und interferieren nicht. Solche Ereignisse verwirft unsere Elektronik.)

Das gleichzeitige Bestehen beider Möglichkeiten – Voraussetzung für die von uns beobachtete Interferenz – legt einen Vorgang nahe, der im klassischen Bild völlig absurd ist. Da jedes Photon zur selben Zeit den Detektor erreicht, nachdem es sowohl die lange als auch die kurze Route durchlaufen hat, müßte es gewissermaßen zweimal ausgesandt worden sein.

Zur Veranschaulichung stellen Sie sich vor, Sie bekämen einen Brief von einem Freund aus Übersee. (In diesem Beispiel übernehmen Sie die Rolle eines der beiden Detektoren.) Der Brief ist entweder mit dem Flugzeug oder mit dem Schiff gekommen, so daß er entweder vor etwa einer Woche (als Luftpost) oder etwa vor einem Monat (auf dem Seewege) abgeschickt worden sein muß. Damit eine Interferenz stattfinden könnte, hätte der Brief zu beiden Zeitpunkten abgeschickt werden müssen – eine im klassischen Bild absurde Vorstellung. Die Interferenzstreifen in unserem Experiment bedeuten jedoch nichts anderes, als daß jedes der zu einem Paar gehörenden Photonen vom Konverter zu zwei ununterscheidbaren Zeitpunkten ausgesandt worden ist. Jedes der beiden Photonen hat also gewissermaßen zwei Entstehungsmomente.

Wichtiger noch: Anhand der genauen Form der Interferenzstreifen kann man unterscheiden zwischen quantenmechanischen Effekten und solchen, die auf einer Theorie mit lokalen verborgenen Variablen beruhen (in der beispielsweise angenommen wird, daß jedes Photon beim Entstehen eine exakt definierte Energie habe oder bereits wüßte, welchen Ausgang es nehmen muß). Den von Bell abgeleiteten Nebenbedingungen zufolge gibt es keine auf verborgenen Variablen beruhende Theorie, aus der die beobachteten sinusförmigen Interferenzstreifen mit einem Kontrast (Intensitätsunterschied zwischen hellen und dunklen Streifen) von mehr als 71 Prozent folgen könnte. Für unsere Messungen ergibt sich jedoch ein Kontrast von etwa 90 Prozent (Bild 7).

Mit bestimmten vernünftigen Zusatzannahmen kann man daraus ableiten, daß das von Einstein und seinen Kollegen vorgeschlagene intuitive, lokale und realistische Bild falsch ist: Unsere Versuchsergebnisse lassen sich nur dann erklären, wenn das Ergebnis einer Messung auf der einen Seite nichtlokal vom Ergebnis einer Messung auf der anderen Seite abhängt.

Korrelation ohne Signalübermittlung

Ist demnach Einsteins Relativitätstheorie in Gefahr? Erstaunlicherweise nicht, denn es gibt keine Möglichkeit, die Korrelation zwischen Teilchen zur Nachrichtenübermittlung mit Überlichtgeschwindigkeit zu nutzen. Der Grund dafür liegt darin, daß es ausschließlich vom Zufall abhängt, ob ein Photon die obere Blende passiert und auf den Detektor gelangt oder statt dessen den unteren Ausgang nimmt. Nur durch den direkten Vergleich zweier Messungen der offensichtlich zufälligen Zählereignisse (wofür ja unsere Meßdaten zusammengeführt werden müssen) können wir die nichtlokalen Korrelationen nachweisen. Das Kausalitätsprinzip wird also nicht verletzt.

Science-fiction-Fans werden sich also damit zufriedengeben müssen, daß Nachrichtenübermittlung mit Überlichtgeschwindigkeit auch weiterhin physikalisch unmöglich zu sein scheint. Einige Wissenschaftler haben jedoch versucht, das Beste daraus zu machen. Sie wollen die Zufälligkeit der Korrelationen zur Verschlüsselung von Daten verwenden. Mit solchen quantenkryptographischen Systemen erstellte Codes wären absolut nicht zu brechen ( Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1992, Seite 96).

In diesem Beitrag haben wir drei Beispiele für Nichtlokalität kennengelernt. Beim Tunneln vermag ein Photon gleichsam die gegenüberliegende Seite einer Barriere zu fühlen und diese unabhängig von ihrer Dicke immer in derselben Zeit zu durchdringen. Im zweiten Beispiel beruht die Aufhebung der Dispersion auf dem Umstand, daß jedes der beiden Photonen sowohl den einen als auch den anderen Weg im Interferometer zurückgelegt hat. Im zuletzt besprochenen Experiment wird eine nichtlokale Korrelation von Energie und Zeit zwischen zwei Photonen durch ihr gekoppeltes Verhalten nach Verlassen der Interferometer nachgewiesen. Auch wenn wir dies nur im Labormaßstab getan haben, wären diese Korrelationen der Quantenmechanik zufolge auch dann zu beobachten, wenn die beiden Interferometer beliebig weit auseinander stünden.

Irgendwie hat es aber die Natur verstanden, einen Widerspruch mit dem Kausalitätsprinzip zu vermeiden, denn keinen der oben genannten Effekte kann man dazu benutzen, Signale mit Überlichtgeschwindigkeit zu übermitteln. Die heikle Koexistenz der (lokalen) Relativitätstheorie und der (nichtlokalen) Quantenmechanik hat damit erneut einer weiteren Prüfung standgehalten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1993, Seite 40
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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