Quantenphysik: Schrödingers Kätzchen werden erwachsen
Eine paradoxe Zustandsüberlagerung ähnlich der Katze in Schrödingers berühmtem Gedankenexperiment, die zugleich lebendig und tot ist, ließ sich erstmals an einem supraleitenden Stromkreis mit mehreren Milliarden Elektronen nachweisen.
Der österreichische Physiker Erwin Schrödinger (1887–1961) formulierte nicht nur die nach ihm benannte Grundgleichung der Wellenmechanik, sondern auch ein Gedankenexperiment, das die scheinbar absurden Konsequenzen aus der gängigen Deutung dieser Gleichung vor Augen führen sollte. Seither fristet Schrödingers Katze in den Schriften zur Interpretation der Quantenphysik ein unentschiedenes Dasein zwischen Leben und Tod, weil ihr Schöpfer sie nun einmal als Überlagerung dieser beiden Zustände erdacht hat.
Eigentlich wollte Schrödinger damit seinerzeit zeigen, dass die Quantenphysik nicht der Weisheit letzter Schluss sein könne. Doch seit einigen Jahren gelingen den Forschern raffinierte Experimente, die an winzigen Modellen – sozusagen an Schrödinger-Kätzchen – vorführen, dass es tatsächlich quantenphysikalische Superpositionen von Zuständen gibt, die in der klassischen Physik niemals zugleich existieren dürften (siehe "Das zähe Leben von Schrödingers Katze" von Philip Yam, Spektrum der Wissenschaft 11/97, S. 56).
Bisher beschränkten sich solche Demonstrationen freilich auf submikroskopische Objekte – etwa auf ein ein-zelnes lasergekühltes Atom, das dazu gebracht wurde, zwei Schwingungen gleichzeitig auszuführen und sich somit stets an zwei verschiedenen, durch mehrere Atomradien getrennten Orten aufzuhalten (Spektrum der Wissenschaft 8/1996, S. 24).
Jetzt ist es gelungen, eine Superposition von Zuständen, die einander klassisch ausschließen müssten, in einem Quantensystem aus Milliarden Elektronen zu erzeugen und damit etwas zu konstruieren, das einer makroskopischen Schrödinger-Katze ein ganzes Stück näher kommt. Die Gruppe um Jonathan R. Friedman an der Staatsuniversität von New York in Stony Brook verwendete dafür ein so genanntes Squid, ein supraleitendes Quanteninterferometer (Nature, Bd. 406, S. 43).
In einem solchen Ring aus supraleitendem Material erzeugt ein äußeres Magnetfeld widerstandsfrei fließende Ströme, die normalerweise zur Messung extrem schwacher Felder genutzt werden. Doch in diesem Fall ging es den Forschern darum, den Stromkreis in eine Zustandsüberlagerung zu versetzen, die einem zugleich rechts und links herum laufenden Ringstrom entspricht. Das ist klassisch gesehen nicht nur ein in sich widersprüchlicher, sondern auch physikalisch unmöglicher Mischzustand; denn der rechts umlaufende Squid-Zustand ist von seinem Spiegelbild durch eine Energiebarriere getrennt.
Strom fließt gleichzeitig links und rechts herum im Kreis
Um dieses Hindernis auszutricksen, wurde dem zunächst in einer Richtung umlaufenden Strom durch Bestrahlung mit Mikrowellen ein wenig zusätzliche Energie zugeführt. Sie hätte bei klassischer Betrachtung noch nicht ausgereicht, die Energiebarriere zu überwinden, welche die Zustände mit rechtsdrehenden Strömen von denen mit links herum laufenden trennt. Doch in der Quantenphysik findet mit einiger Wahrscheinlichkeit ein so genanntes Tunneln durch Energiebarrieren statt. Was klassisch unüberwindlich wäre, ist quantenphysikalisch ein wenig durchlässig. Folglich etabliert sich ein überlagerter Zustand aus zwei klassisch unvereinbaren Alternativen: Der Strom fließt zugleich rechts und links herum im Kreis. Die Überlagerung bleibt freilich nur so lange kohärent, wie die Experimentatoren praktisch jede Wechselwirkung des Systems mit seiner Umgebung auszuschalten vermögen.
Das Problem ist nun allerdings der Nachweis des paradoxen Zustands, denn jede Messung erfordert unweigerlich eine gewisse Wechselwirkung des Quantensystems mit seiner Umgebung. Der Trick bestand in diesem Fall darin, das Experiment bei etwas variierten Mikrowellenfrequenzen zu wiederholen und mit einem zweiten Squid die umlaufenden Ströme über die von ihnen erzeugten schwachen Magnetfelder ungemein exakt zu messen. Bei diesem sukzessiven Abtasten der Energiebarriere zeigt sich ein charakteristischer Energiesprung, der eindeutig vom Durchtunneln der Barriere zwischen den beiden Stromrichtungen herrührt. Damit wurde die Zustandsüberlagerung indirekt nachgewiesen – und damit die größte bislang je experimentell realisierte Schrödinger-Katze.
Das Resultat zeigt, dass der Übergang von der Quantenwelt zur klassischen Alltagsphysik weniger davon abhängt, wie groß das System ist – es besteht im beschriebenen Fall immerhin aus Milliarden Elektronen –, sondern davon, wie gut es von seiner Umgebung isoliert bleiben kann: Eine kohärente Quantensuperposition zerfällt desto schneller, je stärker das System mit dem Rest der Welt wechselwirkt. Ein Lebewesen wie Schrödingers Katze ist nicht deshalb nach einiger Zeit entweder lebendig oder tot – und nicht beides zugleich –, weil das Tier für ein Quantensystem einfach zu groß ist, sondern weil ein Lebewesen nur im ständigen Austausch mit der Umwelt zu überleben vermag.
Wichtig könnte das Squid-Experiment mit gegenläufigen Strömen für künftige Quantencomputer werden. Deren Vorteil soll gerade darin bestehen, dass sie durch das Arbeiten mit überlagerten Zuständen Aufgaben lösen können, die mit klassischen Computern unerreichbar sind. Solche Zustände lassen sich, wie es jetzt scheint, mit sorgsam von der Umgebung abgeschirmten Squids realisieren und sogar behutsam abfragen – zwei nur schwer vereinbare Voraussetzungen für das Rechnen mit Quantensuperpositionen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2000, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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