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Schütteltrauma: Zu Tode geschüttelt?

Immer wieder sind so genannte Schüttelbabys Gegenstand spektakulärer Strafprozesse. Doch hinter einer ­vermeintlichen Kindesmisshandlung kann auch ein tragischer Unfall stecken. Ein Fehlurteil erzeugt dann zusätzliches Leid.
Nicht weinen, Baby

Es kommt nicht oft vor in der Wissenschaft, dass ein Forscher sich von seiner Entdeckung distanziert. In bekannten Fällen wie dem der Atomphysiker Robert Oppenheimer und Otto Hahn liegt der Grund für die Reue auf der Hand – das Ergebnis ihrer Forschung war eine Bombe, die hunderttausenden Menschen den Tod brachte. Im Gegensatz dazu erscheint der Brief, mit dem sich 2015 der Kinderneurochirurg Norman Guthkelch zusammen mit 36 weiteren Fachleuten an die Öffentlichkeit wandte, auf den ersten Blick befremdlich: Der Brite gilt als Entdecker des Schütteltraumasyndroms (englisch: shaken baby syndrome, SBS), einer Kombination lebensbedrohlicher Hirnverletzungen, die entstehen können, wenn ein Erwachsener einen Säugling gewaltsam hin und her schüttelt. Je nach Schätzung ereignen sich in Deutschland jedes Jahr zwischen 100 und 200 solcher Fälle, die betroffenen Kinder sind im Schnitt vier bis fünf Monate alt.

Guthkelchs Erstbeschreibung des tödlichen Schüttelmechanismus lenkte 1971 die Aufmerksamkeit von Rechtsmedizinern und Richtern auf diese zuvor unbekannte Form der Kindesmisshandlung und sorgte dafür, dass die Täter zur Verantwortung gezogen wurden. Eigentlich ein Beispiel für die positiven Auswirkungen des wissenschaftlichen Fortschritts – oder? 44 Jahre später schreibt der inzwischen betagte Neurochirurg in seinem offenen Brief, die medizinische Diagnose habe von ihm nie beabsichtigte Konsequenzen gehabt: "Eltern und Kinderbetreuer sind in vielen Ländern der Welt fälschlicherweise beschuldigt worden, ein Kind verletzt oder getötet zu haben. Sie sehen sich dem Vorwurf der Kindesmisshandlung, der fahrlässigen oder vorsätzlichen Tötung ausgesetzt." Guthkelch befürchtet, dass Mediziner die Diagnose zu leichtfertig stellen, ohne andere Gründe für den Zustand des Kindes in Erwä­gung zu ziehen. Seine ursprüngliche Intention, ­Eltern auf die verheerenden Folgen des Schüttelns aufmerksam zu machen und damit zur Prävention beizutragen, sieht er in Gefahr.

Der Brief ist der vorläufige Höhepunkt einer Debatte, die bereits seit Jahren in der Fachwelt tobt. Beteiligt sind nicht nur Kinderärzte, Rechtsmediziner und Juristen, sondern auch Biomechaniker, Wissenschafts­theoretiker und Psychologen. So manchem Experten erscheint es heute weniger klar denn je, was das Schütteln eines Säuglings im Kopf des Kindes wirklich anrichtet – und diese Frage kann in Gerichtsprozessen entscheidend sein.

Kern der Debatte ist eine Besonderheit, die mit dazu führte, dass das SBS so spät entdeckt wurde ...

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  • Quellen

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