Schwankungen des Meeresspiegels in der Erdgeschichte
Neue Methoden der Analyse von Sedimentschichten lassen Anstiege und Absenkungen des Meeresspiegels im Verlauf geologischer Zeiträume erkennen.
Nichts erscheint uns unabänderlicher als der mittlere Meeresspiegel, der uns als Bezugspunkt für alle geographischen Höhen- und Tiefenangaben dient. Nichts scheint beständiger zu sein als die Küstenlinie, die Land und Meer trennt. Gleichwohl bezeugen Gesteine und Fossilien, daß eben diese Uferlinie sich in geologischen Zeiträumen weiträumig bewegt hat. In den sogenannten Transgressionsphasen dringt das Meer aufs Land vor: Vor 150 Millionen Jahren, im Oberen Jura, war fast die gesamte Fläche des heutigen Frankreich überschwemmt (Bild Seite 30). In Zeiten mariner Regression dagegen weicht das Meer zurück und legt weite Landflächen frei.
Sind die Schwankungen des Meeresspiegels globaler oder lokaler Natur? In welchen Zeiträumen und in welchem Ausmaß treten sie auf? Was sind ihre Ursachen und was ihre klimatischen, geologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen?
Die Geologen suchen nach Spuren dieser Schwankungen in den Sedimentschichten. Für die Beziehungen zwischen dem Auf und Ab des Meeresspiegels und der Ablagerung von Sedimenten hat vor rund 15 Jahren Peter Vail, damals Geologe beim Erdölkonzern Exxon, zusammen mit seinen Mitarbeitern ein Modell aufgestellt, das seither als Grundlage für systematische Untersuchungen dient. Beispielsweise erstellt man seismische Profile des Untergrunds oder zählt die Fossilien in verschiedenen Schichten aus, um auf die Umweltbedingungen zur Zeit ihrer Ablagerung zurückzuschließen. Im Aquitanischen Becken, in Portugal und in Marokko haben wir auf diese Weise die Schwankungen des Meeresspiegels für Zeiträume von einigen Dutzend Millionen Jahren rekonstruiert.
Ähnliche Untersuchungen an weit entfernten Stellen der Erde kommen zu übereinstimmenden Ergebnissen. Demnach wäre nach globalen Ursachen der beobachteten Fluktuationen zu suchen. Veränderungen der astronomischen Parameter wie etwa der Neigung der Erdachse gegen die Ekliptik sowie Schwankungen der tektonischen Aktivität scheinen gemeinsam auf ein chaotisches dynamisches System zu wirken, in dem Höhe des Meeresspiegels, Klima, Gebirgsbildung und Sedimentierung sich gegenseitig beeinflussen. Wir haben gezeigt, daß die Populationsdynamik von Foraminiferen (einzelligen Meeresorganismen) mit diesem chaotischen Verhalten eng gekoppelt ist.
Derartige Untersuchungen sind auch von wirtschaftlichem Interesse, denn die Fluktuationen wirkten an der Entstehung von Erdölvorkommen mit: Zeiten hohen Wasserstandes und warmen Klimas sind günstig für die Entwicklung von Plankton, durch dessen Zersetzung Erdöl entsteht. Verständlicherweise interessiert die Erdölgesellschaften brennend, wo genau sich solches abgespielt hat.
Wie lagern sich Sedimente in den Küstengebieten ab? Eine sogenannte Ablagerungssequenz besteht aus drei Phasen: niedriger Meeresspiegel, Transgression und hoher Meeresspiegel. In jeder Phase bilden sich Sedimentschichten mit charakteristischer Struktur. Die vierte Phase, die Absenkung des Meeresspiegels, geht in der Regel rasch vonstatten, und die dazugehörigen Ablagerungen sind nicht von den bei niedrigem Meeresspiegel gebildeten zu unterscheiden.
Von Bewegungen der Erdkruste abgesehen, wandert die Küstenlinie aus drei Gründen: Die Gesamtmenge an flüssigem Meerwasser verändert sich durch Neubildung oder Abschmelzen von Gletschereis; Flüsse schaffen Neuland, indem sie Material ins Meer schwemmen und dort ablagern; und unter dem Gewicht dieser Sedimente sinkt der Meeresboden ab. Diese drei Effekte wirken sich auch auf die Dicke der Wasserschicht aus, des verfügbaren Raums für die Sedimentation. Dabei spielen die Schwankungen der Gesamtwassermenge und der Sedimenteintrag die Rolle unkalkulierbarer Ursachen, denen die Absenkung des Meeresbodens als mehr oder weniger berechenbarer – allerdings je nach geographischer Lage unterschiedlich starker – Sekundäreffekt folgt.
Anders als der erste Blick und hergebrachte Vorstellungen vermuten lassen, liegen zeitlich aufeinanderfolgende Schichten nicht einfach säuberlich horizontal übereinander auf der weiten Fläche eines Sedimentationsbeckens. Der Meeresboden in Küstennähe ist stets abschüssig. An diesem Hang setzen sich die von den Flüssen angeschwemmten Teilchen in dem Ausmaß ab, wie die Strömung sich beim Kontakt mit dem Meerwasser abschwächt. Die Hauptmasse der Sedimente sinkt in unmittelbarer Küstennähe zu Boden; nur die feineren Fraktionen werden weiter hinaus ins Meer getragen. Im Laufe der Zeit ergibt sich ein mehr oder weniger schiefes Prisma, das an der Küstenlinie am dicksten ist und zur offenen See wie zum Land hin dünner wird (Kasten Seite 29). Lage und Form dieses Prismas sowie mineralogische und paläontologische Zusammensetzung der Sedimentschichten, aus denen es besteht, hängen von der Tendenz der Meeresspiegelschwankung zur Zeit der Ablagerung ab.
Hin und Her: Regression und Transgression
Wenn der Meeresspiegel sinkt, verlagert sich die Küstenlinie vergleichsweise plötzlich seewärts; das ist die sogenannte beschleunigte Regression. Infolgedessen liegen die Flußmündungen tiefer als zuvor, das Gefälle nimmt zu und damit die Strömungsgeschwindigkeit. Der Fluß vertieft sein Bett, erodiert die bisherige Küstenzone und transportiert das Material ins Meer, wo es sich abermals in geneigten Schichten ablagert (Kasten Seite 29). Dadurch verschiebt sich die Küstenlinie noch ein Stück weiter ins Meer hinaus (Bild links). Diese Regression heißt normal; sie verläuft langsamer als die beschleunigte.
Auf die Regression folgt eine Transgressionsphase: Der Meeresspiegel steigt an, und die Küstenlinie verlagert sich landeinwärts. Dadurch verringert sich das Gefälle der Wasserläufe und damit deren Erosions- und Transportaktivität. Es werden weniger Sedimente herbeigeschafft; sie bilden bei ihrer Ablagerung ein zweites Prisma, das zum Land hin versetzt ist. Dieses setzt sich aus eher flachen Schichten zusammen, die zum offenen Meer hin dünner werden. Zwischen den schrägliegenden Sedimenten der Regressionsphase und den flacheren der Transgressionsphase bildet sich eine charakteristische Grenzfläche.
In den Phasen raschen Meeresspiegelanstiegs ist die Strömung der Flüsse so verlangsamt, daß ihre Sand- und Kiesfracht gar nicht mehr bis zum Meer gelangt: Die Sedimentation setzt mehrfach für längere Zeiträume aus. Derweil verfestigt sich der Meeresboden durch Ausfällung von Mineralen, die durch Bakterienfilme begünstigt wird. Bei diesem Verhärtungsprozeß entstehen die sauberen Grenzen zwischen den Schichten, die wir heute beobachten. Zuweilen haben im Küstenbereich und in geringen Tiefen Tiere beim Laufen auf der sich verhärtenden Oberfläche Fußspuren hinterlassen, die auf diese Weise spektakulär im Gestein konserviert wurden (Bild Seite 33; siehe auch "Fossile Fährten – den Dinosauriern auf der Spur" von David J. Mossman und William A. S. Sarjeant, Spektrum der Wissenschaft, März 1983, Seite 68).
Bei raschem Anstieg und hohem Niveau des Meeresspiegels ist der Eintrag kontinentaler Sedimente ins Meer spärlich, während dort weiterhin intensives Leben – und Sterben – stattfindet und zahlreiche Überreste der Lebewesen zu Boden sinken. Der Anteil an Tierfossilien in den Gesteinen ist am höchsten zu Zeiten maximaler Meeresbedeckung (Bild Seite 31 oben).
Nach der Transgressionsphase stabilisiert sich der Meeresspiegel auf hohem Niveau und fängt dann langsam an zu sinken: Die Sedimente erreichen erneut das Meer, und die Küstenlinie verlagert sich durch normale Regression seewärts. Schrägliegende Sedimentschichten aus dieser Phase bedecken die eher horizontalen aus der Transgressionsphase.
Sedimentschichten erkennen und zuordnen
Seit der Veröffentlichung dieses Modells haben Geologen die Abfolge dieser drei Phasen – niedriger Meeresspiegel, Transgression und hoher Meeresspiegel – in marinen Sedimentgesteinen jeden geologischen Alters und überall auf der Welt bestätigt gefunden. Sie verwenden dabei verschiedene Verfahren:
Stoßwellen aus eigens dafür verursachten Explosionen werden an größeren Diskontinuitäten (sprunghaften Änderungen der Gesteinsart) reflektiert. Durch Aufzeichnung der Reflexionen und Analyse dieser seismischen Profile können wir die Gestalt der Schichtkomplexe mit einer maximalen Auflösung von ungefähr 25 Metern rekonstruieren.
Indem wir erbohrtes und oberflächlich anstehendes Gestein aus verschiedenen Stellen eines Sedimentbeckens untersuchen, vermögen wir die Schichten einander zuzuordnen und in die geologische Chronologie einzustufen. Indem wir die mineralogische Beschaffenheit der Gesteine mit den Sedimentstrukturen vergleichen, die sich heute unter dem Einfluß von Gezeiten, Dünung, Unwettern und Meeresströmungen bilden, gewinnen wir Aufschluß über die Dicke der Wasserschicht, unter der sie abgelagert wurden. In den Grenzflächen der Sedimentgesteine findet man sogar die symmetrischen Rippel wieder, die durch die Dünung in weniger als fünf Meter tiefem Wasser entstehen, und die eher kegelförmigen Hügelchen, die sich bei heftigen Winden bilden.
Schließlich sind mikroskopisch kleine Fossilien ausgezeichnete Indikatoren für Phasen niedrigen und hohen Meeresspiegels. Wir haben das für Foraminiferen gezeigt, einzellige Tiere mit Kalkgehäuse, die am Meeresboden leben. Ihre Überreste finden sich in großer Zahl in den alten Sedimenten. Sie sind charakterisiert durch eine große Formenvielfalt und die Fähigkeit, die Form über die Generationen hinweg den Umweltbedingungen anzupassen – und zwar reversibel. Innerhalb derselben Art gibt es Individuen mit starkem, vollständig eingerolltem Gehäuse und solche mit einem mehr abgeplatteten und teilweise auseinandergerollten Gehäuse. Bei verwandten Arten sind die Gehäuse vollständig auseinandergerollt und flach.
Wir haben aus 185 bis 195 Millionen Jahre alten Sedimentschichten im Aquitanischen Becken einige zehntausend Exemplare von Foraminiferen herauspräpariert. Die bei niedrigem Meeresspiegelstand abgelagerten Sedimente enthalten einen hohen Anteil eingerollter Formen: im Mittel 96 Prozent. Die auseinandergerollten Formen sind vor allem in den Schichten, die bei hohem Wasserstand gebildet wurden, zu finden; dort machen sie 30 Prozent der Gesamtmenge aus. Bei gleichem Volumen hat ein gerades oder nur teilweise eingerolltes Gehäuse eine größere Oberfläche als ein kompaktes. Das ist in Zeiten schlechter Sauerstoffversorgung – typisch bei hohem Meeresspiegel – von Vorteil, denn der Austausch mit der Außenwelt ist der Oberfläche proportional.
Andere Untersuchungen an Sedimenten unterschiedlichen Alters in Portugal und Marokko zeigen ebenfalls, daß die Foraminiferen durch morphologische Veränderungen auf Schwankungen der Meerestiefe reagiert haben – allerdings unterschiedlich stark je nach der Topographie und der Geographie des Sedimentbeckens und dem Nährstoffangebot. Wenn man diese lokalen Gegebenheiten sorgfältig in Rechnung stellt, sind diese Mikroorganismen ausgezeichnete Indikatoren für Meeresspiegelschwankungen.
Mit der Anwendung dieser Metho-den nimmt unser Labor an der systematischen Entzifferung von Ablagerungssequenzen teil. Wir haben im Lias des Aquitanischen Beckens in 180 bis 200 Millionen Jahre alten Schichten 16 Sequenzen identifiziert, die innerhalb von 14 Millionen Jahren in einem Sediment von 200 Meter Dicke aufeinanderfolgen. In der Unteren Kreide (130 bis 100 Millionen Jahre vor heute) in Portugal haben wir 25 Sequenzen für einen Zeitraum von 23 Millionen Jahren und innerhalb einer Sedimentmächtigkeit von 350 Metern unterschieden (Bild Seite 32). In beiden Fällen ergibt sich für einen vollständigen Zyklus eine mittlere Dauer von ungefähr einer Million Jahre. Seine Spuren sind in einem Sediment von 10 bis 20 Meter Mächtigkeit aufgezeichnet. Der Unterschied zwischen dem höchsten und dem tiefsten Niveau eines Zyklus dürfte zwischen 10 und 50 Metern gelegen haben.
Die genannte Periode der Größenordnung 1 Million Jahre (wobei Werte zwischen 0,5 und 3 Millionen Jahren vorkommen) ist die am besten erkennbare, aber nicht die einzige. Sie gehört in eine Hierarchie von Perioden abnehmender Länge, und zwar an dritter Stelle. In der Tat findet man innerhalb dieser Sequenz in der Abfolge der Sedimentschichten weitere, kürzere Zyklen: solche vierter Ordnung mit einer Dauer von 100000 bis zu mehreren 100000 Jahren und einer Amplitude von weniger als 10 Metern sowie fünfter Ordnung mit einer Periode von weniger als 80000 Jahren und einer Amplitude im Meterbereich. Andererseits fügen sich die Sequenzen dritter Ordnung in übergeordnete ein: solche zweiter Ordnung mit einer Dauer von zehn bis zu einigen Dutzend Millionen Jahren und einer Amplitude von 50 bis 150 Metern und schließlich die erster Ordnung mit einer Dauer von mehr als 50 Millionen Jahren und einer Amplitude zwischen 200 und 350 Metern.
Sind die Meeresspiegelschwankungen, die in den Sedimenten dokumentiert sind, weltweit die gleichen? Sind sie auf regionale oder lokale Ursachen zurückzuführen, wie etwa Unregelmäßigkeiten der Ozeanoberfläche oder Verformungen wasserbedeckter Kontinentalplatten, oder muß man nach allgemeineren Erklärungen suchen?
Globale Ursachen
Zur Zeit wird eine systematische Bestandsaufnahme der Sequenzen dritter Ordnung für die letzten 250 Millionen Jahre weltweit in allen Sedimentbecken und an den Ozeanrändern durchgeführt. Diese Arbeit ist auf viele Jahre angelegt; aber bereits jetzt findet man in vielen Fällen für denselben Zeitraum die gleiche oder nahezu gleiche Anzahl von Sequenzen in verschiedenen Regionen der Erde. Für die Untere Kreide (etwa 134 bis 111 Millionen Jahre vor heute) haben wir in Portugal die genannten 25 Sequenzen erkannt, während in Südostfrankreich 26 identifiziert wurden. Die zwei Zyklen der Oberen Trias (vor etwa 215 bis 212 Millionen Jahren), die in den Alpen zu beobachten sind, wurden im Nordwesten Australiens wiedergefunden. Für Zeiträume, in denen die Gesteine gut datiert sind, wie den Jura, ergeben sich in den verschiedenen Sedimentbecken Frankreichs und Großbritanniens, wo die Gesteine reich an Ammoniten sind, überall Sequenzen gleichen Alters. Allem Anschein nach sind die Schwankungen des Meeresspiegels, die für die Anordnung der Sedimente im Maßstab von Jahrmillionen verantwortlich sind, globaler Natur.
Worauf sind sie zurückzuführen? Verbreitet sind zwei Erklärungen. Nach der ersten hat sich das Gesamtvolumen der ozeanischen Wassermassen durch mehr oder weniger starke Vereisung verändert. Diese Variation des Klimas wiederum sei durch periodische Schwankungen der Parameter der Erdumlaufbahn ausgelöst worden: die Neigung der Erdachse gegenüber der Ebene ihrer Umlaufbahn, die Präzession dieser Achse im Weltraum sowie die Exzentrizität ihrer elliptischen Umlaufbahn. Diese Theorie hat der jugoslawische Astronom Milutin Milankovi´c 1941 veröffentlicht (vergleiche "Der Mond und die Stabilität des Erdklimas" von Jacques Laskar, Spektrum der Wissenschaft, September 1993, Seite 48). Die sich daraus ergebenden Perioden von etwa 20000, 40000 und 100000 Jahren sind für das Quartär mit klimatischen Zyklen in Verbindung gebracht worden. Während der Vereisungsphasen ist das Wasser in den Polkappen und Gebirgsgletschern festgelegt, wodurch der globale Meeresspiegel sinkt. In den Zwischeneiszeiten findet der umgekehrte Prozeß statt. Diese Schwankungen sind mit 200 bis 250 Meter Höhenunterschied sehr groß und vergleichsweise rasch: Aus den genannten Perioden ergibt sich, daß der Meeresspiegel um bis zu einen Zentimeter pro Jahr steigt beziehungsweise sinkt. Ein derart heftiger Anstieg wird – allerdings wegen des menschlichen Einflusses auf den atmosphärischen Kohlendioxidgehalt – ebenso für die Gegenwart befürchtet (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1997, Seite 80).
Auch für ältere geologische Zeitabschnitte läßt sich der Einfluß der astronomischen Parameter nachweisen – mit etwas unterschiedlichen Periodenlängen während der letzten 250 Millionen Jahre. Wir wissen, daß es in der frühen Erdgeschichte Eiszeiten gegeben hat. Tiefseesedimente im Alter von 130 Millionen Jahren sind im Wechsel aus Kalk- und Mergelschichten aufgebaut. Dies wird allgemein auf eine Abfolge von kalten und warmen Phasen mit einer Periode von ungefähr 20000 Jahren zurückgeführt.
Wir haben jedoch keine Beweise für ähnlich einschneidende klimatische Ereignisse in anderen Zeitabschnitten, zum Beispiel im Erdmittelalter, obwohl in den Sedimenten Meeresspiegelschwankungen vergleichbarer Größenordnung dokumentiert sind. Außerdem sind die Perioden der Sequenzen dritter Ordnung weit länger als die der Zyklen von Milankovi´c. Vereisung und Schmelzen allein können diese Schwankungen im Maßstab von Jahrmillionen nicht erklären.
Die zweite Erklärung bezieht sich auf die Form der Ozeanböden. Ozeanische Kruste wird an den mittelozeanischen Rücken gebildet und breitet sich zu beiden Seiten hin aus. In dem Maße, wie sie sich abkühlt, nimmt ihre Dichte zu, und sie senkt sich (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1994, Seite 54). Dadurch ähneln die mittelozeanischen Rücken Gebirgsketten: Je weiter man sich von der Linie der Aufquellung entfernt, desto kühler und niedriger ist das Krustenmaterial. Da die Abkühlungsgeschwindigkeit und damit die Senkung dieser Vorgebirge lediglich von der Zeit abhängt, sind die mittelozeanischen Rücken um so breiter, je rascher der Ozean sich ausdehnt. Bei konstanter Wassermenge in den Weltmeeren steigt der Meeresspiegel, wenn bei rascher Ausdehnung der Zuwachs an ozeanischer Kruste den Volumenverlust durch Abkühlung übertrifft, und sinkt im umgekehrten Fall. Die dadurch verursachten langfristigen Meeresspiegelschwankungen spielen sich in Zeiträumen von einigen Dutzend Jahrmillionen mit großen Amplituden bis zu 350 Meter und mittleren Geschwindigkeiten von 4 Zentimeter pro 10000 Jahre ab. Dieses Phänomen muß also eine entscheidende Rolle für die langfristigen Zyklen erster und zweiter Ordnung spielen.
Keine dieser Ursachen kann jedoch, für sich genommen, die Zyklen dritter Ordnung mit Perioden von Jahrmillionen erklären. Nur die Gesamtheit der internen und externen Dynamik unseres Planeten kann da weiterhelfen. Die Mechanismen dieses Systems sind komplex und voneinander abhängig: Das Klima steht unter dem Einfluß äußerer (astronomischer) wie innerer Faktoren. Die durch Plattentektonik entstandene Erdoberfläche beeinflußt entscheidend das Klima, das durch Erosion auf sie zurückwirkt. Die klimatischen Veränderungen führen zu Meeresspiegelschwankungen; Transgression und Regression wiederum wirken sich auf das Klima aus, indem sie die Verteilung von Land und Meer verändern. Durch Sedimentablagerung sinkt der Meeresboden, was die Ablagerung weiterer Sedimente begünstigt.
Alles in allem weisen die aus Sedimenten abzulesenden Meeresspiegelschwankungen die typischen Eigenschaften chaotischer Systeme im Sinne der Mathematik und der Physik auf (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1987, Seite 78): quasiperiodische Wiederholungen; eine Hierarchie von Phänomenen in verschiedenen (hier zeitlichen) Größenordnungen; langes Verharren in fast stabilen Zuständen (niedriger und hoher Meeresspiegel) mit gelegentlich plötzlichem Wechsel zwischen ihnen (punktuiertes Gleichgewicht); empfindliche Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen und sonstigen Daten.
Für die Veränderungen in der Zusammensetzung der Foraminiferen-Populationen (die ihrerseits, wie beschrieben, ein Indikator für Meeresspiegelschwankungen sind) sind diese Eigenschaften chaotischer Systeme sogar nachweisbar. Gemeinsam mit Louis Bonnet von der Universität Paul Sabatier in Toulouse konnten wir zeigen, daß der Meeresspiegel vor 185 Millionen Jahren den größten Teil der Zeit geringfügig um einen von zwei Zuständen schwankte und in einer beschleunigten Regression rasch vom hohen auf den niedrigen Wert absank (Bild Seite 31 unten).
Es wäre müßig, eine einzige Ursache für die Meeresspiegelschwankungen zu suchen, geschweige denn für ihre in den Sedimentgesteinen abzulesenden Folgen. In dem dynamischen System, das den globalen Meeresspiegel bestimmt, kann eine sehr kleine Veränderung einer Variablen große und nicht vorhersagbare Folgen haben. Je nach der Beschaffenheit der Becken und den örtlichen Bedingungen der Sedimentation und der Topographie haben sich diese Folgen mehr oder minder deutlich in Form und Zusammensetzung der Sedimente abgezeichnet.
Die Schwankungen des Meeresspiegels, die in verschiedenen zeitlichen Größenordnungen die Erdgeschichte rhythmisch gliedern, hängen eng mit der Oberflächengestalt an Land und dem Klima zusammen. Zu niedrigen Wasserständen gehören relativ kalte, zu hohen wärmere Klimate. Man erschließt die Wassertemperaturen der Vergangenheit aus dem Häufigkeitsverhältnis der zwei Sauerstoffisotope O18 und O16 (deren Atomkern 12 beziehungsweise 10 Neutronen zusätzlich zu den 8 Protonen enthält) im Calciumcarbonat mariner Fossilien: Dieses Verhältnis ist um so niedriger, je wärmer das Wasser ist. Die Häufigkeitsbestimmungen haben den Zusammenhang zwischen der Wassertemperatur und den Zyklen zweiter sowie – in den wenigen bisher untersuchten Fällen – dritter Ordnung bestätigt.
Aus unseren Befunden glauben wir schließen zu können, daß über die astronomisch begründeten Klimazyklen mit Perioden zwischen 20000 und 100000 Jahren hinaus nicht-periodische Klimaschwankungen längerer Dauer im Bereich von einer bis zu zehn Millionen Jahren existieren müssen, die aus der Wechselwirkung astronomischer Faktoren und der inneren Dynamik der Erde resultieren.
Durch die Vermehrung von Plankton in den warmen und ausgedehnten Meeren zu Zeiten des Wasserspiegelanstiegs entstanden große Mengen organischen Materials. Zur gleichen Zeit lagerten sich feinkörnige, sauerstoffarme Sedimente ab, was die Erhaltung dieses Materials begünstigte. Während der – normalen oder beschleunigten – Regressionen häuften sich lokal sandige Ablagerungen an. Sie verfestigten sich zu porösem Sandstein, in dem das inzwischen zu Kohlenwasserstoffen zersetzte organische Material zirkulieren und sich ansammeln konnte. Lage, Struktur und Alter von Erdöllagerstätten samt umgebendem Gestein sind also letztendlich durch die Meeresspiegelschwankungen bedingt.
Die großen Erdölgesellschaften verfolgen daher unsere Forschungen besonders aufmerksam. Modelle für die Entstehung von Ablagerungssequenzen dritter Ordnung und die Bestandsaufnahme aller dieser Sequenzen in den großen Sedimentbecken helfen Erdölvorkommen ausfindig zu machen und die wirtschaftliche Ausbeute zu verbessern.
Man findet übrigens weitere biologische Veränderungen – außer in der Vermehrungsrate bei Foraminiferen – im Rhythmus der Sequenzen dritter Ordnung. So wurden kürzlich vergleichbare Phänomene bei sehr viel höher entwickelten Organismen wie den Cephalopoden (Gruppe der Kraken und Tintenfische) entdeckt.
Schließlich haben die klimatischen Veränderungen, die mit Schwankungen der Mächtigkeit der Wasserschicht und dem relativen Flächenanteil von Land und Meer einhergehen, wichtige ökologische Folgen. Durch ein rasches Sinken des Meeresspiegels werden manche Meeresteile zu Binnenseen, der Nährstoffeintrag kontinentaler Herkunft nimmt zu, und die Wassertiefe sinkt ab. In der Küstenzone sind die Meeresböden lichtdurchfluteter und unruhiger. Dagegen entstehen durch Meeresspiegelanstieg in transgressiven Phasen Verbindungen zwischen Meeren, der Verlauf von Strömungen verändert sich, der Eintrag von Nährstoffen vom Land nimmt ab, und die Wasserschicht zwischen der Oberfläche und den – schattigeren und ruhigeren – Meeresböden wird dicker. Durch Stress-Effekte, erzwungene Anpassungen an neue ökologische Nischen und Wanderungen von Populationen haben also die Schwankungen des Meeresspiegels auch eine Rolle in der Evolution des Lebens gespielt
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1999, Seite 26
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