Schwarzhandel mit radioaktivem Material - zwischen Kleinkriminalität und Nuklearterrorismus
Befürchtungen, Kernwaffen aus dem ehemals sowjetischen Arsenal oder wichtige Komponenten davon könnten in unbefugte Hände geraten, scheinen sich durch die aufgedeckten Fälle von Nuklearschmuggel zu bestätigen. Freilich sind nur wenige der bisher beschlagnahmten Materialien von sicherheitspolitischer Relevanz.
Vor dem Hintergrund politischer und wirtschaftlicher Destabilisierung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion belastet das nukleare Erbe des Kalten Krieges die internationale Sicherheit besonders schwer: Noch immer befinden sich Kernsprengköpfe außerhalb Rußlands, und nuklearwaffentaugliche Materialien sind in teils schlecht bewachten Arsenalen, in Kernkraftwerken und sogar in metallverarbeitenden Fabriken oder physikalisch-technischen Instituten gelagert. Die mehrere tausend Beschäftigten der Kernwaffenlabors und Produktionsstätten sind von steigender Arbeitslosigkeit und sinkendem Lebensstandard genauso betroffen wie andere Bürger dieser Länder auch. Das Risiko, daß Nuklearmaterial entwendet wird oder Kernwaffenexperten in Staaten abwandern, die sich ihrer Fachkenntnis bedienen wollen, ist groß. Läßt sich dieser Komplex in den Griff bekommen und die Verbreitung von Kernwaffen und ihrer Komponenten verhindern?
Einzelne, eher harmlose Fälle von Nuklearschmuggel hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Seit die Grenzen zwischen Ost- und Westeuropa weitgehend offen sind, haben entsprechende Aktivitäten jedoch in erschreckendem Maße zugenommen. Wurden im Jahre 1990 nur vier Versuche des illegalen Handels mit Nuklearmaterial bekannt, waren es in den letzten drei Jahren jeweils weit mehr als hundert. Zumeist boten dabei Händler waffentaugliches Uran oder Plutonium an; wie sich herausstellte, waren aber alle derartigen Offerten in betrügerischer Absicht fingiert – geliefert wurde anschließend nichts oder nur nicht-waffentaugliches Material.
Selbst die radioaktiven Substanzen, die bis Anfang 1994 bei verschiedenen Aktionen innerhalb Deutschlands oder an den Grenzen sichergestellt werden konnten, erwiesen sich als nicht militärisch relevant. Im einzelnen wurden beschlagnahmt:
- Natur- oder schwach angereichertes Uran in Tabletten- oder Pulverform, wie es für die Fertigung von Brennelementen für Kernkraftwerke typisch ist;
- Ionisationsquellen und Metallscheiben mit wenigen Milligramm Plutonium, wie sie in Rauchmeldern russischer Herkunft beziehungsweise in Prüfstrahlern zum Kalibrieren von Meßgeräten verwendet werden;
- Cäsium-137-Quellen aus Beständen der ehemaligen sowjetischen Armee, die bei Dekontaminationsexperimenten und -übungen eingesetzt wurden;
- Strahlungsquellen mit Cobalt-60, Strontium-90 oder Californium-252, wie sie in medizinischen Geräten oder wissenschaftlichen Experimenten verwendet werden.
Wenngleich manche dieser Substanzen aus militärischen Quellen stammen dürften, sind sie doch nicht dem eigentlichen Kernwaffenbereich zuzuordnen. Ihr Auftauchen auf dem Schwarzmarkt erlaubt demnach noch keine Rückschlüsse auf einen möglichen Handel mit waffentauglichem Nuklearmaterial. Wohl aber können sie wegen ihrer teils erheblichen Radioaktivität bei unsachgemäßer Handhabung die Gesundheit von Personen (hauptsächlich der Schmuggler selbst) bedrohen. Zudem ist nicht auszuschließen, daß kriminelle Organisationen oder Terroristen mit solchen Substanzen – ähnlich wie mit Giften und Sprengstoffen – durch Androhen einer Umweltverseuchung Erpressungsversuche unternehmen werden.
Mit dem Fund einer nicht unerheblichen Plutoniummenge im Mai 1994 nahm der Nuklearschmuggel jedoch eine völlig neue Dimension an. Erstmals war nuklearwaffentaugliches Material für jedermann zugänglich. Doch welche Substanzen sind unter diesem Begriff einzuordnen?
Proliferationsgefahren durch kernwaffentaugliche Materialien
Jeder Kernsprengkörper enthält mehrere Kilogramm spaltbaren Materials einer bestimmten Isotopenzusammensetzung. Wird dazu Uran verwendet, muß es zu mindestens 80 Prozent aus dem Isotop Uran-235 bestehen. Weil dieses in natürlichem Uran nur zu 0,7 Prozent enthalten ist (der Rest ist nicht spaltbares Uran-238 mit Spuren von Uran-234), muß es in einem aufwendigen und technologisch anspruchsvollen Prozeß entsprechend angereichert werden. Im Gegensatz zu solchem hochangereicherten Uran (highly enriched uranium, HEU) enthält das schwach angereicherte, das in Brennstäben für Kernkraftwerke verwendet wird, maximal drei Prozent Uran-235 und ist darum nicht waffentauglich.
Auch das künstliche Element Plutonium wird als Spaltmaterial eingesetzt. Es entsteht in Kernreaktoren zusammen mit verschiedenen anderen radioaktiven Produkten und kann mit chemischen Verfahren aus den Brennelementen extrahiert werden. Je nach Reaktortyp und Brenndauer variieren die Anteile der gebildeten Plutoniumisotope. Für militärische Zwecke wird zwar versucht, den Anteil von Pu-239 zu maximieren, doch sind im Prinzip auch fast alle anderen Isotopengemische waffentauglich.
Hochangereichertes Uran und Plutonium werden auch außerhalb der Waffentechnik eingesetzt, was die Anzahl der Quellen, aus denen sich diese Substanzen eventuell abzweigen ließen, erhöht. So setzen einige Staaten – darunter Rußland – HEU für den Antrieb von Atom-U-Booten ein. Zudem dient es in manchen zivilen Forschungsreaktoren als Brennstoff.
Wegen der damit verbundenen Proliferationsgefahr wurden weltweit mit ziemlichem Erfolg große Anstrengungen unternommen, in solchen Anlagen einen weniger brisanten Brennstoff einzusetzen. Einige Industrieländer verwenden des weiteren Plutonium in Form von Mischoxid-Brennelementen (MOX) in Leichtwasserreaktoren oder in der Brütertechnologie. Alle derartigen Betriebs- und Produktionsstätten stellen deshalb mögliche Quellen für geschmuggelte Materialien dar.
Brisante Funde
Erste nennenswerte Mengen kernwaffentauglichen Materials entdeckte man in einem 56,4 Gramm schweren Elementegemisch, das am 10. Mai 1994 im süddeutschen Tengen sichergestellt wurde; es bestand – wie spätere Analysen ergaben – zu zehn Prozent aus Plutonium. Dessen Isotopenzusammensetzung erstaunte, denn es gibt keinen Reaktor, der eine solche Mischung hätte produzieren können. Der Anteil von Plutonium-239 erwies sich als extrem hoch, andere Isotope fehlten weitgehend. Eine derart hohe Konzentration konnte nur durch einen Anreicherungsprozeß erzielt worden sein – einen für dieses Spaltmaterial völlig unüblichen und technisch sehr aufwendigen Vorgang, der zudem für die Anwendung in Kernsprengkörpern nicht erforderlich wäre. Offenbar war dieses Material für Forschungszwecke vorgesehen und ist vermutlich nicht in größeren Mengen hergestellt worden; aber etwa 20 Kernforschungsinstitute in Osteuropa hatten Proben dieser Substanz erhalten.
Einen Monat später, am 13. Juni 1994, stellten die Behörden in Landshut 0,795 Gramm Uranpulver (gesintertes Urandioxid) mit einer Anreicherung von 87,8 Prozent sicher – der erste Fund von HEU überhaupt, wenn auch in einer für Waffenzwecke nicht ausreichenden Menge. Ein Vielfaches davon, nämlich drei Kilogramm, mit demselben Anreicherungsgrad wurde im Dezember 1994 in Prag beschlagnahmt. Eine mögliche Quelle könnte die Produktion von Brennstoffen für U-Boot-Reaktoren sein.
Den dritten Fall von Schmuggel militärisch relevanten Nuklearmaterials in Deutschland, der ein starkes Presse-Echo und heftige Diskussionen auslöste, deckte man am 13. August 1994 auf dem Flughafen München auf: 560,25 Gramm MOX mit einem Plutonium-Anteil von 360,12 Gramm – die größte Menge dieses Materials, die bisher in Händen Unbefugter gefunden wurde. Aber nicht nur dieser hohe Plutonium-Gehalt ist ungewöhnlich, sondern auch die Isotopenzusammensetzung: Der Anteil an Plutonium-239 ist höher als in zivil genutztem Reaktorplutonium, aber geringer als in Waffenplutonium. Es könnte sich um Brennstoff für den Prototyp eines Schnellen Brüters handeln.
Zwar läßt sich bei keinem der Funde belegen, daß er aus dem militärischen Nuklearkomplex Rußlands stammt. Dennoch stellt auch die Abzweigung waffentauglichen Materials aus dem zivilen oder konventionell militärischen Bereich ein erhebliches Proliferationsrisiko dar. Sollte einer der Staaten, die bekanntermaßen den Besitz von Kernwaffen anstreben, dieser Materialien habhaft werden, könnte er den Bau einer Bombe erheblich schneller bewerkstelligen.
Geheimnisvoller Stoff red mercury
Bedingt durch die Brisanz dieser Fälle berichteten die Medien auch über andere Funde in jener Zeit sehr ausführlich; sie gehören jedoch alle in die eingangs beschriebene Kategorie der nicht proliferationsrelevanten Schmuggelversuche.
Eine besondere Rolle nimmt dabei eine merkwürdige Substanz ein, die red mercury (rotes Quecksilber) genannt wird. Russische Forscher hätten bereits, so hieß es, mit diesem Stoff Miniaturkernwaffen in der Größe eines Bierglases gebaut; und weil er jetzt schon überall geschmuggelt würde, seien Terroristen bald imstande, damit ganze Städte in die Luft zu sprengen.
Die angeblichen chemischen und kernphysikalischen Eigenschaften dieser Substanz – sowohl als energiereicher Explosivstoff als auch als hervorragender Neutronenreflektor – halten jedoch einer wissenschaftlichen Betrachtung nicht stand. Selbst wenn es einen Stoff mit derartigen Qualitäten gäbe, wäre der Bau von Kernsprengkörpern dadurch nicht einfacher, denn als Grundkomponente wären noch immer spaltbares Plutonium oder HEU erforderlich; auch an dem technischen Aufwand für die Zündtechnik würde sich nichts ändern.
Aus Beimischungen von Quecksilberverbindungen in einigen der Schmuggelfunden der letzten Jahre schlossen manche Berichterstatter tatsächlich auf die Existenz von red mercury; in Wahrheit handelte es sich ausnahmslos um Substanzen, die jedermann preiswert erwerben kann – zum Beispiel als Rostschutzfarbe, auch roter Zinnober genannt.
Verhindern der Proliferation
Es stellt sich die Frage, ob es außer dem Anbieter- auch einen Abnehmermarkt für waffenfähige Nuklearmaterialien gibt. Die fünf sogenannten etablierten Kernwaffenstaaten – USA, Rußland, China, Frankreich und Großbritannien – scheiden als potentielle Käufer aus. (Allerdings haben die USA im November 1994 mehrere hundert Kilogramm HEU aus Kasachstan ausgeflogen, um zu verhindern, daß es aus dem kaum bewachten Lager entwendet wird.) Auch Israel, Indien und Pakistan, die nach allgemeiner Überzeugung ebenfalls Kernwaffen besitzen, haben eigene Produktionskapazitäten für Plutonium oder HEU in ausreichender Menge und sind deshalb auf Methoden wie Nuklearschmuggel nicht angewiesen.
Anders der Irak, dessen fortgeschrittenes Kernwaffenprogramm nach Ende des Golfkriegs aufgedeckt wurde, sowie Nordkorea und der Iran, der angeblich ebenfalls eine Option auf nukleare Waffen anstrebt. Allerdings ist es unwahrscheinlich, daß sich diese Staaten gerade zum jetzigen Zeitpunkt auf dem Schwarzmarkt waffenfähiges Material zu verschaffen suchen, weil sie bei einem Bekanntwerden solcher Aktionen um wirtschaftliche, technologische und politische Vorhaben fürchten müßten: Nordkorea möchte aus den USA zivile Nukleartechnologie im Wert von mehreren Milliarden Dollar beziehen, als Gegenleistung dafür, daß es seine bisherigen kernwaffenrelevanten Aktivitäten aufgibt; der Irak sucht eine Aufhebung der UNO-Sanktionen zu erreichen, und der Iran ist bestrebt, wegen eines Lieferboykotts von ziviler Nukleartechnologie seine Verläßlichkeit bei der Nichtverbreitung zu demonstrieren.
Es ist jedoch prinzipiell nicht auszuschließen, daß andere Staaten sich des Nuklearschmuggels bedienen, wenngleich es bisher noch keine konkreten Hinweise darauf gegeben hat. Ein solcher Kernwaffenaspirant könnte durchaus versuchen, sich Zugang zu den Beständen in der ehemaligen Sowjetunion zu verschaffen – am ehesten wohl in einer der zehn bis heute geschlossenen Städte, in denen die Forschungs- und Produktionsanlagen des russischen militärischen Nuklearkomplexes stehen (Bild).
Ob sich – wie befürchtet – dort tatsächlich eine Art Mafia organisiert, die auf professionelle Weise und in großem Stil nukleare Materialien bis zu den Endabnehmern schmuggelt, hängt nicht zuletzt von der sozialen Situation der Beschäftigten in diesen Anlagen ab. Hier sind Auflösungstendenzen und einschneidende Veränderungen nicht mehr zu übersehen.
Befürchtet wird auch die Gefahr einer Abwanderung von Experten, die mit ihrem Wissen substantielle Beiträge zu einem Kernwaffenprojekt leisten könnten. Der in Frage kommende Kreis umfaßt vermutlich etwa 10000 bis 15000 Mitarbeiter. Dazu zählen aber auch Fachleute zu Teilaspekten wie etwa Anreicherung, wie es sie in verschiedenen industrialisierten Nicht-Kernwaffenstaaten wie Deutschland gleichfalls gibt. Etwa 2000 Mitarbeiter dürften über spezielle Kenntnisse verfügen, die sich direkt auf Konstruktion und Funktionsweise von Kernwaffen beziehen.
Um den betreffenden Wissenschaftlern und Ingenieuren aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Anreize zu bieten, ihre Fähigkeiten im eigenen Land für friedliche Zwecke einzusetzen, sind bereits verschiedene Programme mit finanzieller Unterstützung westlicher Länder angelaufen. So wurde Ende 1992 nach langen Verhandlungen das Internationale Technologiezentrum in Moskau gegründet, das als Anlauf- und Vermittlungsstelle für Projekte angewandter Forschung aus den Bereichen Umweltschutz, Energieproduktion und Sicherheit kerntechnischer Anlagen dient. An der Finanzierung sind im wesentlichen die Europäische Union, die USA und Japan mit insgesamt rund 80 Millionen Dollar beteiligt.
Eine weitere Maßnahme ist unter dem Begriff "Nunn-Lugar-Geld", benannt nach zwei amerikanischen Senatoren, bekannt geworden. Sie ist als Unterstützung für die Demontage der russischen Kernwaffen gedacht. Allerdings ist dieser Prozeß dadurch komplizierter geworden, daß die USA von Rußland mehr Transparenz gefordert haben, als sie selbst bei der Demontage ihrer Sprengköpfe zuzugestehen bereit waren. Hier ist inzwischen aber ein Umdenken erkennbar. Weil der Gang durch die bürokratischen Instanzen der USA so lange gedauert hat, ist ein Teil der Gelder bereits verfallen.
In Rußland steht man diesen Programmen zum Teil skeptisch bis mißtrauisch gegenüber: Viele befürchten, daß nur das wertvolle Wissen der russischen Wissenschaftler ausspioniert werden solle, das Geld aber vor allem für die westliche Industrie bestimmt sei.
Einen anderen Ansatz verfolgt die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom), die ein Trainingszentrum für Inspektoren und Bedienungspersonal in Rußland selbst einrichtet sowie Seminare und Gastaufenthalte in ihrer Zentrale in Brüssel organisiert. Dadurch soll ein Materialbilanzsystem nach ähnlichen Standards wie bei Euratom geschaffen werden.
Langfristig gilt es, auch in den Kernwaffenstaaten internationale Kontrollen (sogenannte Safeguards) für Plutonium und Uran einzuführen, wie sie bereits seit langem in den Nicht-Kernwaffenstaaten stattfinden. Wenngleich damit die Abzweigung so kleiner Mengen, wie sie in den jüngsten Schmuggelfällen aufgetaucht sind, nicht festgestellt werden könnte, hätten sie doch eine Disziplinierung und auch eine nationale und zentrale Erfassung aller Bestände zur Folge, wie es sie in Rußland zur Zeit noch nicht gibt. Auch das militärische Spaltmaterial müßte diesen internationalen Kontrollen unterworfen sein. Bis es so weit ist, sind zwar noch viele anstrengende Verhandlungen zu führen – aber unrealistisch ist diese Idee unter den heutigen Umständen nicht mehr.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1995, Seite 116
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