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Schweißte Wasserstoff den ersten Eukaryoten zusammen?

Der Ursprung der Zellen mit echtem Kern (Eukaryoten) ist ein ungelöstes Rätsel. Neuere Erkenntnisse zum Energiestoffwechsel bestimmter urtümlicher Einzeller, die ohne Sauerstoff auskommen und in speziellen Organellen Wasserstoff produzieren, beleuchten das Problem aus einer neuen, ökophysiologischen Sicht.

Nach der Endosymbionten-Hypothese waren Mitochondrien und Chloroplasten – die "Kraftwerke" und "Solarzellen" der Eukaryoten – einst freilebende Organismen, die irgendwann in der Urzeit von einer Wirtszelle aufgenommen und nach einer Phase stabiler Symbiose versklavt wurden. In unterschiedlichen Formulierungen läßt sich diese Theorie bis ins letzte Jahrhundert zurückverfolgen. War sie bis vor 20 Jahren noch heftig umstritten, so zweifelt seit der Entdeckung, daß die beiden Organellen über Reste eigenen bakteriellen Erbmaterials verfügen, praktisch niemand mehr daran. Aber was war die Wirtszelle?
Nach verbreiteter Annahme handelte es sich um einen primitiven Eukaryoten. Und woher kam dieser? Bisher konnte niemand eine schlüssige Antwort geben. In fossiler Form sind die Eukaryoten erst seit 1,4 Milliarden Jahren dokumentiert, während es die kernlosen Prokaryoten seit mindestens 3,5 Milliarden Jahren gibt. Deshalb nimmt man an, daß die ersteren aus den letzteren hervorgegangen sind; doch sind beide grundlegend anders organisiert, und man kennt keine plausiblen Übergangsformen. Eukaryoten und Prokaryoten trennt eine tiefe stammesgeschichtliche Kluft, die durch nichts überbrückt wird – weder unter heute lebenden noch unter fossilen Formen.
In dieser Situation haben wir erforscht, ob vielleicht der Energiestoffwechsel Hinweise auf die Abstammung der Eukaryoten geben könnte ("Nature", Band 392, Seiten 37 bis 41, 5. März 1998). Er dient der Synthese von Adenosintriphosphat (ATP), einer Art universeller "Energiewährung" sämtlicher Zellen. Bei den meisten Eukaryoten läuft dieser Vorgang in den Mitochondrien ab, und zwar mittels Sauerstoff-Atmung, also aerob (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1997, Seiten 70 bis 80). Da der Ur-Eukaryot noch keine solchen Organellen besaß, soll er nach der modernen Fassung der Endosymbionten-Theorie seinen Energiehaushalt so bestritten haben wie einige heutige Eukaryoten, die auch keine Mitochondrien enthalten: durch anaerobe Gärung (Fermentation) – den Teilabbau von Glucose zu Essigsäure oder Ethylalkohol.
Was die ATP-Bildung betrifft, ist die Gärung aber sehr ineffizient: Sie liefert pro Molekül Glucose nur zwei bis vier Moleküle ATP, die Sauerstoff-Atmung dagegen bis zu 38. Gemäß der Endosymbionten-Hypothese scheint der Ablauf somit völlig logisch: Ein anaerober, fermentierender Eukaryot nahm ein Bakterium auf, das imstande war, Glucose mit Hilfe der Atmung abzubauen; der Symbiont – nach allgemeiner Ansicht ein sogenanntes a-Proteobakterium – garantierte eine stark erhöhte ATP-Ausbeute und wurde deshalb als nützliches "Haustier" behalten.
Möglicherweise lagen die Dinge aber doch nicht ganz so einfach. Darauf deutet zum Beispiel hin, daß viele a-Proteobakterien, wenn kein Sauerstoff vorhanden ist, von der Atmung auf die Gärung umschalten können: Sie sind fakultativ anaerob. Die Fermentation läuft dann sehr ähnlich ab wie in ungewöhnlichen Organellen, die einer von uns (Müller) schon vor 25 Jahren bei einer Reihe von anaerob lebenden Eukaryoten entdeckt hat: Hydrogenosomen. Sie sind wie die Mitochondrien von zwei Membranen umgeben und bilden gleichfalls ATP für die Zelle, aber nur mit sehr viel geringerer Ausbeute. Aus Brenztraubensäure, dem Produkt der Glucosespaltung (Glykolyse), erzeugen sie Wasserstoff (H2), Kohlendioxid (CO2) und Essigsäure und gewinnen dabei gerade soviel Energie, wie für die Synthese eines ATP-Moleküls reicht.
Nach neueren Erkenntnissen scheinen Hydrogenosomen und Mitochondrien von demselben Proteobakterium abzustammen. So enthalten sie teils identische Proteine; außerdem sind in einigen Gruppen von Eukaryoten – Pilzen und Wimperntierchen – hydrogenosomen-haltige Arten ohne Mitochondrien aus mitochondrien-haltigen hervorgegangen. Wenn heutige a-Proteobakterien notfalls ohne Sauerstoff leben können, dürfte der gemeinsame Vorfahr der beiden Organellen ebenfalls fakultativ anaerob gewesen sein. In diesem Falle müßte der ursprüngliche Vorteil der Mitochondrien für den Wirt nicht unbedingt in der Atmung bestanden haben.
Vor dem Hintergrund dieser Idee haben wir den ökologischen Kontext der Symbiose, aus der die Kraftwerke der Eukaryoten hervorgingen, neu durchdacht. Könnten die Mitochondrien vielleicht unter anaeroben statt aeroben Bedingungen entstanden sein? Das große Problem bei diesem Szenario ist, daß der Symbiont ein ebenso ineffizienter Fermentierer gewesen wäre wie der Wirt, so daß keiner von beiden dem anderen einen Vorteil gebracht hätte. Wieso sollten zwei anaerobe Zellen eine symbiontische Gemeinschaft bilden?
Eine mögliche Antwort, die bei genauerer Betrachtung sogar ausgesprochen plausibel ist, liefert ein Stoffwechselprodukt der Hydrogenosomen: molekularer Wasserstoff. Viele Urtierchen, die über diese Organellen, aber nicht über Mitochondrien verfügen, beherbergen symbiontisch wachsende Prokaryoten, die sich ausschließlich von den Stoffwechselprodukten der Hydrogenosomen ernähren. Dabei handelt es sich um methan-bildende (methanogene) Archaea (die früher den Bakterien zugerechnet wurden, inzwischen aber als eigenes Organismenreich gelten). Sie schmiegen sich oft eng an die Hydrogenosomen an, um möglichst viel Nahrung von ihnen zu erhalten (Bild 1).
Die Methanbildner haben vielerlei Verwendung für die Abfallprodukte der Hydrogenosomen. Wasserstoff und Kohlendioxid setzen sie einerseits zu Methan und Wasser um und nutzen das Energiegefälle dieser Reaktion zur Synthese von ATP; andererseits können sie daraus aber auch Acetyl-Coenzym A – ein universelles Zwischenprodukt des Zuckerstoffwechsels – bilden, um den Bedarf der Zelle an Kohlenhydraten zu decken. Die Essigsäure schließlich schleusen sie in beide Stoffwechselwege ein. Diese Art des Zusammenlebens in mikrobiellen Gesellschaften, bei der eine Art von den Abfallprodukten der anderen lebt, nennt man Syntrophie ("Zusammenessen").
Wäre eine solche Assoziation ein mögliches Modell für den Ursprung der Mitochondrien? Betrachten wir ein fakultativ anaerobes a-Proteobakterium als Symbionten und einen Methanbildner als Wirt. Letzterer müßte ursprünglich in der Nähe einer geologischen Wasserstoffquelle gelebt haben, die ihm als Nahrung diente. Nach dem Zusammentreffen mit dem a-Proteobakterium hätte er auch von diesem den benötigten Wasserstoff beziehen können, wäre dadurch aber strikt von seinem Partner abhängig gewesen, sobald das Paar von der Quelle wegdriftete (Bild 2 oben). Er stand daher unter einem hohen Selektionsdruck, den Symbionten fest an sich zu binden, um ihn nicht entkommen zu lassen, und seine Stoffwechselprodukte möglichst vollständig aufzunehmen (Bild 2 Mitte). Was lag also näher, als das a-Proteobakterium zu umschließen?
Die totale Vereinnahmung wäre jedoch fatal gewesen – hätte der Wirt seinen Ernährer doch dadurch von der Umwelt und damit von der Zufuhr vergärbarer Substrate abgeschnitten. Methanbildner vermögen solche Substanzen nämlich nicht aufzunehmen; a-Proteobakterien verfügen dagegen über die entsprechenden Membranproteine (Importer). Wenn nun aber im Laufe der stabilen Symbiose die Gene für die Importer und für die ATP-liefernden Schritte der Zuckerspaltung vom Symbionten auf den Wirt übergegangen wären, so hätte dieser seinen Gast mit Substrat (und somit sich selbst mit Wasserstoff) versorgen können. Tatsächlich weiß man, daß Erbmaterial von Mitochondrien und Chloroplasten auf den Zellkern transferiert wurde.
Diese Übertragung hat allerdings einen kuriosen Nebeneffekt. Nun, da der Wirt sich das Bakterium gesichert hat, ist er auf dessen Wasserstoff gar nicht mehr angewiesen. Durch die Übernahme der Gene für die Glykolyse vermag er auf einmal seinen Zucker- und ATP-Bedarf selbst zu decken. Die von Wasserstoff abhängigen Teile seines Stoffwechsels sind überflüssig geworden und können verlorengehen; der Wasserstoff würde als Abfallprodukt schlicht ausgeschieden. Die beiden Etappen des Energiestoffwechsels fänden aber jetzt in verschiedenen, durch Membranen voneinander abgegrenzten Bezirken der Zelle statt: die Glykolyse im Zellsaft (Cytosol) des Methanbildners und die weitere Fermentation der dabei gebildeten Brenztraubensäure im a-Proteobakterium (Bild 2 unten).
Die resultierende Zelle ist aus zwei sehr unterschiedlichen Prokaryoten hervorgegangen und hat Komponenten von beiden behalten. Sie besitzt den Energie-Stoffwechsel der Bakterien und den genetischen Apparat der Archaea, was weitestgehend mit den Erkenntnissen aus der Genstammbaum-Analyse bei Eukaryoten im Einklang steht. Vor allem aber ist der Energiestoffwechsel dieser hypothetischen Zelle genauso in Kompartimente aufgeteilt wie bei den heutigen Eukaryoten. Bleibt diese Zelle in anaeroben Nischen, wird der Symbiont zu einem Hydrogenosom; in sauerstoffhaltigen Lebensräumen entwickelt er sich dagegen zu einem Mitochondrium.
In dieser physiologisch begründeten Arbeitshypothese zur Entstehung der Eukaryoten steht die Abhängigkeit der Wirtszelle von Wasserstoff im Vordergrund (Methanbildung ist dabei nur ein denkbares Modell). Sie beleuchtet ein altes Rätsel aus einem völlig neuen Blickwinkel. Daher regt sie zu vielen Experimenten an, welche sie bestätigen oder widerlegen könnten (eine sehr wichtige Aufgabe von Hypothesen). Aber ob es sich beim Ursprung der Eukaryoten in etwa so zugetragen haben könnte oder nicht, wird man leider niemals mit Sicherheit wissen – schließlich war kein Wissenschaftler da, um zu beobachten, was wirklich geschah.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1998, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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