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Schwere Beben nach langer seismischer Stille

Nach neuesten Erkenntnissen ist die Gefahr einer verheerenden seismischen Erschütterung im Küstenstreifen zwischen Nordkalifornien und Britisch Kolumbien viel größer als bisher angenommen.

Kaum jemand bezweifelt, daß Los Angeles oder San Francisco je- derzeit von einem katastrophalen Erdbeben betroffen werden könnte. Auch Alaska ist mehrfach schwer erschüttert worden, so 1964 von einem der stärksten Beben weltweit in diesem Jahrhundert (Bild 2). Doch der Bereich dazwischen, vom Nordrand Kaliforniens bis zum Süden der kanadischen Provinz Britisch Kolumbien, galt bis vor kurzem als relativ sicher. Zwar ereigneten sich ziemlich schwere Erdbeben 1946, 1949 und 1965 auch in dieser sogenannten Kaskadenregion; doch die beiden größten Städte – Vancouver und Seattle – sind niemals zerstört worden.

Die Einschätzung des Risikos mußte seither jedoch grundlegend revidiert werden. Schon vor zehn Jahren warnten Thomas H. Heaton und Garry C. Rogers vom Geologischen Dienst der USA beziehungsweise Kanadas, die längeren Ruhephasen in diesem Küstenstreifen könnten trügerisch sein. Und mittlerweile haben die meisten Skeptiker eingesehen, daß dort vernichtende Erdbeben nicht nur in der Vergangenheit vorgekommen sind, sondern auch wieder auftreten werden.

In den dreißiger Jahren hatten der aus Darmstadt stammende Beno Gutenberg (1889 bis 1960), seit 1930 Leiter des seismologischen Laboratoriums am California Institute of Technology in Pasadena, und sein amerikanischer Kollege Charles F. Richter (1900 bis 1985) gezeigt, daß in den meisten aktiven Verwerfungszonen eine systematische Beziehung besteht, wonach Erdbeben um so seltener auftreten, je stärker sie sind. Das gilt bis zu einer maximalen Intensität, die dem Bruch der gesamten Verwerfungszone von einem Ende zum anderen entspricht.

Anhand der Gutenberg-Richter-Beziehung läßt sich abschätzen, wie oft an einem bestimmten Ort sehr schwere Erdbeben stattfinden, selbst wenn dort seit Beginn irgendwelcher Aufzeichnungen noch nie derart heftige Erschütterungen vermerkt worden sind. Ingenieure können dann Gebäude, Dämme und andere Bauwerke so konstruieren, daß sie der zu erwartenden Maximalbelastung standhalten.

Auf einige Gebiete trifft diese Regel jedoch nicht zu. Dort können heftige Erdbeben auftreten, ohne daß schwächere vorausgegangen wären. Dies stellt die Seismologen vor ein beunruhigendes Problem: Wie läßt sich in einem solchen Falle die Gefahr sinnvoll definieren?

Eben diese Schwierigkeit besteht in der Kaskadenregion, wo eine nach dem spanischen Entdecker Juan de Fuca benannte tektonische Platte, die unter dem nordöstlichen Pazifischen Ozean liegt, unter die Westküste Nordamerikas geschoben wird – ein als Subduktion bezeichneter Vorgang (Bild 1). Obwohl die örtliche seismische Aktivität in einigen Gebieten des Hinterlands recht hoch sein kann, wurden keinerlei Erdbeben dort festgestellt, wo sich die Bewegung offenbar konzentriert – an der Hauptstörungslinie zwischen der Juan-de-Fuca-Platte und dem Festland.

Dies überrascht, denn in den meisten anderen Subduktionszonen treten sehr wohl schwere Verschiebungsbeben auf – mit Stärken von mehr als 8 auf der Richter-Skala. Besonders stark betroffen ist der sogenannte Feuergürtel um den Pazifik mit Reihen aktiver Vulkane landeinwärts der Zonen, an denen ozeanische Kruste in den Erdmantel abtaucht.


Mögliche Gründe der seismischen Ruhe

Es gibt verschiedene mögliche Erklärungen für das Ausbleiben größerer Verschiebungserdbeben in der Kaskadenregion. Obwohl das Gebiet viele Merkmale einer Subduktionszone aufweist, könnte die Juan-de-Fuca-Platte in geologisch jüngerer Zeit aufgehört haben, sich in Richtung Nordamerika zu bewegen. Vor 20 Jahren, als die Debatte über dieses Thema in der Geologie einsetzte, führten mein Kollege Robin P. Riddihough und ich am Pazifischen Zentrum für Geowissenschaften in Sidney (Britisch Kolumbien) jedoch Belege dafür an, daß die Platten sich nach wie vor aufeinander zu bewegen, wobei sich die eine unter die andere schiebt.

Seither haben Untersuchungen vieler Forscher bestätigt, daß die Juan-de-Fuca-Platte nicht plötzlich zum Stillstand gekommen ist. Einen überzeugenden Beleg für das Fortdauern der Relativbewegung liefern submarine Sedimente aus Schlämmen und Sanden, die sich am Boden der Tiefsee als glatte, gleichmäßige Schichten absetzen; am Fuße des Kontinentalhangs vor der Kaskadenregion aber sind selbst die allerjüngsten Ablagerungen stark gestört. Wie die gigantische Schaufel eines Bulldozers scheint der nordamerikanische Kontinent die Sedimente von der ozeanischen Kruste abgeschabt, zerschert, aufgeschoben und regelrecht zerknüllt zu haben.

Den wohl dramatischsten Beweis für die fortdauernde Subduktion lieferte 1980 der Ausbruch des Mount St. Helens im Südwesten des Staates Washington. Obwohl seit langem klar war, daß die Vulkane der Kaskadenkette ihre Existenz dem Abtauchen der Juan-de-Fuca-Platte verdanken, hatten einige Geologen sie für erloschen gehalten. Die Eruption des Mount St. Helens ließ jedoch kaum Zweifel daran, daß das Gebiet auch heute noch ein aktiver Teil des Feuergürtels ist.

Aus der Tatsache, daß keine Verschiebungserdbeben auftreten, obwohl sich die beiden Platten aufeinander zu bewegen, haben einige Wissenschaftler geschlossen, daß der Abtauchvorgang glatt und reibungslos verlaufe und nicht in den üblichen ruckartigen Schüben, die Erdbeben hervorrufen. Genausogut kann man aber vermuten, daß sich die beiden Platten ineinander verkeilt haben. Dann würde sich unmerklich eine gefährliche Spannung in den Gesteinen seitlich der Abtauchzone aufbauen, die sich irgendwann gewaltsam entlädt.

Die kaum gestörte seismische Ruhe in historischer Zeit scheint auf den ersten Blick für ein sanftes Gleiten zu sprechen. Doch gibt es erst spärliche schriftliche Zeugnisse, seit vor wenig mehr als 200 Jahren spanische Seeleute und bald darauf der englische Weltumsegler James Cook (1728 bis 1779) auf der Suche nach einer nördlichen Passage vom Pazifik zum Atlantik an die Küste der Region kamen. Hingegen wurden in Japan schon seit dem 7. Jahrhundert viele starke Subduktionsbeben und die gewöhnlich darauf folgenden Tsunamis (hohe Meereswellen, die in Küstengebieten schwere Überschwemmungen hervorrufen) detailliert beschrieben.


Das letzte verheerende Beben

Seismische Aktivität in der Zeit vor dem Eintreffen von Europäern an diesen Küsten sollte aber auch geologische Spuren hinterlassen haben. Hinweise darauf fanden Wissenschaftler bei Grabungen in geschützten Meeresarmen, wo sich in der Gezeitenzone Salzmarschen bilden. So stieß Brian F. Atwater vom Geologischen Dienst der USA in Abständen von etwa einem Meter jeweils auf eine Lage Torf (siehe Kasten auf Seite 68); dieser hat sich gebildet, als Pflanzen, wie sie auch heute im Gezeitenbereich gedeihen, un-ter Erdreich begraben wurden. Atwater schloß daraus, daß jede solche Schicht von einer ehemaligen Marsch stammt, die zum Sedimentationsbecken wurde, als sich der Boden absenkte; Ursache dieses Absackens könnte der jähe Abbau starker Spannungen im Gestein durch ein kräftiges Erdbeben gewesen sein (Bild 3).

Für diese Interpretation spricht, daß viele der Torfschichten von Sand bedeckt sind; er wurde offenbar durch gewaltige Tsunamis angespült, die an die abgesackte Küste brandeten. Nach theoretischen Modellen wie auch nach den geologisch belegten Auswirkungen solcher Wellen auf die Strandlinie waren sie an der offenen Küste zehn Meter hoch und in engen Meeresarmen noch wesentlich höher.

Nach dem Verebben der Tsunamis füllte sich das abgesenkte Gebiet allmählich mit Schlick, und die Marschvegetation kehrte zurück. Die wiederholten Folgen von Torf, Sand und Schlick zeigen somit deutlich, daß das Gebiet in vorgeschichtlicher Vergangenheit tatsächlich von schweren Erdbeben heimgesucht wurde.

Doch wie lange ist das her? Das Alter der Torflagen läßt sich nur schwer exakt bestimmen; aber knapp oberhalb der jüngsten Schicht wurden Stämme von Tannen gefunden, die an der Küste beim Absinken des Bodens im Meerwasser eingingen. Nach Vermessungen der Wachstumsringe sowie nach Altersbestimmungen mit der Radiokohlenstoffmethode sind die Bäume vor ungefähr 300 Jahren abgestorben. Damals muß also das letzte schwere Erdbeben in diesem Gebiet stattgefunden haben. Davor traten ähnlich starke Erschütterungen in unregelmäßigen Abständen von etwa 500 Jahren auf.

In dieses Szenario passen auch ungewöhnliche Ablagerungen weit draußen auf dem Grund des Ozeans. Dort fanden Wissenschaftler von der Universität von Oregon in Eugene bei Bohrungen feinkörnige Schlämme im Wechsel mit sandigen Schichten. Schlamm ist typisch für Tiefseeboden; er entsteht aus den feinen Schwebteilchen, die langsam und kontinuierlich aus dem Ozean herabrieseln. Sandige Sedimente sind weit vor der Küste dagegen ein merkwürdiger Fund. John Adams vom Geologischen Dienst Kanadas erklärt sie mit gewaltigen submarinen Erdrutschen, die von heftigen Erdbeben ausgelöst wurden; sie könnten Küstensedimente den Kontinentalhang hinunter und dann hinaus auf den Tiefseeboden befördert haben.

Wann das geschah läßt sich anhand der Wechselfolge selbst kaum abschätzen; doch eine Besonderheit im untersten Abschnitt einiger Bohrkerne liefert einen wichtigen Anhaltspunkt: Dort findet sich Vulkanasche von der Eruption des ehemaligen Mount Mazama in Oregon, dessen Überrest als Crater Lake bekannt ist. Diese gewaltige Explosion – vergleichbar mit dem jüngsten Ausbruch des Mount St. Helens – ereignete sich vor 7700 Jahren. Wenn der Schlamm seither mit konstanter Rate auf den Meeresboden herabrieselte, ergibt sich eine Chronologie für die nachfolgenden Erdbeben, die recht gut zu den Datierungen der Torfablagerungen an der Küste paßt. Der jüngste submarine Erdrutsch fand demnach ebenfalls vor etwa 300 Jahren statt, und die zwölf früheren liegen 300 bis 900 Jahre auseinander.

Durch eine scharfsinnige Idee ließ sich der wahrscheinliche Zeitpunkt des letzten Erdbebens sogar noch genauer festlegen. Seismische Erschütterungen mit Stärken von annähernd 9 in der Kaskadenregion sollten Tsunamis auslösen, die groß genug sind, um den Pazifischen Ozean zu überqueren und auch in Japan noch bemerkt zu werden. Unter dieser Prämisse glauben Kenji Satake und seine Kollegen vom Geologischen Dienst Japans in einem zwei Meter hohen Tsunami, der nach schriftlichen Aufzeichnungen vor fast 300 Jahren an die Küste von Honschu brandete, das Zeugnis des letzten schweren Erdbebens an der nordamerikanischen Küste gefunden zu haben: Unter Berücksichtigung der Laufzeit der Welle und der Zeitverschiebung müßte es sich am 26. Januar des Jahres 1700 um etwa 21 Uhr ereignet haben.

Bemerkenswerterweise deckt sich diese detektivische Schlußfolgerung mit mündlich überlieferten Berichten der Ureinwohner Britisch Kolumbiens über eine einstige Katastrophe, die mein Kollege Rogers in den Provinzialarchiven in Victoria (Kanada) aufspürte. Darin ist von einem Erdbeben die Rede, das die Pachena Bay an der Westküste von Vancouver Island eines Nachts im Winter erschütterte; am Morgen war das Dorf an der Spitze der Bucht verschwunden. Auf einen ähnlichen Bericht stieß Gary A. Carver von der Humboldt-Staatsuniversität in Arcata (Kalifornien) im Sagengut der Indianer Nordkaliforniens (siehe Kasten auf Seite 68).

Der große Bebenzyklus

Im Detail betrachtet, erweisen sich starke Subduktionsbeben als ebenso komplex wie andere seismische Erschütterungen. Grob gesehen, gehorchen sie jedoch der einfachen Theorie des elastischen Zurückfederns, die zuerst für die berühmt-berüchtigte San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien entwickelt wurde. Demnach wird die Erdkruste durch fortdauernde Bewegungen zwischen zwei Platten zusammengedrückt und unter der sich aufbauenden Spannung schließlich gebogen. Der Block aus hartem, sprödem Gestein verformt sich unter diesen Bedingungen fast so elastisch wie ein riesiges Stück Hartgummi.

Schließlich aber werden die tektonischen Kräfte so stark, daß sie den Reibungswiderstand entlang der Verwerfungsfläche übersteigen. Die Gesteinspakete verrutschen abrupt, und die über viele Jahre aufgestaute elastische Energie breitet sich in Form von Erdbebenwellen in alle Richtungen aus. Danach rasten die Gesteinspakete wieder ein, und der Kreislauf von Aufbau und Entladung tektonischer Spannung beginnt erneut.

Die ozeanische Juan-de-Fuca-Platte rückt entlang der Subduktionszone der Kaskadenregion um etwa vier Zentimeter pro Jahr gegen Nordamerika vor. Diese Bewegung mag langsam scheinen, doch verursacht sie eine beträchtliche Stauchung – um etwa 20 Meter in der durchschnittlichen Spanne von 500 Jahren zwischen zwei gewaltigen Erdbeben. Die elastische Kompression verteilt sich über einen mehrere hundert Kilometer breiten Landstreifen.

Zugleich hat der tektonische Druck eine vertikale Komponente. Wenn sich die ozeanische Platte unter die Küste schiebt, zieht sie den Rand des Festlands nach unten; zum Ausgleich biegt sich die kontinentale Platte weiter landeinwärts nach oben (Bild 3). Wenn sich bei einem schweren Erdbeben dann die verklemmten Gesteinspakete entlang der Verwerfungsfläche lösen, federt der Rand des Kontinents zurück, und die Aufwölbung fällt in sich zusammen. Das Emporschnellen des äußeren Festlandsockels erzeugt Tsunamis, während das Einsinken der Flexur-Beule in Küstennähe die Salzmarschen im Gezeitenbereich untertauchen läßt.

Die Lage der verklemmten Gleitzone ist besonders wichtig, weil die Reibungsfläche zur Quelle der seismischen Wellenenergie wird, wenn sie bei einem Beben schließlich nachgibt. Wo diese Zone zum Landesinneren hin endet, entscheidet maßgeblich darüber, wie stark die Bevölkerung und die zivilisatorische Infrastruktur von der Erschütterung betroffen sind; von der Position des seewärtigen Randes wiederum hängt ab, wo sich Tsunamis bilden. Die Gesamtbreite der Quellenzone schließlich beeinflußt das seismische Risiko, da sie die maximale Stärke des Erdbebens bestimmt.

Die Ausdehnung des verklemmten Abschnitts läßt sich aus der Krustenverformung erschließen. Ist er schmal, ist auch das elastisch verbogene Krustenareal klein. Dagegen erstreckt sich die Aufwölbung weit ins Inland hinein, wenn die verklemmte Zone sehr tief hinabreicht. Die Geodäsie kann somit Hinweise auf das Erdbebenrisiko geben. Die Verformungsrate beträgt zwar nur wenige Millimeter pro Jahr, doch lassen sich die Auswirkungen mit modernen Vermessungstechniken durchaus feststellen (Bild 5).


Verfolgen, wie die Spannung steigt

Die horizontale Verkürzung eines Küstengebiets ist zu verfolgen, wenn man mit einem Laser-Entfernungsmesser wiederholt den Abstand zwischen Fixpunkten auf Bergspitzen millimetergenau bestimmt. Dies erfordert außer höchster Präzision einen sehr klaren Himmel – in den regenreichen Gebirgen der Westküste freilich eine Seltenheit. Dennoch konnten James C. Savage und seine Kollegen vom Geologischen Dienst der USA anhand solcher Messungen 1981 erstmals feststellen, daß sich die Erdkruste in der Nähe von Seattle senkrecht zur Küste verkürzt. Sie schlossen daraus auf wachsende Spannungen im Untergrund, die sich in einem schweren Erdbeben entladen könnten.

Einige Meßverfahren sind auch empfindlich genug, vertikale Bewegungen anzuzeigen. Die einfachste Methode, das Nivellieren, wird schon seit langem etwa im Straßenbau angewandt. Die Vermesser peilen dabei mit dem Zielfernrohr eine geeichte Meßlatte an, um den Höhenunterschied zwischen zwei Punkten festzustellen. Durch Addition der ermittelten Differenzen lassen sich innerhalb eines weitgespannten Vermessungsnetzes die relativen Höhen bestimmen. Wiederholte Peilungen in zeitlichen Abständen geben Aufschluß über eventuelle Höhenänderungen.

Der Geodätische Dienst Kanadas hat einige solche extrem genauen Vermessungen durchgeführt, um Hebungen im Hinblick auf Erdbeben festzustellen. Unter anderem wurde ganz Vancouver Island hin und zurück (pro Strecke etwa 100 Kilometer) mit einer Serie von Peilungen im Abstand von je etwa 100 Metern überzogen; der maximale vertikale Meßfehler auf dem gesamten Rundkurs betrug nur einen Zentimeter.

Außerdem macht man sich die Pegel an der Küste zunutze. Aus Veränderungen des durchschnittlichen Wasserstandes läßt sich auf geringfügige vertikale Lageverschiebungen der Landmasse schließen, wenn die Aufzeichnungen mindestens 20 Jahre umfassen, so daß Gezeiten und langfristige Schwankungen des Meeresspiegels – etwa durch das El-Niño-Phänomen – ausgemittelt werden können; außerdem sind der allmähliche globale Anstieg des Meeresspiegels um etwa zwei Millimeter pro Jahr und die postglaziale Landhebung zu berücksichtigen – der langsame, noch immer andauernde Wiederaufstieg von Krustenbereichen, die in der letzten Eiszeit vom Gewicht der Gletscher niedergedrückt worden waren.

Des weiteren kann man ausnutzen, daß die Schwerkraft mit der Entfernung vom Erdmittelpunkt im Quadrat abnimmt. Mit hochempfindlichen Sonden läßt sich durch wiederholte Messungen am selben Ort in Zeitabständen von einigen Jahren die Küstenhebungsrate abschätzen.

Neuerdings erlaubt schließlich das satellitengestützte Global Positioning System (GPS), Entfernungen und Höhenänderungen zwischen Hunderte von Kilometern entfernten Orten zu bestimmen (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1996, Seite 102). Herb Dragert und Michael Schmidt vom Geologischen Dienst Kanadas haben damit zum Beispiel nachgewiesen, daß sich Victoria, die Hauptstadt von Britisch Kolumbien an der Südküste von Vancouver Island, pro Jahr um fast einen Zentimeter an den etwa 300 Kilometer weiter östlich auf dem kanadischen Festland gelegenen Ort Penticton heranschiebt. Das genaue und preisgünstige GPS dürfte in Zukunft die effektivste Methode sein, die minimalen Verbiegungen und Stauchungen der Erdkruste zu verfolgen, die Erdbeben vorangehen.

Alle diese Verfahren haben übereinstimmend ergeben, daß sich der Rand der Kaskadenregion derzeit pro Jahr um ein bis vier Millimeter hebt und um einige Zentimeter verkürzt. In dieser Verformung – einem direkten Beweis dafür, daß die Kruste zwischen zwei sich gegeneinander bewegenden Platten zusammengeschoben wird – drückt sich der langsame, aber stetige Aufbau von Spannung aus, die sich irgendwann gewaltsam und mit möglicherweise katasprophalen Folgen entladen wird.


Verklemmte Platten

Um Lage und Umfang des verkeilten Abschnitts der Gleitfläche zu ermitteln, haben meine Kollegen vom Pazifischen Zentrum für Geowissenschaften und ich die Vermessungsergebnisse mit mathematischen Verformungsmodellen verglichen (Bild 6). Nach Anpassen der Modellparameter an die Beobachtungsdaten stellten wir fest, daß sich die Hauptgefahrenzone im größten Teil der Kaskadenküste auf einen 50 bis 100 Kilometer breiten Streifen beschränkt, der unterhalb des Festlandsockels verläuft und sich nur in der Nähe der Nordküste des Staates Washington nennenswert verbreitert (Bild 4). Allerdings folgt landeinwärts in der Tiefe ein Übergangsbereich mit einem Wechsel aus Abschnitten, in denen die Gesteinspakete fest aneinanderhaften, und solchen, in denen sie frei gleiten können.

Obwohl der verklemmte Bereich insgesamt groß genug ist, daß die Erde gewaltig beben kann, wenn er plötzlich aufbricht, erscheint er beim Vergleich mit anderen Subduktionszonen als ungewöhnlich schmal. Deshalb fragten wir uns, wovon seine Breite abhängt. Unter vielen möglichen Faktoren erwies sich die Temperatur als entscheidend. Beispielsweise dürften die tonreichen Sedimente auf der abtauchenden ozeanischen Platte die seewärtige Oberkante der Gleitfläche gleichsam schmieren; gelangen sie durch die Subduktion jedoch in größere Tiefen, wandeln sich die Tone in festere Minerale um, die den Gleitvorgang nunmehr behindern. Dieser Wechsel findet rund zehn Kilometer unter der Erdoberfläche bei etwa 150 Grad Celsius statt.

Desgleichen sollte zunehmende Hitze die landseitige Untergrenze der Verkeilungszone bestimmen. Bis zu mäßig hohen Temperaturen haben Gesteine ein normales Bruchverhalten: Sobald die verklemmten Blöcke zu verrutschen beginnen, wirkt statt der relativ starken Haft- die schwächere Gleitreibung, so daß sich die Bewegung beschleunigt fortsetzt; die gespeicherte elastische Energie wird schlagartig frei und läßt die Erde erbeben. Doch tiefer unten in der Kruste, wo mehr als 350 Grad Celsius herrschen, dürften sich die Gesteine an der Grenzfläche der beiden Platten eher wie eine zähe Flüssigkeit verhalten, deren Reibungswiderstand mit zunehmender Geschwindigkeit steigt. Barrieren können sie dann durch langsames Kriechen überwinden, ohne daß seismische Erschütterungen aufträten.

Mit Computermodellen haben wir den Temperaturverlauf an der Gleitfläche zwischen der abtauchenden Juan-de-Fu-ca-Platte und dem nordamerikanischen Kontinent errechnet. Das Ergebnis bestätigte unsere Vermutung: Die Gesteine erreichen ziemlich genau dort 350 Grad Celsius, wo nach den Deformationsmessungen die Verkeilungszone endet.

Eine letzte wichtige Frage ist, ob diese Zone auch wirklich mit dem Ursprungsgebiet der großen Subduktionsbeben in der Vergangenheit übereinstimmt. Dafür spricht, daß sich der von uns errechnete vertikale Versatz beim Aufbrechen der Verklemmung mit dem Betrag deckt, um den die Küstenmarschen abgesunken sind. Außerdem haben wir unsere Methode an einer anderen Subduktionszone erfolgreich erprobt: Mein Kollege Kelin Wang und ich konnten gemeinsam mit Makoto Yamano von der Universität Tokio zeigen, daß die Ausdehnung der gegenwärtig verklemmten Zone am Nankai-Plattenrand in Südwestjapan gut zu den Bruchflächen von Erdbeben der Stärke 8 paßt, die sich dort in den vierziger Jahren ereigneten. Demnach sollten unsere Modelle auch für die Kaskadenregion verläßliche Prognosen erlauben.

Wie stark würde bei einem gigantischen Subduktionsbeben in den großen Städten der Westküste der Boden schwanken? Entscheidend für die Bebenstärke wäre, wie groß der Abschnitt ist, in dem sich die Verkeilungszone löst. Daß sie auf der gesamten Länge zwischen Britisch Kolumbien und Kalifornien nachgäbe wäre ungewöhnlich, weil derart ausgedehnte Brüche bisher auf der ganzen Welt nur selten aufgetreten sind.

Doch gibt es Hinweise, wonach während des Erdbebens von 1700 in der Kaskadenregion genau das geschah. Falls die gesamte Verkeilungszone mit ihrer Fläche von annähernd 100000 Quadratkilometern gleichzeitig aufbräche, könnte dies ein gigantisches Erdbeben der Magnitude 9 auslösen – viel stärker als jenes, das 1906 San Francisco zerstörte. Nur zwei derart gewaltige Erdbeben wurden jemals registriert: eines an der chilenischen Küste 1960 und das andere in Südalaska 1964 (Bild 2).


Das Ausmaß der Schäden beim großen Schock

Seismologen haben zwei Möglichkeiten, das Ausmaß der Bodenbewegung abzuschätzen, die solche Erschütterungen in der Kaskadenregion hervorrufen würden: Sie können die Situation an der nordamerikanischen Westküste mit der an anderen Orten vergleichen, an denen Erdbeben in historischer Zeit stattgefunden haben, oder sie bedienen sich ziemlich komplizierter theoretischer Modelle der seismischen Bruchfläche und des Betrags, um den die Platten verrutschen. Beide Verfahren liefern ähnliche Resultate. Danach würden die seismischen Wellen beim nächsten großen Erdbeben in der Kaskadenregion extrem stark sein und für einige Minuten anhalten. Anschließend dürften die meisten Küstenorte ein bis zwei Meter tiefer und fünf bis zehn Meter näher am Meer liegen.

Zum Glück befindet sich die Verkeilungszone jedoch größtenteils unter dem Festlandsockel und reicht, wenn überhaupt, kaum bis unter die Küste (Bild 4). Deshalb sind die 100 bis 200 Kilometer landeinwärts gelegenen Großstädte Vancouver, Seattle und Portland weniger starken Erschütterungen ausgesetzt als Orte direkt am Meer. Dennoch strahlt die seismische Energie derart heftiger Erdbeben über eine beträchtliche Entfernung hin aus, so daß die Gefahr für die Metropolen immer noch groß ist. Die Bewohner dieser Küstenregion der USA und Kanadas werden sich darauf einstellen müssen, daß auch ihr bisher ruhiger Untergrund jeden Augenblick verhängnisvoll erzittern kann.

Literaturhinweise

- Seismic Potential of the Cascadia Subduction Zone. Von Garry C. Rogers in: Nature, Band 332, Seite 17, 3. März 1988.

– Cascadia Subduction Zone. The Calm before the Quake? Von Thomas H. Heaton in: Nature, Band 343, Seiten 511 bis 512, 8. Februar 1990.

– Thermal Constraints on the Zone of Major Thrust Earthquake Failure: The Cascadia Subduction Zone. Von R. B. Hyndman und K. Wang in: Journal of Geophysical Research (Solid Earth), Band 98, Heft 2, Seiten 2039 bis 2060, 10. Februar 1993.

– Current Deformation and the Width of the Seismogenic Zone of the Northern Cascadia Subduction Thrust. Von H. Dragert et al. in: Journal of Geophysical Research (Solid Earth), Band 99, Heft 1, Seiten 653 bis 668, 10. Januar 1994.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 64
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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