Psychiatrie: Seelische Gesundheit und neurotisches Elend
Der Langzeitverlauf in der Bevölkerung
Unter Mitarbeit von Steffen Häfner, Gerhard Reister und Wolfgang Tress.
Springer, Wien 2000. 200 Seiten, DM 78,-
Unter Mitarbeit von Steffen Häfner, Gerhard Reister und Wolfgang Tress.
Springer, Wien 2000. 200 Seiten, DM 78,-
Das vorliegende Buch stellt die Ergebnisse eines weltweit wohl einzigartigen Projektes dar. Sechshundert Mannheimer Frauen und Männer der Jahrgänge 1935, 1945 und 1955 wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und über mehr als 15 Jahre mittels Tests und zahlreichen tiefenpsychologischen Interviews über Gesundheit und Krankheit, ihre Biografie, ihre Beziehungen und ihre privaten und beruflichen Lebenssituationen befragt. Ein großer Stab von Forschern und wissenschaftlichen Hilfskräften erstellte das Konzept der Studie, erhob die Daten und übernahm die Auswertungsarbeit.
Die Fragestellung des Mannheimer Kohortenprojektes war: Wie häufig sind psychogene Erkrankungen? Wie verlaufen sie spontan, das heißt ohne Behandlung? Was beeinflusst Entstehung und weiteren Verlauf? Unter einer psychogenen Erkrankung verstehen die Autoren eine Psychoneurose, eine psychosomatische Erkrankung, eine Persönlichkeitsstörung, eine Verhaltensstörung oder eine Sucht, also auch Erkrankungen, die sich im Wesentlichen in körperlichen Symptomen äußern. Personen, die unter schweren psychischen Erkrankungen wie etwa Schizophrenie litten, blieben für diese Studie außer Betracht.
Als wichtigste Ergebnisse lassen sich zusammenfassen:
An einem beliebigen Stichtag ist mehr als ein Viertel der erwachsenen deutschen Großstadtbevölkerung von einer psychogenen Erkrankung in nennenswertem Ausmaß betroffen. Umgekehrt bedeutet dies: Die weitaus meisten Leute sind zu einem Stichtagstermin weitgehend frei von krankheitswertigen Symptomen psychischer Ursache. Insgesamt bleibt etwa knapp die Hälfte der Menschen im Erwachsenenalter von ernsthaften psychogenen Erkrankungen verschont – von kurzen Episoden einmal abgesehen.
Spontane Besserungen psychogener Erkrankungen ohne therapeutische Intervention sind – entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil – nur bei einem kleinen Prozentsatz der Betroffenen festzustellen.
Sämtliche untersuchten klinischen Variablen zeigen eine klare Schichtabhängigkeit: Mit sinkendem Sozialstatus nimmt die Beeinträchtigung durch psychogene Erkrankungen zu. Frauen der unteren sozialen Schichten haben ein besonders hohes Chronifizierungsrisiko. Je größer die psychogene Beeinträchtigung, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen sozialen Abstieg.
Bemerkenswert sind die Verlaufsunterschiede in Bezug zum Familienstand: Die von Anbeginn hochgradig psychisch Kranken waren zu einem größeren Teil geschieden oder unverheiratet geblieben. Im Langzeitverlauf korrelieren Scheidung und Ledigenstatus hoch mit psychischer Erkrankung.
Uneheliche Geburt, ein großer Altersunterschied zwischen den Eltern, Abwesenheit der Mutter sowie psychische Erkrankungen von Vater und/oder Mutter sind Faktoren, die eine psychogene Erkrankung begünstigen. Kindheitserfahrungen einschließlich der schulischen Förderung beeinflussen die Ausbildung kommunikativer und kognitiver Prozesse. Hier erworbene Defizite gehen in die weitere Lebensgestaltung ein und werden Teile eines Kreisprozesses, in dem Persönlichkeitsdefizite, mangelhafte Lebensbewältigung und verfehlte Lebensentscheidungen einander auf ungünstige Weise befördern. So wird verständlich, dass viele psychisch Kranke belastende Lebensereignisse häufig selbst mit herbeiführen.
Dagegen sind eine stabil zur Verfügung stehende, warmherzige Bezugsperson, eine seelisch gesunde Mutter und eine unneurotische Beziehung der Erziehungspersonen untereinander Kindheitsfaktoren mit schützender Wirkung. Auf ihrer Basis entwickeln sich spezielle Persönlichkeitszüge, die man Kompetenz und Flexibilität nennen könnte (das Fachwort ist "resilience") und die sowohl Alltagsprobleme als auch biografische Extrembelastungen zu bewältigen helfen.
Ein dichtes soziales Netzwerk mit als befriedigend empfundener sozialer Unterstützung (Nachbarschaft, Arbeitsplatz) hat bedeutende vorbeugende Wirkungen.
In einer Zeit, in der rasche und "neue" Forschungsergebnisse angestrebt werden, muss man dem Mannheimer Kohortenprojekt seine Hochachtung aussprechen. Unbestreitbar hat die Studie auch wichtige Ergebnisse erbracht.
Und doch erscheint mir angesichts der für Psychotherapieforschung hohen Summe von etwa 2 Millionen DM so genannter Drittmittel das Ergebnis erstaunlich mager. Deutlich werden zwei grundsätzliche Probleme: Zum einen sind die Ergebnisse solcher Untersuchungen zwangsläufig in hohem Maße durch die Vorannahmen und Erwartungen der Wissenschaftler geprägt.
So haben die Autoren dieser Studie das Augenmerk vorrangig auf die Defizite der von ihnen Untersuchten gelegt und weniger auf die Haltung und Einstellung der Therapeuten. Sie plädieren zwar sehr deutlich für Maßnahmen, um die allgemeine Scheu vor der Inanspruchnahme eines Psychotherapeuten abzubauen, sprechen aber kaum darüber, dass dafür auch die Therapeuten einige Grundeinstellungen revidieren müssten.
Zum anderen werden an dieser Studie die Grenzen des im Prinzip konventionellen Forschungsdesigns deutlich, was den Autoren auch durchaus bewusst ist. Es geht um Verläufe mit prozesshaftem Charakter. Die Komplexität des Geschehens kann mit im Prinzip reduktionistischen Methoden nur unzureichend erfasst werden.
Störend empfand ich die häufig wenig würdigende Sprache, mit der über die Klienten geredet wird; auch erscheinen manche Interpretationen weit weniger durch die Daten als durch die therapeutische Ausrichtung der Autoren gesteuert.
Diese kritischen Einwände können jedoch insgesamt den Wert des Projektes nicht entscheidend schmälern. Im Gegenteil: Angesichts der vielen Millionen Forschungsgelder für die Pharmaforschung wäre es höchst wünschenswert und außerordentlich notwendig, wenn mehr Forschungsprojekte über psychische Erkrankungen und ihre psychotherapeutische Behandlung entsprechend großzügig angelegt und auch finanziert würden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2001, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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