Psychotraumatologie: Seelische Wunden und ihre Heilung
Überlebende und Augenzeugen von Katastrophen können psychische Schäden erleiden, die sogar zu Veränderungen im Gehirn führen. Ein neuer Forschungszweig therapiert diese seelischen Verletzungen.
Als in Manhattan die lebenden Bomben in das World Trade Center einschlugen, reagierten viele Zuschauer an den Bildschirmen mit Fassungslosigkeit. Nur mühsam konnten sich manche vergegenwärtigen, dass es sich nicht um einen schlechten Film handelte, sondern um bittere Realität. Sie konnten kaum begreifen, dass das Drehbuch zu diesem Desaster nicht aus Hollywood stammte, sondern den Gehirnen ebenso rücksichtsloser wie "einfallsreicher" Terroristen entsprungen war, die in den Selbstmordattentätern willige Instrumente eben zur "Verwirklichung" ihrer Pläne gefunden hatten.
Andere fürchteten sich, im Fernsehen Nachrichtensendungen einzuschalten. Diese Leute fühlten sich zwar vom TV-Gerät angezogen, umkreisten es aber manchmal wie die sprichwörtliche Katze den heißen Brei.
Ein weiterer Teil der Zuschauer fühlte sich von den Schreckensbildern verfolgt, bis in die Träume hinein. Hilflosigkeit und bleierne Lähmung breiteten sich aus ? am stärksten dort, wo Personen in ihrem unmittelbaren Nahraum betroffen waren, vor allem in Manhattan und, mit räumlicher Entfernung abnehmend, in den restlichen Stadtteilen von New York.
Posttraumatisches Belastungssyndrom
Katastrophen wie die Terrorattacke vom 11. September 2001 können bei den Überlebenden, den Augenzeugen und den Rettern schwere psychische Schäden hervorrufen. Im schlimmsten Falle wird jener Grenzwert überschritten, den die Wissenschaft als "traumatisch" bezeichnet. Seit den achtziger Jahren bemühen sich Forscher, die Kurz- und Langzeitfolgen eines daraus resultierenden "posttraumatischen Belastungssyndroms" (PTBS) zu untersuchen und immer genauer zu beschreiben.
Psychologen sprechen von einem posttraumatischen Belastungssyndrom, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:
– ein schwer belastendes Ereignis;
– sich aufdrängende Nachhallerinnerungen, die bis in die Träume hineinreichen können (so genannte "flash backs");
– Vermeidung beziehungsweise Verleugnung von allem, was an das belastende Geschehen erinnert;
– schreckhafte Übererregbarkeit im Wechsel mit Abstumpfung.
Auch in der kollektiven Reaktion der Fernsehzuschauer auf den Terroranschlag in New York kommt fast das gesamte Trauma-Syndrom zum Ausdruck. Nachhallerinnerung, Verleugnung/Vermeidung sowie schreckhafte Ängstlichkeit sind hier ebenso festzustellen wie bei individuellen Patienten. Anscheinend spiegelt sich das klinische Bild in unserer kollektiven Reaktion auf erschütternde Nachrichten wider. Neben diesen Parallelen sollten wir jedoch die Unterschiede zwischen klinischem Trauma und der sozialpsychologischen Reaktion einer großen Bevölkerungsgruppe nicht übersehen. Die hartnäckig, manchmal über viele Jahre fortbestehenden Folgen traumatischer Ereignisse treten bei ungefähr einem Drittel der unmittelbar betroffenen Personen auf, glücklicherweise aber nicht bei Zuschauern vor den Fernsehschirmen.
Lange Zeit wurden Trauma-Opfer völlig unzulänglich versorgt. Wissenschaftler in den USA befassen sich seit etwa zwanzig Jahren mit diesem Problem ? als Folge vor allem der Kriege in Vietnam und Kambodscha (siehe "Unsichtbare Wunden", SdW 9/2000, S. 42). Allerdings liefen die entsprechenden Untersuchungen dort längere Zeit als Beitrag zur "Stressforschung". Um jedoch die Früherkennung, Prävention und Therapie von Traumafolgen zu ermöglichen, ist eine Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen erforderlich: Psychologie, Psychiatrie, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie sowie biologische und sozialwissenschaftliche Fächer. Sie müssen zusammenwirken, um die unsichtbaren seelischen Wunden allmählich erkennen und behandeln zu können ? und zwar mit gleicher Fachkenntnis, wie dies bei sichtbaren körperlichen Verletzungen seit langem geschieht. So entstand als Gegenstück zur chirurgischen "Traumatologie", die körperliche Schäden behandelt, die "Psychotraumatologie", die seelische Wunden therapiert.
Als eine der ersten wissenschaftlich-therapeutischen Einrichtungen in Deutschland, die psychotraumatische Störungen erforschen, behandeln und Prävention betreiben, wurde 1991 das Deutsche Institut für Psychotraumatologie (DIPT) gegründet. Es befindet sich seit 1995 in Köln und arbeitet eng mit dem Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zusammen. Eine 1998 gegründete Fachgesellschaft, die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT), koordiniert die Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Therapeuten, erarbeitet Empfehlungen und Standards für die Therapie und fördert das Wissen über die Folgen von traumatischen Lebensereignissen.
Das DIPT hat bereits viele überregionale Hilfsprojekte für Opfer von Gewaltverbrechen, Unfällen und Katastrophen durchgeführt, an denen das Ausmaß der Problematik ebenso sichtbar wurde wie die besondere Belastung der Rettungskräfte ? etwa anhand des Busunglücks von Bad Dürrheim am 6. September 1992. Die Deutsche Bahn AG betraute das DIPT mit der Nachsorge für die Opfer der Bahnunglücke von Eschede (3. Juni 1998) und Brühl (6. Februar 2000). Auch die Opfer des Schwebebahnunglücks in Wuppertal (12. April 1999) und die Hinterbliebenen des Concorde-Absturzes in Paris (25. Juli 2000) wurden betreut.
Terror der Gedanken
Für Opfer von Gewaltverbrechen entwickelten wir am DIPT das "Kölner Opferhilfe Modellprojekt". Dieses Programm umfasst Strategien zur Früherkennung sowie Maßnahmen, die Diagnostik, Begutachtung, Psychotherapie und Selbsthilfe verbessern. Im Rahmen des Beratungsprojekts "Human Protect", in dem wir Betroffene von Überfällen in Banken und großen Unternehmen betreuen, kümmern wir uns gegenwärtig auch um die Angehörigen der Terroropfer von New York. Des Weiteren sind wir seit etwa zwei Jahren für die Bundeswehr tätig. Hier entwickeln wir ein Programm zur Früherkennung und Frühintervention nach schwer belastenden Ereignissen und integrieren es in den Routineunterricht der Streitkräfte. In all diesen Projekten kommt es entscheidend darauf an, unter den Opfern möglichst früh die Risikofälle zu erkennen ? in der Regel zwischen einem Viertel und einem Drittel der Betroffenen. Denn nur dann kann die Therapie rechtzeitig einsetzen und traumatische Langzeitfolgen verhindern.
Dass jede Therapie möglichst früh einsetzen sollte, liegt an unserem Gehirn. Wir wissen heute, dass sich etwa sechs bis neun Monate nach dem traumatischen Ereignis der Informationsfluss im Gehirn dauerhaft verändern kann. Davon betroffen ist ein "Schaltkreis" zwischen dem emotionalen Gedächtniszentrum im limbischen System und den Gehirnstrukturen im Cortex, der Hirnrinde. Hierbei übt der Hippocampus, der die räumliche und zeitliche Einordnung unserer Sinneseindrücke organisiert, eine Brückenfunktion aus. Diese Gehirnformation "degeneriert" als Folge eines Langzeittraumas, wie wir aus neueren pathologischen Studien wissen. Vermutlich sterben dabei Zellverbände im Hippocampus in großem Umfang ab. Da nun im Gehirn der Langzeitpatienten die schrecklichen Erinnerungen anstürmen, der Hippocampus seine Funktion der räumlichen und zeitlichen Einordnung aber nicht länger auszuüben vermag, geraten die Patienten in eine furchtbare Lage: Sie durchleben das Trauma immer wieder real, ohne dass ihnen bewusst wird, dass es sich in Wahrheit nur um Erinnerungsbilder handelt. Die Folge sind panische Ängste, Konzentrationsstörungen (häufig verbunden mit beruflichem Abstieg), Suchtentwicklung auf Grund von "Selbstmedikation" sowie verschiedene psychosomatische Störungen. Damit therapeutische Maßnahmen greifen können, müssen sie einsetzen, bevor der fatale hirnphysiologische Mechanismus wirksam wird.
Zu diesem Zweck haben wir den so genannten "Kölner Risikoindex" entwickelt, der sich mittlerweile in verschiedenen Anwendungsfeldern bewährt hat. In einer vereinfachten Version läuft er im Computerprogramm "Victim" der nordrhein-westfälischen Polizei. Nach dieser Anleitung vermögen die Beamten Risikopersonen unter den Verbrechensopfern frühzeitig zu erkennen.
Die Anfälligkeit von Gewaltopfern, an einem posttraumatischen Belastungssyndrom zu erkranken, hängt in einem gewissen Maß von ihrer Persönlichkeit und ihrem sozialen Umfeld ab. Dass gute und hilfreiche Beziehungen im Freundes- und Bekanntenkreis bis zu einem gewissen Grad vor einem Trauma schützen können, leuchtet unmittelbar ein. Weniger nahe liegende Schutzfaktoren sind höhere Schulbildung und, wie auch in neueren internationalen Studien deutlich wird, Intelligenz. Wir haben bislang keine Erklärung dafür gefunden, vermuten aber, dass Personen mit höherer Schulbildung oder Intelligenz sich besser informieren können über die ungewöhnlichen Bedingungen, mit denen uns ein Trauma konfrontiert. Das hat uns veranlasst, einem breiteren Publikum Informationen zur Selbsthilfe zugänglich zu machen.
Hierbei stellen sich zahlreiche Fragen. Soll man über die traumatisierenden Ereignisse reden? Wenn ja, mit wem? Mit wem vielleicht lieber nicht? Wie können wir wieder zur Ruhe kommen und den Gedankenterror stoppen, der uns noch quält, auch wenn die Gefahr vorüber ist? Wie kann ich erkennen, ob ein Trauma vorhanden ist ? bei mir selbst oder bei Verwandten, Freunden oder Bekannten? Welche Qualifikation sollten Fachleute haben, um den Anforderungen einer Trauma-Fachtherapie gewachsen zu sein?
Hilfe zur Selbsthilfe
Für solche Fragen haben wir eine Selbsthilfe-Anleitung entwickelt, die wir in unseren überregionalen Projekten den Betroffenen an die Hand geben ("Neue Wege nach dem Trauma. Erste Hilfe bei schweren seelischen Belastungen", von G. Fischer, Vesalius-Verlag, Konstanz 2000). Unsere Begleitforschung zeigt, dass diese Broschüre als außerordentlich nützlich empfunden wird. Eine kurzfristig greifende Informationsstrategie ist nötig, da schon in den ersten Tagen und Wochen nach dem Ereignis die Weichen für den Verlauf der Erkrankung gestellt werden. (Tipps und aktuelle Hilfsangebote sind auch im Internet erhältlich unter: www.psychotraumatologie.de, Stichwort "Selbsthilfe", und www.thieme.de/psychotrauma).
Selbsthilfe-Maßnahmen stoßen jedoch dort an Grenzen, wo eine fachtherapeutische Behandlung einsetzen muss. Der Umgang mit akut traumatisierten Personen verlangt von Psychologen, Ärzten und Psychotherapeuten ein Vorgehen, das ihnen von keiner traditionellen Richtung der Psychotherapie her vertraut ist. Zunächst müssen die intrusiven Erinnerungsbilder gestoppt und die Patienten so weit stabilisiert werden, dass sie die Kontrolle über ihr aus den Fugen geratenes Seelenleben zurückgewinnen. In der folgenden Therapiephase wird dann die traumatische Erfahrung noch einmal durchgegangen, diesmal unter Bedingungen, die eine erneute Überflutung verhindern sollen. Misslingt dies, so kann der Patient sogar erneut traumatisiert werden. Dann schädigt die Therapie statt zu helfen. In der Vergangenheit war dies sogar eher die Regel als die Ausnahme. Traditionelle Psychotherapeuten verschiedener "Schulen" müssen deshalb nicht nur hinzu-, sondern vielfach auch umlernen.
Allgemein beruht die psychologische Traumatherapie auf zwei Prinzipien, die streng beachtet werden müssen: auf Normalität und Individualität. Ersteres lässt sich so umschreiben: "Wer Traumasymptome entwickelt, ist nicht verrückt. Er reagiert vielmehr völlig normal auf eine ver-rückte Situation." In der Vergangenheit wurden Traumapatienten jedoch oft "pathologisiert". Das kann sehr leicht passieren, da die Fachleute den Zusammenhang der Symptome mit dem furchtbaren Erlebnis oft übersehen. Auch den Betroffenen selbst bleibt der Zusammenhang verborgen, nicht zuletzt deshalb, weil sie automatisch alles vermeiden, was an den Vorfall erinnern könnte.
Gegen das zweite Prinzip, das der "Individualität", wird immer dann verstoßen, wenn die Betroffenen Standardratschläge erhalten, mit denen sie ihr Trauma angeblich bewältigen können. Hierzu gehören zum Beispiel so genannte Coping- und Bewältigungstechniken. Die Zeit unmittelbar nach einem traumatischen Ereignis ist aber denkbar ungünstig, um "Psycho-Techniken" zu erlernen, welche die Betroffenen in ihrem Leben noch niemals angewendet haben. Da ist es schon besser, sich auf das natürliche Repertoire zu besinnen und sich auf den natürlichen "Wundheilungsprozess" der Seele zu verlassen. Erfreulicherweise wirkt dieser tatsächlich, genau wie bei körperlichen Verletzungen auch. Er kann allerdings leicht gestört werden.
Ein Fortschritt der Traumatherapie besteht nun darin, dass wir gelernt haben, den natürlichen, individuellen Selbstheilungsprozess immer genauer zu erkennen und die therapeutischen Maßnahmen präzise darauf abzustimmen. Wer sich beispielsweise dadurch stabilisiert, dass er sich ablenkt, um das belastende Ereignis zu vergessen, den unterstützen wir gezielt in dieser Methode. Und wer sich bemüht, es zu verdrängen, dem helfen wir, noch effektiver zu verdrängen. Im Anschluss an diese Stabilisierungsphase kann dann das Trauma noch einmal durchgearbeitet werden.
Videofilm im Kopf
Regeln für Diagnostik und therapeutischen Umgang mit der wertvollen seelischen Selbstheilungskraft haben wir in der "mehrdimensionalen psychodynamischen Traumatherapie" festgelegt. Ein Beispiel für die Stabilisierungsphase:
Die Mitarbeiterin einer Bank hatte während eines Raubüberfalls die spontane Vorstellung entwickelt, der Überfall geschehe in einem Film, aber nicht in Wirklichkeit. Dieser Selbstschutzreflex hatte ihr die bedrohliche Situation sehr erleichtert. Im Nachhinein musste sie jedoch feststellen, dass sie den Film nicht mehr abschalten konnte. Immer wenn sie an den Vorfall dachte oder darüber sprach, kehrte das Unwirklichkeitsgefühl zurück.
Wir übten nun mit der Patientin, sich die ganze Szene auf dem Bildschirm eines Fernsehers vorzustellen. Sie nahm ? ebenfalls in ihrer Vorstellung ? die Fernbedienung zur Hand und versuchte, die Szene abzuschalten. Dies misslang: Der maskierte Täter blieb als "Miniatur" mitten auf dem Bildschirm stehen, und zwar gerade in der für die Frau bedrohlichsten Szene, als er mit der Pistole in der Hand über die Theke in den Kassenraum sprang.
Nach den Regeln unserer Traumatherapie konnten wir sicher sein, dass die Bildschirmtechnik dem natürlichen Bewältigungsrepertoire dieser Patientin entsprach, hatte sie doch selbst spontan die bedrohliche Wirklichkeit in einen Film umgewandelt. Wir baten sie deshalb, den Versuch noch einmal zu wiederholen und mit den Knöpfen ihrer imaginären Fernbedienung weiter zu experimentieren. Schließlich funktionierte die Rückspultaste: Der maskierte Bankräuber bewegte sich rückwärts, sprang zurück vor die Theke, schließlich schloss er vor sich die Tür. Jetzt hatte die Patientin den Film in ihrem Kopf gestoppt und so die Kontrolle über die bedrohlichen Erinnerungsbilder zurückgewonnen. Doch noch mehr: Der bisher automatisch ablaufende Film war jetzt überhaupt beendet. Die Patientin war in die Wirklichkeit zurückgekehrt und konnte jetzt das gesamte Geschehen noch einmal in kleinen Schritten durcharbeiten.
Wie lässt sich ein solcher Erfolg erklären? Am ergiebigsten ist ein Ansatz, der psychologische wie auch hirnphysiologische Komponenten enthält. Ein traumatisierendes Erlebnis setzt einen Selbstschutzreflex in Gang, der hinterher oft lange weiterwirkt, obwohl er dann nicht mehr nötig wäre. Nach unserer Methodik müssen wir dieser reflektorischen Bewegung der Patienten folgen. Die Reflexhandlung wird in eine bewusste Aufgabe umgewandelt. So auch im Falle der Bankangestellten: Die Anregung, das noch einmal bewusst auszuüben, was bisher automatisch ablief, also aktiv in den Trauma-Film einzugreifen, bewirkte die entscheidende Veränderung, sogar sehr rasch. Hirnphysiologisch gesehen wurde der unterbrochene Schaltkreis zwischen limbischem System und Hirnrinde wieder hergestellt ? zwischen Selbstschutzreflex und bewusster Handlungsplanung kam wieder eine Verbindung zu Stande.
Erfolgreiche Therapie
Die Methode, systematisch an die spontane Selbstheilungstendenz der Patienten anzuknüpfen, scheint sich therapeutisch zu lohnen. In einer kontrollierten Studie fand unsere Kölner Arbeitsgruppe heraus, dass im Mittel nur zehn Sitzungen genügen, um Betroffene der Trauma-Risikogruppe mit dieser Methode dauerhaft zu heilen.
Angesichts von Katastrophen wie in New York erscheint es als glücklicher Umstand, dass die Menschen wohl durchweg in der Lage sind, die für sie individuell passenden Hilfen selbst herauszufinden und gezielt zu nutzen. Diese Erfahrung haben wir jedenfalls mit unserer Selbsthilfebroschüre gemacht. Aus der Vielzahl angebotener Übungen wählen die Betroffenen meist intuitiv die für sie passenden aus. In der existenziellen Notlage eines Traumas greift der Mensch offenbar instinktiv auf Bewältigungsmethoden zurück, die ihm vertraut sind und ihm schon früher geholfen haben. So ist es möglich, einer größeren Gruppe von Betroffenen psychologische Erste Hilfe auch über eine Informationsschrift zukommen zu lassen. Ein Traumatherapeut ist ja nicht immer verfügbar. Und eine fachpsychotherapeutische Behandlung ist, erfreulicherweise, oft auch nicht erforderlich.
Wie man Trauma-Gefährdete erkennen kann
Um frühzeitig zu erkennen, ob die Opfer eines Gewaltverbrechens akuter psychotherapeutischer Unterstützung bedürfen, können Polizeibeamte den "Kölner Risikoindex" anwenden.
Dieser Index besteht aus einer Skala mit maximal 11 Punkten. Ein Punktwert von 6,5 bezeichnet die kritische Schwelle. Die einzelnen Risikofaktoren gehen gewichtet in den Gesamtwert ein. Das Hauptgewicht kommt situativen Umständen zu. Auch zwei individuelle Einflussgrößen werden berücksichtigt. Schließlich gibt es erfreulicherweise auch Faktoren, die vor Trauma schützen können; sie verringern den Indexwert.
Situative Bedingungensind: Schwere der Verletzungen (1 Punkt), subjektiv erlebte Lebensbedrohung (bis 2 Punkte), Schweregrad der traumatischen Situation (1 Punkt), Dauer der Bedrohung (1 Punkt, wenn über 1/2 Stunde), negative Reaktion von Funktionsträgern im Nachhinein (bis 1 Punkt), negative Reaktion der sozialen Umgebung (bis 1 Punkt), Bekanntheit des Täters bei Gewaltverbrechen (1 Punkt, wenn dies zutrifft), dauerhaft belastende Lebensumstände wie etwa Arbeitslosigkeit (1 Punkt).
Individuell: So genannte "peritraumatische Dissoziation", wie Unwirklichkeitserleben ("es ist ein Traum" oder "es läuft ein Film") oder Entpersönlichung ("ich stand daneben und sah zu, wie alles geschah"; "ein anderer war betroffen, nicht ich"; je nach Ausprägung bis zu 3 Punkten); vorausgehende Traumatisierung in der Lebensgeschichte (bis 2 Punkte).
Schutzfaktoren: Tragfähiges soziales Netzwerk (minus 2 Punkte); höhere Schulbildung und Intelligenz (bis minus 2 Punkte)
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2001, Seite 93
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