Sensorische Ökologie - Hören wie eine Heuschrecke
Durch elektrische Ableitung einer Nervenzelle, die aktiviert wird, wenn das Gehörorgan einen Schallreiz empfängt, kann man eine lebende Heuschreck als biologisches Mikrophon verwenden und ihr Hörvermögen in ihrem natürlichen Lebensraum erforschen.
Tiere haben Sinnesorgane, um sich damit im Raum zu orientieren sowie um Geschlechtspartner, Rivalen, Räuber und Beute zu erkennen oder Signale von ihnen wahrzunehmen. Grillen- und Heuschreckenweibchen hören zum Beispiel die Zirplaute der Männchen und laufen oder fliegen auf sie zu (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1986, Seite 78). Physiologen und Verhaltensforscher untersuchen solche Sinnesleistungen von Tieren in der Regel im Labor, wo sie die Qualität und Intensität der Reize physikalisch sehr gut kontrollieren können. Das Hörvermögen etwa wird in schalltoten Räumen gemessen, in denen weder Echos noch Hintergrundgeräusche auftreten. Ideale Experimentierbedingungen zu schaffen ist sinnvoll, um die absolute Empfindlichkeit und andere Eigenschaften der Sinnesorgane erforschen zu können. So läßt sich zum Beispiel prüfen, wie laut ein Ton oder Zirpsignal sein muß, um von einem Weibchen gerade noch wahrgenommen zu werden.
Im natürlichen Lebensraum der Tiere sind die Anforderungen an die Sinnesorgane und die zugehörigen Nervensysteme jedoch höher. Ein akustisches Signal wird dort oft von der Vegetation abgeschwächt oder durch Echos oder Wind verzerrt, so daß es wesentlich schlechter zu hören oder zu orten ist. Nun können die besonderen Übertragungseigenschaften des jeweiligen Lebensraums zwar mit einem Mikrophon untersucht werden. Doch hat sich gezeigt, daß zum Beispiel eine Heuschrecke durchaus nicht dasselbe hört, was ein Mikrophon aufnimmt – selbst wenn sich beide am gleichen Ort befinden. Das liegt vor allem an den völlig unterschiedlichen Eigenschaften der beiden Sensortypen, was etwa den Frequenzgang (Heuschrecken können Töne bis weit in den Ultraschallbereich hören), die absolute Empfindlichkeit oder die Richtwirkung betrifft.
Um die tatsächliche Hörleistung solcher Insekten in ihrem Habitat zu bestimmen, haben mein Kollege Jürgen Rheinlaender und ich im gemeinsamen Labor der Ruhr-Universität Bochum eine Versuchsanordnung konstruiert, die das Nervensystem des Versuchstiers selbst als Meßinstrument benutzt (Bild 1). Dabei wird eine Laubheuschrecke auf einer Halterung befestigt, in deren Sockel sich ein kleiner Verstärker zur Registrierung der elektrischen Aktivität von Nervenzellen befindet. Die etwa 40 Sinneszellen im Gehörorgan unterhalb des Kniegelenkes der Vorderbeine werden von einem Schallreiz erregt und übermitteln diese Erregung zu nachgeschalteten Nervenzellen im Brustbereich des Insekts. Mit feinen Elektroden kann man die Aktivität eines solchen Neurons registrieren und somit aufzeichnen, welche Schallreize das Gehörorgan wahrnimmt. Es handelt sich also gleichsam um ein biologisches Mikrophon, das uns wie die Heuschrecke hören läßt.
Eine wichtige Frage für jede Art von Kommunikation ist die nach der größten Entfernung, über die der Empfänger das Signal des Senders noch wahrnehmen kann. Gerade diese maximale Kommunikationsdistanz ist im Labor schwerlich zu bestimmen. Für den Gesang des Grünen Heupferds zum Beispiel ergibt sich bei idealer Schallausbreitung ein Wert von ungefähr einem Kilometer. Unseren Messungen mit dem biologischen Mikrophon zufolge ist das Zirpen dagegen – je nach Dichte der Vegetation – schon nach 5 bis 50 Metern so leise geworden, daß das Weibchen es nicht mehr hört.
Während Menschen die schalldämpfende Wirkung der Vegetation durchaus zu schätzen wissen, beschränkt sie für das singende Männchen den Wirkungsradius seiner Brautwerbung. Wie ich zusammen mit dem Zoologen Win Bailey von der Universität von West-Australien in Perth nachgewiesen habe, kann es diesen unerwünschten Effekt allerdings abschwächen, indem es das schützende Dickicht verläßt und oberhalb der Vegetation singt; dann ist sein Zirpen in einem viel weiteren Umkreis zu vernehmen (Bild 2).
Nun wirkt die Übertragungsstrecke allerdings nicht nur als Schalldämpfer, sondern auch als Frequenzfilter. Die Gesänge der Heuschrecken überdecken oft einen weiten Frequenzbereich, der von 5000 bis 50000 Hertz und höher reichen kann. Da hohe Töne wesentlich stärker gedämpft werden als tiefe, wirkt das Habitat gleichsam als Tiefpaß; im Extremfall gehen die hochfrequenten Gesangsanteile völlig verloren.
Ein besonders deutliches Beispiel dafür lieferten Versuche, die ich zusammen mit Glenn Morris von der Universität Toronto in Kanada an einer Heuschrecke vornahm, die abwechselnd Verse mit Frequenzen von 17000 und solchen von 34000 Hertz vorträgt (Bild 3). Schon in 10 Metern Entfernung vom Männchen reagiert das Nervensystem des Weibchens nur noch auf Laute bei 17000 Hertz, weil die höherfrequenten weggefiltert werden. Gerade diese sind aber besonders wichtig zur Lokalisierung des Sängers. In diesem Falle erschwert die Filterwirkung des Habitats also vor allem das Auffinden des Paarungspartners.
Schließlich wissen wir aus eigener Erfahrung, wie schwer es fällt, einer Unterhaltung zu folgen, wenn gleichzeitig um uns herum viele Menschen reden. Dieses Cocktail-Party-Problem haben Heuschrecken auch, wenn zahlreiche Männchen – manchmal sogar von mehreren Arten gleichzeitig – auf engem Raum zirpen und ein Weibchen in diesem Lautgewirr das spezifische Versmuster eines arteigenen Männchens erkennen muß. Wie es derart komplexe Reizsituationen bewältigt, läßt sich ebenfalls mit unserem biologischen Mikrophon untersuchen. In diesem Falle genügen allerdings Simulationen im Labor. Sie haben gezeigt, daß sogar das einfache Nervensystem einer Heuschrecke einzelne Stimmen aus dem großen Zirpchor zu isolieren vermag.
Wie diese wenigen Beispiele illustrieren, ist die Sinneswelt der Tiere in mehrfacher Hinsicht von ihrer Ökologie geprägt: Einerseits entscheidet die Beschaffenheit des Lebensraums mit darüber, ob Tiere vorzugsweise in einer Duft-, Klang- oder Farbenwelt leben. Andererseits können die Übertragungsbedingungen des Habitats einen wichtigen Selektionsdruck darstellen, der zu Anpassungen auf der Ebene der Sinnesorgane und Nervensysteme, der Signale oder des akustischen Verhaltens zwingt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 25
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben