Serie Praktische Psychologie : Vom Exorzismus zur Psychotherapie
Der Bus ist ihr einfach vor der Nase weggefahren. Dabei hat der Fahrer Anna doch noch genau gesehen! Sie wird zu spät kommen, ausgerechnet heute, wo eine wichtige Sitzung stattfindet. Und nun klingelt auch noch ihr Smartphone. Im richtigen Moment, denn am anderen Ende der Leitung ertönt eine Computerstimme, die sie fragt, wie stark bei ihr momentan bestimmte Gefühle vorhanden sind. Anna tippt bei Wut eine Zehn in ihr Handy ein, das bedeutet intensiv. Wie sie damit umgegangen sei, will der digitale Versuchsleiter daraufhin wissen.
Moderne klinische Forschung findet längst nicht mehr nur im Labor statt, sondern auch im realen Leben – so wie im Fall von Anna. Unsere Arbeitsgruppe an der Universität Heidelberg kontaktierte zwischen 2012 und 2014 mit Hilfe einer Software rund 300 Versuchsteilnehmer jeweils über einen längeren Zeitraum mehrmals täglich. Damit erfassten wir, wie sich diese in ihrem Alltag fühlten. Anschließend werteten wir aus, wie stark, wie häufig und wie wechselhaft die Probanden ihre Gefühle erlebten. Insbesondere interessiert uns dabei, wie sie mit diesen umgingen. Solche Befragungen im täglichen Leben können zu wichtigen Einsichten führen, die wir im Labor nur schwer erhalten. So sind Menschen mit einer depressiven Neigung zum Beispiel weniger in der Lage, ihre Emotionen effektiv zu regulieren, und grübeln eher, statt sie erst einmal wahrzunehmen und zu akzeptieren. Wir haben etwa nachgewiesen, dass unvermittelte Schwankungen positiver Gefühle mit einem höheren Risiko einhergehen, eine psychische Störung wie etwa eine Depression zu entwickeln, während unbeständige negative Gefühle, also wenn eine Person rasch zwischen Wut und Traurigkeit wechselt,weniger bedeutsam sind.
Psychische Störungen sind kein Phänomen der Neuzeit; es gab sie wohl schon immer. Heute sind sie in unserer Gesellschaft aber präsenter als früher – und sie werden mit wissenschaftlichen Methoden erforscht. Wie wichtig das ist, belegen aktuelle Statistiken: Seelische Leiden sind der dritthäufigste Grund für eine Arbeitsunfähigkeit und verursachen jeden siebten Krankheitstag im Beruf. Die Wahrscheinlichkeit, mindestens einmal im Leben eine solche Erkrankung zu entwickeln, liegt bei rund 43 Prozent. ...
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