Wilfried Feldenkirchen:: Siemens. Von der Werkstatt zum Weltunternehmen.
Piper, München 1997. 444 Seiten, DM 98,–.
Das hundertfünfzigste Jubiläum der Firma Siemens war Anlaß genug, die historische Entwicklung des Unternehmens in ihren wesentlichen Aspekten darzustellen. Zwar existieren einige Bücher zur Firmengeschichte, etwa die von Sigfrid von Weiher ("Werner von Siemens. Ein Leben für Wissenschaft, Technik und Wirtschaft", Muster-Schmidt, Zürich 1974), Sigfrid von Weiher und Herbert Goetzeler ("Weg und Wirken der Siemens-Werke im Fortschritt der Elektrotechnik", Franz Steiner, Stuttgart 1981) und Bernhard Plettner ("Abenteuer Elektrotechnik. Siemens und die Entwicklung der Elektrotechnik seit 1945", Piper 1994); sie betonen aber eher die technische Seite.
Wilfried Feldenkirchen, Ordinarius für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg, beschäftigt sich schon seit geraumer Zeit mit der Firma Siemens. Bereits 1992 legte er eine Biographie des Gründers Werner von Siemens (1816 bis 1892) vor; drei Jahre später folgte eine Dokumentation zur Geschichte der Firma von 1918 bis 1945.
Im vorliegenden Buch stellt er nun die Unternehmenspolitik in den Vordergrund. Von dem runden Geburtstag hat er sich nicht verleiten lassen, eine wissenschaftlich unergiebige Jubelschrift zu verfassen, obwohl er aus seiner Sympathie für den Firmengründer und das Unternehmen keinen Hehl macht. Feldenkirchen behandelt vor allem die betriebswirtschaftlichen Aspekte: Finanz- und Bilanzpolitik, das Auslandsgeschäft und die zahlreichen Beteiligungsgesellschaften, Forschung und Entwicklung sowie die Sozial- und Personalpolitik – das alles im ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext der jeweiligen Zeit. Er unterteilt seine Darstellung in die Perioden 1847 bis 1918, 1918 bis 1945 und 1945 bis 1997; innerhalb jeder Periode gliedert er das Material auf im wesentlichen gleiche Weise. Das garantiert zwar eine gewisse Vollständigkeit, erschwert allerdings die Darstellung periodenübergreifender Gedankengänge.
Schon die Urfirma, die 1847 gegründete Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske, verfolgte eine vorsichtige Expansionspolitik. Werner von Siemens, der erfolgreiche Erfinder und Unternehmer, schwärmte von einem "Weltgeschäft à la Fugger"; ein technisches Optimum war ihm jedoch stets wichtiger als ein betriebswirtschaftliches. Erfindungen und Innovationen nahmen in seinem Schaffen und in den Aktivitäten des Unternehmens eine Schlüsselstellung ein: der Bau der Telegraphenstrecke von Berlin nach Frankfurt am Main 1848/49, die Entdeckung des dynamo-elektrischen Prinzips 1866, die Seekabelverbindungen nach Amerika und die Indo-Europäische Telegraphenlinie in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Werner von Siemens war ein Systembauer im Sinne des amerikanischen Technikhistorikers Thomas P. Hughes: Erfindung, Innovation und Absatz bilden in diesem unternehmenspolitischen Ansatz eine Einheit. Auch später wurde diese Innovationspolitik kontinuierlich weiterverfolgt; Beleuchtungstechnik, Medizintechnik, drahtlose Nachrichtentechnik und die Entwicklung neuer Haushaltsgeräte sind bis zum Ende der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts als Beispiele zu nennen.
Wie manch anderer Unternehmer seiner Zeit pflegte Werner von Siemens einen patriarchalischen Führungsstil, der unbedingte Loyalität gegenüber dem Unternehmen mit Fürsorge vergalt: Pensionskasse, Spareinrichtungen, Gewinnbeteiligung sowie Mitwirkungsrechte erregten im 19. Jahrhundert Aufsehen und wurden von manchen Sozialpolitikern als beispielhaft hingestellt.
Die äußerst dichte und aussagekräftige Darstellung des Zeitraum von 1918 bis 1945 profitiert von der erwähnten Dokumentation Feldenkirchens zum gleichen Thema. Die Rationalisierungsphase der zwanziger Jahre, in der die Firma Siemens eine wichtige Rolle spielte, wird präzise analysiert, obwohl Heidrun Homburgs Buch "Rationalisierung und Industriearbeit. Arbeitsmarkt – Management – Arbeiterschaft im Siemens-Konzern 1900-1939" (Haude & Spener, Berlin 1991) unverständlicherweise im Literaturverzeichnis fehlt.
In Anbetracht der aktuellen Diskussion durfte man besonders darauf gespannt sein, was der Verfasser zur Rolle des Unternehmens im Nationalsozialismus zu sagen hat. Die einleitenden Sätze verheißen nichts Gutes: Feldenkirchen weist darauf hin, daß 1936 staatliche Aufträge bei Siemens & Schuckert bereits 50 Prozent aller Bestellungen ausmachten und das Gesamtunternehmen sich in den folgenden Jahren der zunehmenden Einbindung in Aufrüstung und Kriegswirtschaft "nicht entziehen" konnte. Soll hier wieder eine Firma, die an der nationalsozialistischen Aufrüstung recht gut verdiente, zu einem Opfer der Diktatur stilisiert werden? Glücklicherweise bestätigen sich diese Befürchtungen nicht. Feldenkirchen behandelt das Thema bei aller Knappheit differenziert; die Verstrickungen der Firma und der Einsatz von Zwangsarbeitern werden weder verschwiegen noch beschönigt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Siemens an die Erfolge der ersten hundert Jahre anknüpfen. Im Jahre 1966 verschmolzen die Stammgesellschaften Siemens & Halske, Siemens-Schuckert-Werke und Siemens-Reiniger-Werke – Reiniger steht für Medizintechnik – zur Siemens AG. Neue Produktlinien wie Daten-, Automobil- und Halbleitertechnik setzten die forschungs- und entwicklungsorientierte Unternehmenspolitik fort. Heute ist Siemens das fünftgrößte Elektrounternehmen der Welt und in den wichtigsten Gebieten der Elektrotechnik und Elektronik global engagiert.
Feldenkirchens Buch bietet eine wissenschaftlich fundierte, übersichtliche und konzentrierte Darstellung der Unternehmensentwicklung des Hauses Siemens. Dabei wendet es sich an ein breites Publikum. Gerade deshalb hätte man sich deutlich mehr Erläuterungen von Sachbegriffen im Text gewünscht. Wer weiß schon, ohne nachzuschlagen, was es mit einer selbstregulierenden Differentialbogenlampe (Seite 55) auf sich hat? Das Layout, an einer Illustriertenästhetik orientiert, ist nicht jedermanns Sache. Manche Seiten sind mit Illustrationen überladen, wobei manche Photos zu klein ausfallen und viele zeitgenössische Texte nur mit der Lupe zu entziffern sind. Bei verschiedenen Aufnahmen fehlt eine sachverständige Erklärung. Auch wird nicht nur der Fachmann bedauern, daß die Fußnoten, die oft eben nicht nur Quellen- und Literaturhinweise, sondern wichtige Ergänzungen des eigentlichen Textes bieten, an den Schluß verbannt wurden.
Abgesehen von solchen eher formalen Mängeln bietet das Buch aber einen gut lesbaren und substanzreichen Überblick der historischen Entwicklung eines wichtigen Industrieunternehmens.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1998, Seite 124
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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