Signal-Vorverarbeitung durch Dendriten im Kleinhirn
Die Erregung der baumartigen Fortsätze bestimmter Nervenzellen im Kleinhirn bewirkt einen vorübergehenden lokalen Einstrom von Calcium-Ionen, der in nichtlinearer Weise von der Reizstärke abhängt. Dies zeigt, daß die Dendriten ankommende Signale schon in gewissem Umfang vorverarbeiten, statt sie einfach zum Zellkörper weiterzuleiten.
Eine Nervenzelle im Gehirn ist über Synapsen genannte Kontaktstellen mit mehreren tausend anderen verbunden und empfängt so über ihre Dendriten (verzweigte Fortsätze) eine enorme Flut von erregenden und hemmenden Signalen. Diese laufen am Axonhügel des Zellkörpers zusammen, wo sie ab einer bestimmten Intensitätsschwelle einen elektrischen Impuls auslösen, der über das Axon – den signalausgebenden Fortsatz zu nachgeschalteten Neuronen geleitet wird. Ob die Zelle feuert, hängt nach herkömmlicher Auffassung hauptsächlich von der Summe der eintreffenden Signale ab, wobei auch die Geometrie der Dendriten, insbesondere ihre Entfernung vom Axonhügel, eine Rolle spielt.
Umfangreiche Forschungen der letzten Jahre haben aber gezeigt, daß die einlaufenden Signale schon in den Dendriten selbst vorverrechnet werden und daß dies entscheidend zur neuronalen Informationsverarbeitung beiträgt. An diesem Prozeß sind zum Beispiel lokal variierende Membraneigenschaften und insbesondere der momentane Erregungszustand beteiligt. Unter anderem verbessert sich dadurch das Verhältnis zwischen Signal und Rauschen, oder es werden wie bei einem Tiefpaß in der Elektrotechnik bestimmte Frequenzen herausgefiltert ("Trends in Neuroscience", Band 17, Seiten 166 und 257).
Sehr komplex gestaltet sich nach jüngsten Erkenntnissen auch die dendritische Vorverarbeitung in Purkinjezellen. Diese großen, birnenförmigen Neuronen der Kleinhirnrinde wurden erstmals von dem in Breslau und Prag wirkenden Physiologen Johannes Evangelista Purkinje (1787 bis 1869) beschrieben und haben je ein ins Kleinhirn absteigendes Axon; ihre zwei bis drei Dendriten hingegen weisen nach außen, sind extrem verzweigt und bilden eine gigantische rezeptive Oberfläche (Bild 1). Über auffällig abstehende, gut einen Mikrometer (tausendstel Millimeter) lange Dornfortsätze – Spines –sind sie mit den Parallelfasern verknüpft. Dies sind die Axone der Körnerzellen, die als Faserbündel senkrecht durch die Bäumchen der wie Spalierobst aufgereihten Purkinjezellen verlaufen. Dadurch empfängt jedes dieser Neuronen Signale aus bis zu 200 000 Körnerzellen. Hinzu kommen weitere Impulse beispielsweise von den sogenannten Kletterfasern: Axonen aus anderen Hirnregionen, die sich wie Schlingpflanzen um die Purkinjezellen ranken und ebenfalls synaptische Kontakte mit ihnen knüpfen.
Wie empfindlich und vielfaltig die derart komplex verschalteten Dendriten bereits auf wenige Reize reagieren, machten Experimente von Arthur Konnerth und Jens Eilers von der Universität des Saarlandes in Homburg sowie George J. Augustine von der Duke-Universität in Durham (North Carolina) deutlich ("Nature", Band 373, Seite 155). Die Forscher schnitten Kleinhirngewebe von Ratten in 0,3 Millimeter dünne, noch funktionsfähige Scheibchen (Slices) und reizten die Parallelfasern der Körnerzellen mittels Elektroden.
Diese Fasern schütten als Antwort auf einen elektrischen Impuls an den Synapsen, in denen sie enden, den Neurotransmitter Glutamat aus. Wenn sich dieser Botenstoff an bestimmte Rezeptoren der Purkinjezell-Dendriten anlagert, ruft er an deren Membran eine Spannungsänderung (Depolarisation) hervor.
Die Homburger Forscher konnten allerdings einen weiteren, besonders interessanten Effekt nachweisen: eine lokale Zunahme der Calcium-Konzentration im Innern der Purkinjezellen. Sie behandelten das Präparat mit Farbstoffen, die in Gegenwart von Calcium-Ionen (Ca2+) fluoreszieren, und untersuchten es mit der Methode der konfokalen Fluoreszenzmikroskopie, die hochaufgelöste, plastische Bilder mit großer Tiefenschärfe liefert (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, Seite 78).
Wie gezielte Manipulationen des Membranpotentials ergaben, öffnen sich bei der Depolarisation spannungsabhängige Calcium-Kanäle für einen kurzen Moment und lassen die entsprechenden Ionen aus dem umgebenden Milieu einströmen. Bemerkenswert dabei ist, daß der intrazelluläre Calcium-Spiegel nicht proportional zur Anzahl der aktivierten Synapsen ansteigt; die Informationsverarbeitung verläuft also nichtlinear. Ungefähr 20 bis 30 erregende Impulse der Parallelfasern sind nötig, damit der Effekt überhaupt auftritt.
In jedem Falle ist die Änderung der Ionenkonzentration vorübergehend und bleibt bei schwacher Reizung auf kleine dendritische Bereiche beschränkt (Bild 2). Im Gegensatz zu der klassischen, seit den fünfziger Jahren geltenden Vorstellung sind Dendriten also keine passiven Kabel, die einlaufende Impulse bloß zum Zellkörper weiterleiten, sondern integrieren die empfangenen Erregungen bereits in gewissem Umfang, so daß das Neuron sie räumlich und zeitlich zu differenzieren vermag.
Ob die Calcium-Ionen in die Dornfortsätze einströmen und dann in die Dendritenäste diffundieren oder ob sich auch dort Calcium-Kanäle befinden, die sich spannungsabhängig öffnen, läßt sich anhand der bisherigen Experimente nicht entscheiden ("Nature", Band 373, Seite 107). Für letzteres spricht jedoch, daß das Calcium-Signal schon nach 30 Millisekunden im gesamten betroffenen Dendritenabschnitt nachzuweisen ist und sich nicht weiter ausbreitet, sondern nach ein bis zwei Sekunden wieder abklingt.
Jedenfalls grenzt die spannungsabhängige Erhöhung der Calcium-Konzentration Bereiche unterschiedlicher Erregungszustände im Dendritengeflecht voneinander ab. Dies ist von großer Bedeutung für die synaptische Plastizität die als wesentliche neuronale Grundlage von Lernvorgängen gilt. Wie man seit einigen Jahren weiß, reagieren Purkinjezellen auf fortgesetzte Reizung mit einer lange anhaltenden Verminderung der Erregbarkeit. Dieses als Langzeitdepression bekannte Phänomen könnte darauf beruhen, daß unmittelbar bevor der Reiz aus einer Parallelfaser eintrifft, benachbarte Synapsen bereits durch eine Kletterfaser erregt worden sind. Nach den neuen Befunden hätten aber auch gleichzeitige Impulse aus mehreren Parallelfasern einen anhaltend dämpfenden Effekt. Die Erhöhung der intrazellulären Calcium-Konzentration aktiviert nämlich diverse biochemische Kaskaden, durch die beispielsweise Phosphatgruppen an die Rezeptoren in den betreffenden Dornfortsätzen geheftet werden können, was den von ihnen regulierten Ioneneinstrom beeinflußt.
Die nicht mehr so leicht erregbaren Purkinjezellen schütten an ihren Axon-Endigungen dann weniger von ihrem Neurotransmitter Gamma-Aminobuttersäure aus. Weil dieser Botenstoff die nachgeschalteten Nervenzellen hemmt wird der Erregungsspiegel insgesamt angehoben. Bedenkt man, daß eine Hauptaufgabe des Kleinhirns in der Steuerung und Koordination der Körperbewegungen besteht, könnten auf diese Weise neue Bewegungsmuster gelernt oder schon eingeübte verfeinert werden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1995, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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