Direkt zum Inhalt

Signalökonomie und Bildung


Technische Neuerungen verbreiten sich über vier Stufen: Zuerst fassen geniale Köpfe vorhandene Techniken zu neuen zusammen. Dann bringen Kaufleute, zumeist mit Hilfe von Kapitalanleihen, die Neuerung zu Markte; dafür ist Propaganda erforderlich wie in Religion und Politik – denn, wie der Volksmund sagt, was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht. Drittens bemächtigt sich das Publikum in großer Zahl der neuen Technik; sie wird allgemein. Schließlich sinken die Preise bei steigendem Umsatz. Langeweile breitet sich aus. Aber Neugier erfindet Novitäten. Das Spiel beginnt von vorne.
Im Jahre 1903 hat der Nationalökonom und Soziologe Werner Sombart (1863 bis 1941), der sich vor einem Jahrhundert gleichzeitig mit dem tschechoslowakischen Soziologen, Philosophen und Politiker Tomás Masaryk (1850 bis 1937) und anderen positiv-kritisch mit dem Marxismus auseinandersetzte, die geniale Paarung der Elektrizitätsgesellschaften mit dem Finanzkapital als ein "neues Stadium des Kapitalismus" bezeichnet. Gegenwärtig steigen wir in der Kommunikationstechnik von Stufe 2 zu Stufe 3, nachdem schon Radio, Fernsehen und Telephon in den elektrifizierten Gesellschaften selbstverständlich geworden sind und der vernetzte Computer sich anschickt, es zu werden.
Dabei bedient sich die Propaganda der Protagonisten des Schlagwortes Informationsgesellschaft, um den Anschein zu erwecken, die neue Kombination führe eine informierte Gesellschaft herauf, die den seit dem 18. Jahrhundert pädagogisch zentralen Begriff Bildung wieder in Form bringen könne. Er ist nicht zuletzt durch die Unbilden zweier Weltkriege beschädigt worden. Tatsächlich aber konstituiert die Dominanz der Technik bemerkenswerte Unterschiede zwischen "sich ein Bild machen" und "sich informieren".
Was der menschliche Organismus wahrnimmt, kommt ihm über mechanische, elektromagnetische und chemische Signale zu. Der Körper verarbeitet sie ökonomisch. Davon hängt die unablässige Erneuerung des Subjekts in den Auseinandersetzungen mit der Umwelt ab, wie der Neurologe Viktor von Weizsäcker (1886 bis 1957) sie in seinem gleichnamigen Buch von 1940 als "Gestaltkreis" beschrieben hat.
Bald sechzig Jahre danach darf man wohl sagen, daß es die Ingenieure sind, die mehr denn je vorgeben, was Bildung und Information heißen können. Die Geräte werden leichter zugänglich. Die Chancen indes, ihre immer komplizierteren Funktionen zu verstehen, werden gleichzeitig geringer. So entsteht der Irrtum, man könne auf Lesen, Schreiben, Rechnen und Vorwissen gänzlich verzichten, weil die Maschine einem diese mit Mühe zu erwerbenden Fähigkeiten erübrige.
Das Gegenteil ist richtig. Mit der Kommunikation nehmen auch Störungen zu; damit wachsen die Konfliktmöglichkeiten. Deshalb führt auch die Schwärmerei von einer globalen Informationsgesellschaft in die Irre.
Wer seine fünf Sinne beisammen hat, wird sich – bei aller Freude an neuen Kontaktmöglichkeiten – dem System nicht ausliefern und schon gar nicht den Propagandisten, die ihre temporäre Chance nutzen, Patente vor der Konkurrenz zu schützen und den Preis so hoch zu treiben, wie es eben geht, ehe die Oligopole zusammenbrechen. Das kann, wie die Strompreise zeigen, sehr wohl ein Jahrhundert dauern und länger.
Die Natur hat dem Menschen seine fünf Sinne gegeben, damit er (wie andere Lebewesen) Signale nuancieren kann: zu laut oder zu leise, zu hell oder zu dunkel, zu fern oder zu nah, zu warm oder zu kalt, wohl- oder übelschmeckend, wohl- oder übelriechend, Lust oder Schmerz oder beides bereitend. Solche natürlichen Unterscheidungen zu verfeinern nannte man Bildung, auch Ausbildung von Sensibilität bei der Entwicklung des empfindenden Menschen zu einer ganzheitlichen Persönlichkeit, ehe um 1830 im Gefolge der Schnellpresse und Lithographie Sensationsblätter aufkamen, die sentimentale Defizite vermarkteten, indem sie von Tag zu Tag und Woche zu Woche Urängste recycelten. Mit der Formierung des militärisch-industriellen Komplexes kam dann die Angst hinzu, uninformiert zu sein und von der "Lokomotive des Fortschritts" überfahren zu werden. Heute beschleunigt die elektronische Revolution die Vermarktung dieser Angst in Permanenz.
Zu- oder Abwenden, Verschlingen oder Ausspucken sind als Ergebnisse sinnlicher Differenzierung, wie der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856 bis 1939) sie als Bemächtigungstrieb analysiert hat, auf alle Sinne angewiesen. Die multimedialen Techniken kommen der menschlichen Kondition entgegen, ohne sie aber befriedigen zu können, solange sie nur auf akustische und optische Signale reduziert sind. Die einen "dröhnen zu", wie es im Jugendjargon heißt, die anderen vermitteln im wesentlichen optische Täuschungen, die eigentlich im Grundschulunterricht verständlich gemacht werden müßten – gewiß vor Gesellschaftskunde und Medienpädagogik. Betrachtet man nämlich deren Resultate im Hinblick auf Fernseh-Zapper und Internet-Surfer, wünschte man ihnen mehr Erfolg.
Der wäre wichtig, weil die Schimären vom globalen Dorf, vom Cyberspace und von virtuellen Welten falsche Erwartungen wecken, die in soziale Destruktion umschlagen können. Es ist vielfach und richtigerweise gesagt worden, daß die elektronische Revolution die Grundlagen der Kultur verschiebe. Diese liegen stets in der Arbeitsteilung. Wer eine enorme Zahl von Menschen über weiteste Strecken in kürzester Zeit mit seiner Botschaft erreicht, der gibt den Arbeitstakt an. Die Entwicklung, Produktion und Distribution von Gütern rund um den Globus und rund um die Uhr macht das bereits vor. Die Macht von Menschen über Menschen beginnt mit der Usurpation der unersetzlichen Lebenszeit anderer.
Gegenwärtig zeichnen sich infolge verbesserter Telekommunikation zwei Arten von Signalökonomie ab. Die eine steigert mit computerisierter Kontrolle den Arbeitsertrag von Entlohnten durch Beschleunigungen. Die andere macht alte Berufe, bislang gebrauchtes Personal und Lehrlinge überflüssig. Die Ausgemusterten oder gar nicht erst Eingestellten sind nur noch in der Unterhaltungselektronik als Quote nützlich, weil ihre unentgoltene Wahrnehmungsarbeit mit Hilfe statistischer Manipulation in verkäufliche Zeiteinheiten gewechselt werden kann. In Form von Werbungskosten auf den Preis der beworbenen Ware aufgeschlagen, wird diese Arbeit am Ende auch von denen bezahlt, die sie geleistet haben. Das entspricht dem Prinzip einer sogenannten Dienstleistungsgesellschaft, welche die Konsumenten für Dienste, die sie selber erbringen, zur Kasse bittet.
Vor genau 150 Jahren, im Februar 1848, sagten Karl Marx (1818 bis 1883) und Friedrich Engels (1820 bis 1895) in ihrem "Kommunistischen Manifest" voraus, die Bourgeoisie reiße durch "die unendlich erleichterten Kommunikationen auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation". Das mit dem Schlagwort Globalisierung bezeichnete derzeitige Geschehen gibt ihnen mehr denn je recht. Bei bald sechs Milliarden Menschen vernetzen sich aber notwendigerweise auch deren Konflikte, und neue entstehen durch die Vernetzung. Toleranz ist eine Funktion der Distanz. Im Eigeninteresse unserer Zivilisation – zumindest der Rudimente von europäischer Antike, Christentum und Aufklärung – wäre es ratsam, darauf zu achten, daß die technisch unvermeidliche Formatierung der Sinnlichkeit die Humanität nicht zerstört.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1998, Seite 48
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.