Agnosie: Die Frau, die nur noch Details sah
Alles fing damit an, dass Frau A. nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr sicher Auto fahren konnte. Irgendwann hörte sie auf, die Blechschäden zu zählen. Hinzu kamen Probleme beim Lesen, die trotz mehrfacher Brillenwechsel nicht verschwanden: Die Wörter schienen vor ihren Augen herumzuspringen, und wenn sie am Ende einer Zeile angekommen war, fand sie nur schwer den Anfang der nächsten. Die Veränderungen fielen auch bald ihren Angehörigen auf. Einmal bat sie etwa ihre Tochter darum, das Salz aus der Küche zu holen, obwohl der Streuer gut sichtbar direkt vor ihr auf dem Tisch stand. Auch nach vielen augenärztlichen Untersuchungen schienen ihre zunehmenden Sehstörungen unerklärlich. Nach einem Jahr überwies ihr Augenarzt sie schließlich an die Neurologie.
Als Frau A. zu uns kam, war sie 57 Jahre alt. Um einen ersten Eindruck zu bekommen, gab ich ihr eine Doppelseite des Magazins »People« in die Hand, auf der eine königliche Hochzeit abgebildet war. Ich bat sie, ihre Brille aufzusetzen und mir die Szene zu beschreiben. Ihre Schwierigkeiten offenbarten sich umgehend: Frau A. erklärte mir, dass sie ein Wagenrad sehe, eine Art Tor und eine Braut. Als ich auf weiteren Ausführungen bestand, lieferte sie mir nur zusammenhanglose Details. Es gelang ihr nicht, die Szene als Ganzes einzuordnen …
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