Kommentar: Sind die Schäden wirklich irreparabel?
Ohne Frage haben Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller Missbrauch im Kindesalter verheerende und lebenslange Auswirkungen auf die emotionale und körperliche Entwicklung der Opfer. Doch im Einzelfall bleibt häufig offen, ob frühkindlicher Missbrauch stattgefunden hat oder nicht. Amerikanische und britische Psychologenverbände warnen davor, frühkindlichen sexuellen Missbrauch, der zum ersten Mal in einer Therapie herausgearbeitet wird, als gesichert zu betrachten (siehe "Falsche Erinnerungen" von Elizabeth F. Loftus, SdW 1/1998, S. 62).
Teichers Artikel vermittelt den Eindruck, endlich sei der Nachweis möglich, dass bei einer bestimmten Person sexueller Missbrauch und Misshandlung stattgefunden haben. Ähnlich zuverlässig wie bei einem DNA-Test sei eine bestimmte Kombination von neurophysiologischen und neuroradiologischen Befunden in eindeutiger Weise mit materiell fassbaren Relikten des Traumas verknüpft.
Die Schwierigkeiten beginnen allerdings schon bei der Bestimmung der Begriffe. So klingen bei "Trauma" immer mehrere Bedeutungen mit, die zwischen der Wunde und dem Ereignis, das sie hervorrief, hin- und herschwanken und auch keinen deutlichen Unterschied zwischen einmaliger Verletzung und deren lebenslangem Fortwirken machen. Wenn also Veränderungen im Gehirn feststellbar sind – beziehen sie sich auf ein einmaliges Ereignis oder auf dessen Folgeerscheinungen über Jahre hinweg? Wie sind die Befunde von Balkenverkleinerung, Hippocampus- und Amygdala-Atrophie einzuordnen, wenn sie Jahrzehnte nach dem Trauma festgestellt werden? Dass einmalige Veränderungen so lange überdauern könnten, ist bei der bekannten Plastizität des Gehirns kaum vorstellbar.
Weiterhin ist zu fragen: Sind die am Gehirn von Patienten beobachteten Veränderungen ein Beweis dafür, dass Misshandlung und Missbrauch stattgefunden haben? Schlüssig wäre ein solcher Beweis, wenn sich psychiatrischer Fall, psychiatrische Klassifikation sowie spezifisches Muster neuroradiologischer und elektrophysiologischer Hirnveränderungen eins zu eins aufeinander abbildeten. Doch das trifft nicht zu. In der Psychiatrie ist über die Ursachen der einschlägigen Erkrankungen nichts Genaues bekannt. Die Krankheitsklassifikation basiert ausschließlich auf klinischen Beschreibungen. Bereits 1913 sah der Philosoph und Psychologe Karl Jaspers in seiner "Allgemeinen Psychopathologie" die ideale Forderung, dass es für jeden Fall nur eine diagnostische Kategorie geben dürfe, als nicht erfüllt an: Anstelle von Krankheitseinheiten träten vielerlei Variationen seelischer Störungen auf, die "überall und nach allen Richtungen fließend ineinander übergehen".
Das Problem potenziert sich, wenn die ohnehin sehr ähnlichen Krankheitsgruppen gleiche neuroradiologische Befunde zeigen. So lassen sich die laut Teicher für Kindesmisshandlung und sexuellen Kindesmissbrauch typischen Befunde – Atrophie des linken Hippocampus und der linken Amygdala, verzögerte Reife der linken Hemisphäre und Verkleinerung des Balkens – auch bei Schizophrenie, Depression und Borderline-Persönlichkeitsstörung nachweisen. Die Verwirrung ist vollständig, wenn Patienten all dieser Krankheitsgruppen von einer Vorgeschichte mit Kindesmissbrauch und Gewalt berichten. Inzwischen setzen einige Psychotherapeuten den frühkindlichen Kindesmissbrauch geradezu als universelle Krankheitsursache voraus, und der amerikanische Psychiater Colin A. Ross macht frühkindliche Traumata, insbeson-dere den Kindesmissbrauch, für die Entstehung aller psychiatrischen Erkrankungen verantwortlich.
Im Jahre 1896 bemerkte Sigmund Freud zu eigenen psychoanalytischen Arbeiten, "dass die vermuteten traumatischen Erlebnisse in der frühesten Kindheit des Kranken vorfallen und als sexueller Missbrauch im engeren Sinne zu bezeichnen sind". Offensichtlich war Freud eine Überprüfung des Wahrheitsgehalts dieser Missbrauchserlebnisse später unwichtig, weil das Störungsbild Hysterie ungeachtet dessen, ob sexueller Missbrauch in der Kindheit stattgefunden hatte oder nicht, durch so offensichtliche Phänomene wie Verdrängung und Konversion ("Umsetzung psychischer Erregung in körperliche Dauersymptome") gekennzeichnet war.
Zu dieser Einsicht war Freud in der Zusammenarbeit mit dem Arzt Joseph Breuer gekommen, der wiederum sehr intensiv die Patientin Anna O. untersucht hatte. Die 21-Jährige war durch die Pflege ihres siechen Vaters überfordert und selbst schwer erkrankt. Was hätten Breuer und Freud im Gehirn von Anna O. gefunden, wenn sie damals über die heutigen bildgebenden Verfahren verfügt hätten?
Angesichts der Befunde Teichers ist die Frage deshalb so reizvoll, weil Anna O., wie Breuer formulierte, eine überwiegend linkshirnige Symptomatik ausgebildet hatte. Trotz dieser neurologischen Erscheinungen waren Breuer und Freud überzeugt, dass sich das Gehirn der Anna O. in keiner Weise von dem ihrer normalen Altersgenossinnen unterscheide. Diese Sicherheit rührte daher, dass es Joseph Breuer gelungen war, die neurologischen Symptome der Anna O. aufzulösen, indem er das traumatisierende Ereignis in das Bewusstsein der Patientin zurückrief.
Sigmund Freud wiederum lernte an diesem Fall, dass "die hysterischen Symptome Überreste affektiv betonter Erlebnisse" und als solche dem "Bewusstsein des Individuums nicht zugänglich sind". Freud sah den therapeutischen Erfolg in der Aufhebung der Verdrängung – das heißt, "ein Teil des unbewussten Materials" wurde wieder dem Bewusstsein zugeführt. Im Gegensatz zu der eher statischen Auffassung, die Teicher vertritt, stellte Freud fest: "Unsere Auffassung ist dynamisch, sie versteht die psychischen Vorgänge als Folge der Verschiebungen von psychischer Energie."
In Teichers Terminologie ist die posttraumatische Belastungsstörung ein "Hardware-Problem". Entsprechend pessimistisch beurteilt Teicher die Folgen frühkindlicher Traumatisierung. Für ihn ist die neuronale Entwicklung nach einem solchen Ereignis unwiderruflich verändert. Im Besonderen meint er, Psychotherapie sei unwirksam und verharmlose die posttraumatische Störung als Software-Problem.
Letztlich stellt sich die Frage, ob Teichers biologische Theorie ausreicht, die psychoanalytische Theorie zu ersetzen. Wäre es nicht lohnenswert, Versuchsanordnungen auszudenken, die es erlauben, psychoanalytisches Gedankengut unter Standardbedingungen zu reproduzieren? Dies ist inzwischen geschehen. Die Psychologen Michael C. Anderson und Collin Green von der Universität Oregon erzeugten experimentell die Verdrängung bestimmter Erinnerungen bei 32 Studenten (Nature, Bd. 410, S. 366, 2001). Sie forderten die Testpersonen auf, eine mit einem vertrauten Gegenstand verknüpfte Erinnerung jedes Mal aktiv zu vermeiden, wenn der vertraute Gegenstand gezeigt wurde. Nach mehreren Durchläufen wurde diese Erin-nerung verdrängt und später nur sehr schlecht wiedererinnert. Diese Studie ist ein viel versprechender Anfang, hemmende Einflüsse auf das Gedächtnis zu untersuchen, die gewiss nicht Folge von Gewebszerstörung sind.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2002, Seite 82
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