Wahrnehmung: Sinfonie der Sinne
Gegen Ende der 1970er Jahre engagierte das FBI (Federal Bureau of Investigation, Ermittlungsbehörde der US-Bundespolizei) neun gehörlose Mitarbeiter, um Fingerabdrücke zu analysieren. Man nahm an, Gehörlosen fiele es leichter, sich auf die akribische Tätigkeit zu konzentrieren. Doch eine Frau, Sue Thomas, fand die Aufgabe vom ersten Tag an unerträglich langweilig. Sie beklagte sich darüber so oft bei ihren Vorgesetzten, dass sie mit der Kündigung rechnete, als man sie mit anderen Agenten zu einer Aussprache vorlud.
Doch Sue Thomas wurde nicht gefeuert, sondern in gewissem Sinn sogar befördert. Die Agenten führten ihr eine Stummfilmaufnahme von zwei Verdächtigen vor und baten sie, deren Unterhaltung zu entschlüsseln. Die Kollegen hatten bei ihren eigenen Gesprächen mit Thomas bemerkt, wie geschickt sie von den Lippen ablas. Wie erwartet deutete die Gehörlose den Dialog der Verdächtigen ohne Weiteres: Die beiden waren dabei, illegale Glücksspiele zu organisieren. So wurde Sue Thomas die erste FBI-Expertin für Lippenlesen.
Sie hatte diese Fertigkeit perfektioniert, weil sie als Gehörlose von Geburt an auf sie angewiesen war, doch unbewusst verfügen wir alle über das gleiche Talent. Tatsächlich verstehen wir schlechter, was jemand sagt, wenn wir seine Lippen nicht sehen können – vor allem bei lauter Umgebung oder wenn jemand mit starkem Akzent spricht. Zur normalen Sprachentwicklung gehört, dass wir lernen, Gesprochenes nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen wahrzunehmen. Deshalb brauchen blinde Kinder oft überdurchschnittlich lange, um gewisse Feinheiten des Sprechens zu lernen. Unweigerlich kombinieren wir die Wörter, die wir auf den Lippen des anderen sehen, mit den Wörtern, die wir hören. Durch die Erforschung der multisensorischen Sprachwahrnehmung hat sich unser Bild von der Art und Weise, wie das Gehirn die unterschiedlichsten Sinnesdaten organisiert, in den vergangenen Jahren radikal gewandelt. ...
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