Spaghetti-Wettrennen
Ein flüssiger Computer löst nicht nur das Problem des Handlungsreisenden, sondern auch die Nachwuchssorgen einer kriminellen Vereinigung.
Horst hatte erst vor wenigen Wochen als Lastwagenfahrer in der großen Speditionsfirma angefangen – und war bereits Gegenstand intensiven Firmenklatschs. Es kam nicht allzu häufig vor, daß ein Wagen der Spedition die eigene EDV-Abteilung belieferte; aber wenn, dann konnte man darauf wetten, daß Horst der Fahrer war und daß alle folgenden Liefertermine sich merkwürdig verzögerten.
Allgemein galt Sabine aus der EDV-Abteilung als die Ursache. Offensichtlich fand sie den muskulösen Typ mit dem verführerischen Lächeln irgendwie aufregend. Nur ihr Kollege Wolfgang, der für die Tourenplanung zuständig war, fand es wenig plausibel, daß Horst sich mehr für die Arbeit der Abteilung zu interessieren schien als für Sabine selbst. Die beiden Herren hätten sich fast geprügelt, als Horst Notizzettel auf Wolfgangs Schreibtisch sehr intensiv studierte und der ihn dabei erwischte. Sabine hatte alle Mühe, die Gemüter zu beruhigen.
"Was soll denn das Theater?" fragte Horst. "Habt ihr da irgendwelche Geheimnisse?"
"Dummes Zeug", schnaubte Wolfgang. "Du sollst bloß deine Finger von meinen Sachen lassen."
"Dann kannst du mir ja auch erzählen, was dieses hübsche Schema bedeutet" (Bild).
"Verstehst du sowieso nicht. Graphentheorie."
"Quatsch. Wir haben keinen einzigen Grafen in der Firma. Aber die Typen, die an den dicken Punkten stehen, kenne ich fast alle: Kollegen von mir, zwei von der Auftragsannahme, ach, und die Chefin von der Finanzbuchhaltung ..."
"Das mußt du ganz abstrakt sehen, Horst", mischte sich Sabine ein. "So ein Ding heißt Graph – mit ph. Die dicken Punkte heißen Knoten und die Linien zwischen ihnen Kanten."
"Und wieso sind manche rot und manche blau?"
"Die roten gibt es eigentlich nicht."
"Hä?"
"Paß auf. Du siehst doch, daß jeder Knoten mit jedem durch eine Kante verbunden ist. Es kommt übrigens nicht darauf an, wo die Knoten sitzen. Wenn es viele sind, ordnet man sie gerne im Kreis an, damit es übersichtlicher ist. Wenn jeder Knoten mit jedem durch eine Kante verbunden ist, nennt man das den vollständigen Graphen. Aber spannend wird es meistens erst, wenn es nicht alle Verbindungen gibt."
Horst schaute Sabine wohlgefällig, aber verständnislos an.
"Paß auf. Stell dir vor, die Knoten wären irgendwelche Leute, und eine Kante zwischen zwei Leuten sagt, daß die beiden gut befreundet sind."
Wolfgang bedeutete Sabine hinter Horsts Rücken verzweifelt, den Mund zu halten. Horst schien davon nichts zu merken: "Also du bist ein Knoten, ich bin ein Knoten, und zwischen uns gibt es eine Kante."
"Richtig, mein stürmischer Freund. Zwischen Wolfgang und mir auch, und zwischen Wolfgang und dir eher nicht."
"Ach so. Daher die rote Linie zwischen Wolfgang und mir."
"Genau. Um anzuzeigen, daß es da keine Kante gibt. Die Knoten und die blauen Linien zusammen sind ein Graph, die Knoten mitsamt den roten Linien sind der komplementäre Graph dazu."
"Komple...?"
"Komplementär. Das, was den Graph zum vollständigen Graphen ergänzt."
"Sag mal, aber eigentlich macht ihr doch hier Tourenplanung und sowas. Was soll dann diese Graphentheorie?"
"Ich sag doch, das verstehst du nicht", meldete sich Wolfgang wieder zu Wort. "Tourenplanung ist ein kombinatorisches Problem."
"Wenn du das sagst. Ich verstehe sowieso nicht, wieso ihr für diese Planerei immer die teuersten Computer haben müßt. Hier sind 20 Laster, die müssen vielleicht insgesamt 400 Fahrten am Tag machen. Also packst du in jeden Laster Kisten, bis er voll ist, und schickst ihn auf die Reise. Wo ist das Problem?"
"Ich sag doch, du hast keine Ahnung. Ihr sollt ja keine überflüssigen Kilometer machen. Also soll jeder Fahrer möglichst nur Ziele in derselben Gegend anfahren." Während er sprach, räumte Wolfgang hastig den Zettel beiseite.
"Na schön. Packst du ein paar Kisten aus dem einen Laster raus und in den anderen rein. So viele Möglichkeiten gibt es da doch gar nicht."
"Und ob. Mehr, als es im Weltall Atome gibt. Deswegen ist das Problem doch schwer."
"Dann sollen doch eure Computer die Möglichkeiten alle durchprobieren."
"Geht doch nicht, du Trottel. Ein Computer ist zwar sehr schnell, aber er probiert immer nur eine Möglichkeit auf einmal. Bis der fertig wäre, lägen wir alle längst unter der Erde."
Das Telephon klingelte. Ein noch zu beliefernder Kunde beschwerte sich, daß die Ware nicht just in time eingetroffen sei, und Horst blieb nichts übrig, als sich hastig zu verabschieden.
Das nächste Mal richtete er es geschickter ein. Er bediente zuerst alle externen Kunden und traf erst nach Feierabend in der Abteilung ein. Sabine war noch da und wartete sehnlich auf die Lieferung, die schon vor Stunden hätte eintreffen sollen – und auf den Lieferanten.
Horst hatte es überhaupt nicht eilig mit Ausladen. Er nahm Sabine auf den Schoß und säuselte: "Was habt ihr denn für ein kombinatorisches Problem mit eurem Graphen?"
"Das Problem der größten Clique, Süßer."
"Clique?"
"Das nennen die so. Sagen wir lieber Freundeskreis. Das sind lauter Leute, die ausnahmslos miteinander befreundet sind. Wir suchen also den größten Freundeskreis in einem gegebenen Graphen."
"Was ist denn daran so schwer? Wir beide sind schon schon mal ein Freundeskreis ..."
"... aber ein ziemlich kleiner ..."
"... und die Freunde deiner Freunde sind auch ..."
"Eben nicht. Denk an den lieben Wolfgang. Deswegen ist das Problem ja schwer. Du kannst nicht mit irgendeinem Knoten anfangen und dessen Freunde dazunehmen und dann deren Freunde, bis es nicht mehr weitergeht. Du mußt eigentlich jede Teilmenge der Knotenmenge daraufhin überprüfen, ob sie eine Clique ist."
"Na und?"
"Das sind viele! Bei n Knoten sind das 2n Stück. Bei 20 Leuten schon eine satte Million, und mit jedem, der dazukommt, verdoppelt sich die Anzahl."
"Bor äy." Er faßte Sabine beherzt um die Taille. "Sag mal, du bist doch eigentlich nicht zu dick."
"Nein, wieso?"
"Was mußt du dann rohe Spaghetti als Diät knabbern?"
"Laß deine Finger von meinen Spaghetti!" rief Sabine. "Die sind nicht zum Essen."
"Sondern was?"
"Das ist ein Computer."
"Seid ihr jetzt total übergeschnappt? Ich glaub, ich muß dir mal zeigen, was man mit Spaghetti macht. Ich weiß da ein tolles Rezept mit Kräutern und Knoblauch ..."
"Jetzt mach deine große Klappe mal einen Moment zu", sagte Sabine und strich ihm über seinen Schnauzbart. "Du hast doch gerade gehört, daß dein Lastwagenproblem viel zu viele denkbare Lösungen hat. Da ist es schon schwierig, herauszufinden, welche die beste ist ..."
"... wenn man alle Lösungen hätte."
"Ja. Man müßte nämlich jede Lösung mit jeder vergleichen – na ja, nicht ganz, man kann es geschickter anstellen, aber auf jeden Fall müßte der Computer sich alle Möglichkeiten nacheinander anschauen, selbst wenn er sie alle auf einmal zur Verfügung hätte. Und das würde wieder ewig dauern."
"Aber was helfen deine Spaghetti dagegen?"
"Stell dir vor, jede Möglichkeit ist eine Spaghettistange – je besser die Möglichkeit, desto länger. Wie kriegst du raus, welche die längste ist? Ganz einfach: Du stößt den Haufen schön locker auf die Tischplatte – nicht mit Gewalt, Horst – und bewegst die flache Hand von oben sorgfältig drauf zu. Die Stange, an die deine Hand zuerst stößt, ist die richtige" (siehe "Computer-Kurzweil" von A. K. Dewdney, Spektrum der Wissenschaft, September 1984, Seite 8).
Horst zeigte auf einmal ungeheures Interesse an theoretischer Informatik. "Und jetzt wollt ihr Hunderte von Rechenknechten mit Spaghettiaufstoßen beschäftigen?"
"Nein, das ist nur ein theoretisches Modell. Du weißt doch, bei Computern ist alles unglaublich schnell und winzig. Wir arbeiten mit Miniatur-Spaghetti."
"Diese matschigen Fadennudeln?"
"Viel kleiner. Kannst du gar nicht mehr sehen."
"Was? Mikroskopisch klein?"
"Noch viel kleiner."
Wolfgang war leise hereingekommen und fand es an der Zeit, zu unterbrechen. "Horst, ich denke, du hast uns noch was abzuliefern. Was ist es denn?"
"Computer", antwortete er widerwillig. "Steht auf dem Lieferschein." Er hatte nicht damit gerechnet, daß Wolfgang so spät auch noch im Büro war.
"Wie wär's denn, wenn du die allmählich mal anbringen würdest?"
"Ist ja gut, ich geh ja schon. Sind aber ziemlich viele Kisten."
Kaum hatte Horst sich getrollt, schimpfte Wolfgang: "Das brauchst du dem doch wirklich nicht in allen Einzelheiten zu erklären. Versteht der doch sowieso nicht."
"Da hätte ich nicht solche Sorgen."
"Aber ich."
"Was? Daß er's nicht versteht oder daß er's versteht, du Geheimniskrämer?"
"Ach was. In dieser unwissenschaftlichen Sprache kann man das doch nicht erklären."
"Du Schnösel. Wissenschaft ist nicht an hochgestochene Sprache gebunden. Du hast ja bloß Angst, daß jemand was von deinen Projekten mitkriegt."
Horst karrte die erste große Pappkiste heran und stellte sie in die Ecke. "Ich kann nichts dafür", sagte er gleich entschuldigend. "Ich habe die Kisten ordentlich gestapelt, nicht gestoßen und nicht im Regen stehen gelassen."
"Sagt ja auch keiner."
"Dann sind das aber komische Computer, die ihr geliefert kriegt. Da drinnen plätschert's."
"Kann überhaupt nicht sein", erwiderte Wolfgang ganz schnell. "Du hast dich verhört."
Horst wechselte bereitwillig das Thema. "Was sind das für Mini-Spaghetti?"
"Nicht Spaghetti. Spirelli", lästerte Wolfgang.
"Ach was", erwiderte Sabine. "Die sind nur so ein bißchen verzwirbelt."
"Aber was ist das Zeug denn nun? Du willst mir doch nicht erzählen, daß ihr hier mikroskopische Nudeln kocht."
"Das Zeug heißt DNA."
"Hä?"
"Desoxyribonucleinsäure", erläuterte Wolfgang betont deutlich.
"Ach nee. A wie Säure, oder was?"
"Richtig. Ist nämlich englisch. A wie acid wie Säure. Die berühmte Erbsubstanz. Lange Stränge mit lauter regelmäßig aufgereihten Anhängseln verschiedener Art. Und wenn zwei Stränge mit ihren jeweiligen Anhängseln genau zusammenpassen, lagern sie sich seitlich aneinander und bleiben beisammen – jedenfalls ein Weilchen", sagte Sabine und strahlte Horst an.
Dessen wissenschaftliches Interesse fand kein Ende. "Und wie findet ihr nun von diesen DNA-Spaghetti die längste?"
"Wir tun sie in die Wanne."
"Aber dann werden sie doch weich."
"Sind sie sowieso. Das macht nichts. In der Wanne ist auch kein Wasser, sondern so eine Art Gelee – ziemlich dünne Schicht übrigens. Darin können sie zwar schwimmen, aber nur mühsam."
"Und was soll das?"
"Wir legen ein elektrisches Feld an den Glibber an. Dann wollen alle Stränge zu einem Pol des Feldes wandern ..."
"Wieso?"
"Weil sie elektrisch geladen sind. Aber sie können nicht so recht, wegen der zähen Brühe. Je länger der Strang, desto schwerfälliger ist er. Nach einer Weile schauen wir nach. Der Strang, der den kürzesten Weg zurückgelegt hat, ist der längste. Das ist der moderne Spaghetti-Computer."
"Gel-Elektrophorese", warf Wolfgang ein.
Horst holte die nächste Kiste, um Zeit zum Überlegen zu haben. Aber dann fragte er unverdrossen weiter. "Jetzt weiß ich, wie ihr von euren Spaghettisträngen den längsten findet. Aber wo kriegt ihr die vielen Spaghetti her?"
"Die machen sich selber."
"Wie?"
"Na ja, nicht ganz. Wir tun lauter kurze Stränge zusammen und stellen das richtige Ambiente her, daß sie sich gerne paaren."
"Gute Idee", sagte Horst und drückte Sabine an sich.
"Nicht wie du denkst. Sie lagern sich nicht Kopf an Kopf aneinander, sondern verkehrtrum."
"Wie? Kopf an Schwanz?"
"Nicht ganz. Ungefähr vordere Hälfte des einen Strangs an umgekehrte vordere Hälfte des anderen, weil die Anhängsel gerade so gewählt sind, daß es nicht anders paßt. Die hinteren Enden hängen beiderseits über."
"Na ja ..."
"Neben das hintere Ende lagert sich dann ein anderes hinteres Ende – in Gegenrichtung –, an das zugehörige Vorderende wieder eine anderes Vorderende und so weiter. Auf diese Weise kommt ein ziemlich langer Doppelstrang zusammen" (siehe "Rechnen mit DNA" von Leonard M. Adleman auf Seite 70).
Horst kratzte sich am Kopf. "Und wozu soll das gut sein?"
"Erinnere dich an das Problem der größten Clique. Jede Teilmenge der Knotenmenge ist einzeln zu überprüfen."
"Aber das waren doch so entsetzlich viele."
"Eben. Mit unserer Paarungsmethode können wir bequem alle Teilmengen auf einmal herstellen."
"Was?"
"Na ja. Stellvertreter für jede Teilmenge. Paß auf. Die Knoten kriegen Nummern, und zu jedem von ihnen denk dir einen Einzelstrang. Dessen eines Ende paßt zum Knoten mit der nächsten Nummer, und das andere zu dem mit der vorigen Nummer. Auf diese Weise paaren sich die Einzelstränge immer so, daß die Vertreter der Knoten in der richtigen Reihenfolge hintereinander liegen" (siehe Kasten auf Seite 21).
"Moment. Also Knoten 3 hat ein Vorderende, das zu Knoten 4 paßt, und Knoten 4 hat ein Hinterende ..."
"... nein, ein Vorderende, das zu Knoten 3 paßt. Die Stränge müssen ja immer in entgegengesetzte Richtungen liegen, damit sie sich paaren können. Die Stränge zu den Knoten mit ungerader Nummer liegen richtigrum und die mit gerader Nummer falschrum."
Horst dachte ein Weilchen nach. Aber nachdem er die nächste Kiste herbeigeschafft hatte, war ihm wieder einiges klarer.
"Sag mal, kriegt ihr so viele neue Computer ins Büro?"
"Nein, nein, das ist ein einziger Computer in Einzelteilen."
Offensichtlich paßte Wolfgang überhaupt nicht, daß Sabine das gesagt hatte.
Horst fragte weiter: "Also habt ihr jetzt lauter Stränge, in denen die Vertreter der Knoten schön der Reihe nach aneinanderhängen. Dann sind die doch alle gleich."
Sabine schüttelte den Kopf. "Ich habe dir noch nicht alles erzählt. Jeden Knotenvertreter gibt es in zwei Ausfertigungen: voll und leer. Das heißt, der volle Vertreter sagt "Mein Knoten gehört zur Teilmenge", und der leere sagt das Gegenteil. Wir tun zu jedem Knoten Vertreter beider Arten in die Brühe und lassen sie sich paaren – nach Belieben. Wer an wen gerät, hängt vom Zufall ab."
"Ach ja."
"Deswegen sind die Doppelstränge, die bei der wilden Paarung entstehen, lauter Kombinationen aus vollen und leeren Vertretern. Wenn man genügend DNA verrührt, kann man sicher sein, daß jede Kombination – also jede Teilmenge – auch wirklich vorkommt."
"Also muß man um so mehr Brühe anrühren, je mehr Knoten es gibt."
"Genau. Für jeden zusätzlichen Knoten verdoppelt sich die Menge."
Horst ging die nächste Kiste holen. Diesmal blieb er deutlich länger weg als die vorigen Male; es schien, als brauchte er eine verlängerte Denkpause. Als er wiederkam, war er ganz Ohr.
"Wenn die Knotenvertreter mit Paaren fertig sind, hast du die Potenzmenge beisammen", erklärte Sabine ihm weiter.
"Die was bitte?"
"Die Menge aller Teilmengen. Das heißt so. Aber wir wollen ja nur Freundeskreise. Das heißt, wir müssen alle Teilmengen wegwerfen, die nicht Cliquen sind. Wenn eine Teilmenge zwei Knoten enthält, die nicht befreundet sind, muß sie weg. Jede rote Linie in dem Graph ist also ein Anlaß, die Teilmenge wegzuwerfen, die beide Endpunkte der roten Linie enthält."
"Ach so."
"Es reicht, wenn man die falschen Teilmengen zerschneidet, man muß sie gar nicht wegwerfen. Hinterher lassen wir die ganze Brühe durch eine Art Verstärker laufen."
"Was ist das?"
"Das heißt Polymerase-Kettenreaktion" (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1990, Seite 60). "Dabei werden Doppelstränge ungeheuer oft kopiert – aber nur diejenigen, die beiderseits die richtigen Enden haben. Zerschnittene Stränge werden fast gar nicht vervielfältigt und fallen hinterher in der Masse nicht auf."
"Na schön. Aber wie zerschneidet man Stränge an der richtigen Stelle?"
"Wir haben Spezialscheren. Das sind Moleküle ..."
"Sag doch gleich Restriktions-Endonucleasen", warf Wolfgang ein.
"... die schneiden den Strang gezielt nur an vollen Knotenvertretern durch und lassen die leeren heile. Für jeden Knoten gibt es eine extra Schere."
"Da müßt ihr aber viele Scheren auf Lager haben."
"Na ja, einige. Also: Für jede rote Linie müssen wir die Teilmengen aussortieren, die beide Endknoten der Linie enthalten. Dazu teilen wir die Brühe auf zwei Töpfe auf und werfen in jeden Topf eine Schere, die den vollen Vertreter des entsprechenden Knotens zerschneidet."
"Moment mal. Ihr wollt nur die Teilmengen zerstören, die beide Knoten enthalten. Dann zerschneidet ihr doch in jedem Topf zu viele Teilmengen, nämlich auch diejenigen, die den einen Knoten enthalten, auf den die Schere wirkt, den anderen aber nicht."
"Stimmt. Aber genau die Teilmengen bleiben in dem anderen Topf heil. Wenn die Scheren mit Schneiden fertig sind, machen wir sie unwirksam und schütten den Inhalt beider Töpfe wieder zusammen. Dann hat von den Teilmengen, die du meinst, die Hälfte überlebt. Mit der arbeiten wir weiter" (Kasten Seite 21).
"Das heißt, mit jeder roten Linie, die ihr bearbeitet, wird der brauchbare Anteil von dem Zeug deutlich weniger."
"Stimmt. Deshalb müssen wir mit entsprechend mehr Stoff anfangen, wenn es viele rote Linien sind, oder zwischendurch die Menge durch Verstärken wieder auffüllen."
"Und wenn ihr alle roten Linien abgearbeitet habt?"
"Dann verstärken wir die Sache mit der Polymerase-Kettenreaktion und machen das Spaghetti-Wettrennen, von dem ich dir vorher erzählt habe."
"Wie? Nach der Zerschneiderei habt ihr einen Topf mit vollständigen und zerschnittenen Strängen. Die vollständigen vervielfältigt ihr, die zerschnittenen fallen nicht mehr ins Gewicht – aber die vollständigen sind doch alle gleich lang. Sie enthalten doch immer alle Knoten in der richtigen Reihenfolge – ob nun voll oder leer."
Wolfgang wollte offensichtlich dringend die Kisten öffnen, aber nicht in Horsts Anwesenheit. Den hätte er am liebsten zur Tür hinausgeprügelt.
"Du hast doch längst die letzte Kiste hereingeschafft. Willst du nicht nach Hause gehen?"
"Gute Idee, Sabine. Gehen wir zu mir oder zu dir?"
Auf dem Flur schienen trotz der späten Stunde ziemlich viele Leute herumzulaufen. Wolfgang wurde nervös, und Horst hatte es auf einmal auch ziemlich eilig, mit Sabine zu verschwinden. Aber die schien die Wünsche der Herren zu ignorieren und erzählte munter weiter.
"Ach, das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Die vollen Vertreter sind kürzer als die leeren."
"Länger, meinst du."
"Nein, kürzer. Es kommt ja nicht darauf an, ob der volle Vertreter kürzer oder länger ist als der leere. Hauptsache, wir denken uns das Richtige dabei. Wir suchen die größte Clique, also unter allen Teilmengen, die die Zerschneiderei heile überstanden haben, diejenige mit den meisten vollen Vertretern. Das ist die kürzeste, und deswegen gewinnt die das Spaghetti-Wettrennen."
Plötzlich war der Raum voll von Uniformierten. Eine charmante junge Dame, die sich als Kriminalkommissarin auswies, ließ Wolfgangs Schreibtisch durchsuchen, studierte angelegentlich den Zettel, den Wolfgang so hastig Horsts neugierigen Blicken entzogen hatte, und erklärte Wolfgang und Sabine für vorläufig festgenommen. Es bestehe dringender Verdacht auf Veruntreuung von Firmengeldern in großem Umfang.
"Aber wir haben uns die Anschaffung" – Wolfgang zeigte auf die Kisten in der Ecke – "ordnungsgemäß genehmigen lassen."
"Dagegen ist nichts einzuwenden. Es ist auch nicht verboten, 200 Liter molekularbiologische Flüssigkeit als Computer zu deklarieren, obwohl mir der Zweck dieser Aktion nicht klar ist." Wolfgang und Sabine blickten sich verzweifelt an. Wieder jemand, der nicht glauben wollte, daß es flüssige Computer gibt. "Aber wir haben Belege dafür, daß Sie einer kriminellen Vereinigung innerhalb der Firma angehören, die bereits große Mengen Geldes in dunkle Kanäle umgeleitet hat. Darüber hinaus gibt es Indizien" – anerkennender Blick zu Horst –, "daß Sie versucht haben, Ihre Clique mit konspirativen Mitteln stark zu vergrößern. Die schiere Menge der bestellten Flüssigkeit läßt darauf schließen, daß Sie Ihre Auswahl unter ungefähr 23 Kandidaten treffen wollten. Das deutet auf besonders gefährliche Bandenkriminalität hin."
Während die beiden Verdächtigen abgeführt wurden, winkte Horst Sabine wehmütig nach. "Wärst du mal rechtzeitig mitgekommen. Es hätte so ein schöner Abend zu zweit werden können..."
Sabine warf zugleich giftige und sehnsüchtige Blicke zurück. In einem unbeobachteten Moment beschimpfte Wolfgang sie voller Wut. "Wie konntest du diesem verdammten Lasterfahrer alle Einzelheiten erzählen!"
"Woher soll ich denn wissen, daß das ein eingeschleuster Privatdetektiv war?"
"Man kann nie vorsichtig genug sein. Schon diese Riesenmenge an DNA hat die Leute in der Bestellabteilung stutzig gemacht."
"Aber du warst es doch, der so viele Leute einbeziehen wollte. Das ist eben das Problem am DNA-Computer: Er rechnet zwar parallel, und das, was rechnet, ist auch ungeheuer klein. Aber er braucht halt mindestens so viele Moleküle, wie es Möglichkeiten gibt, und die Anzahl der Möglichkeiten wächst exponentiell mit der Problemgröße – wie du wissen solltest, du großer Informatiker."
Aber Wolfgang war viel zu sehr in dumpfes Grübeln versunken, um die Stichelei zu erwidern. Er fragte nur mißmutig: "Wie heißt dieser verdammte Kerl eigentlich mit Nachnamen?"
"Schimanski – glaube ich." Literaturhinweis
DNA Solution of the Maximal Clique Problem. Von Qi Ouyang, Peter D. Kaplan, Shumao Liu und Albert Libchaber in: Science, Band 278, Seiten 446 bis 449, 17. Oktober 1997.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1998, Seite 18
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