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Spektrum-Interview mit Prof. Dr. Harald Müller zur Lage der nuklearen Rüstungskontrolle




Spektrum der Wissenschaft:
Der Senat der USA hat kürzlich die Ratifizierung des Teststopp-Vertrags abgelehnt, der alle Versuchsexplosionen von Kernwaffen verbietet. Welche Auswirkungen hat diese Entscheidung auf das Rüstungskontrollregime?

Prof. Dr. Harald Müller:
Sehr schlechte – vor allem auf das Regime zur Nichtverbreitung von Kernwaffen. Die USA hatten sich verpflichtet, einen Teststoppvertrag abzuschließen. Nur deshalb konnte 1995 in den Verhandlungen über eine unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags ein entscheidender Durchbruch erzielt werden. Viele Nicht-Kernwaffenstaaten könnten nun sagen: Wir haben damals unter dieser Bedingung der unbegrenzten Verlängerung zugestimmt; die Bedingung ist nicht erfüllt und wir sehen uns nun auch nicht mehr an gewisse Pflichten aus diesem Vertrag gebunden. Zudem könnten sich jetzt auch andere Staaten entschließen, dem Teststoppvertrag nicht beizutreten – oder gar, Kernwaffenversuche wieder aufzunehmen.

Spektrum:
Inzwischen hat das russische Parlament, die Duma, einmal mehr die Abstimmung über die Ratifizierung des START-2-Abrüstungsvertrags verschoben. Gibt es da einen Zusammenhang mit der Entscheidung des US-Senats?

Müller:
Nicht so sehr. Man muß unterscheiden: Der US-Senat hat sich direkt mehrheitlich gegen einen Vertrag ausgesprochen. Die Duma hingegen hat die Debatte über den START-2-Vertrag verschoben, weil sie ihn weiterhin als Verhandlungs- und Druckmittel gegenüber den USA benutzen möchte. Viele Duma-Abgeordnete und übrigens auch das russische Militär sehen in dem, was START-2 verbieten würde – nämlich die schweren Raketen mit Mehrfachsprengköpfen – das einzig brauchbare Mittel, um das geplante Raketenabwehrsystem der USA zu überwinden.

Spektrum:
Das klingt so, als sei der Kalte Krieg noch nicht vorbei.

Müller:
Wir haben heute eine effektiv neue Situation. Anfang der 90er Jahre waren Interessengegensätze zwischen den USA und Rußland überhaupt nicht mehr greifbar. Inzwischen wirken sich die innenpolitischen Veränderungen auf beiden Seiten – die Stärkung des Nationalismus auf russischer Seite und die Stärkung des Unilateralismus bei der amerikanischen Rechten – deutlich auf die Sicherheitspolitik der beiden Staaten aus. Das heizt den Konflikt unverhältnismäßig an.

Spektrum:
Könnten andere Länder etwas zur Schadensbegrenzung beitragen?

Müller:
Vor allen Dingen müßten die europäischen Verbündeten klarmachen, daß hierzulande die Rüstungskontrolle und Abrüstung – vor allem im Bereich der Kernwaffen – anders gesehen wird als jenseits des Atlantiks. Dazu zählt auch die Ersteinsatz-Doktrin der NATO und die Frage, ob Nuklearwaffen tatsächlich noch auf deutschen Boden und in Europa stationiert werden müssen.

Spektrum:
Welche Kernwaffen befinden sich denn noch in Deutschland?

Müller:
Ausschließlich Bomben, die von Flugzeugen abgeworfen werden. In der Bundeswehr ist dafür noch eine Tornadostaffel vorgesehen; die Lagerorte befinden sich in Rheinland-Pfalz. Es handelt sich vermutlich um insgesamt 100 bis 150 Systeme.

Spektrum:
Und welche taktische oder strategische Bedeutung wird ihnen zugeordnet?

Müller:
Das ist völlig schleierhaft. Alles, was das neue strategische Konzept der NATO sagt, ist: Grundsätzlich seien diese Waffen ein Mittel der Kriegsverhinderung, eine Abschreckung gegen jede Art von Konflikt, und ihr Einsatz sei extrem unwahrscheinlich. Eine solche Argumentation wäre im Grunde eine Einladung an alle Staaten, sich Kernwaffen zuzulegen, denn irgendwelche Probleme haben alle.

Spektrum:
Die Öffentlichkeit sieht die Probleme eher in akuten Krisenherden wie dem Kosovo oder in Tschetschenien als in den noch vorhandenen Kernwaffen. Was sagen Sie als Konfliktforscher dazu?

Müller:
Das in den Waffen steckende Risiko ist immer noch vorhanden. Es hat sich nur etwas verlagert: Man muß befürchten, daß der technische und physische Zustand der russischen Kernwaffen so schlecht ist, daß da leicht etwas schief gehen kann. Zudem ist die Gefahr eines nuklearen Schlagabtauschs nach wie vor nicht gebannt. Der Konfliktherd hat sich lediglich von Zentraleuropa nach Südasien verschoben; dort bilden Pakistan und Indien die brisanteste Frontlinie. Auch könnte bei einer künftigen Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa die Kernwaffenbedrohung für uns wieder akuter werden. Es sollte also auch weiterhin im Interesse Europas und Deutschlands liegen, daß der Abrüstungsprozeß weitergeht.

Spektrum:
Welche Möglickkeiten hat die multilaterale Konferenz in Genf, den Abrüstungsprozess fortzuführen?

Müller:
Die Genfer Konferenz arbeitet nach dem Konsensprinzip. Es kann dort also nur verhandelt werden, wenn alle das wollen. Bislang weigerten sich die fünf Kernwaffenstaaten, die zu den über 60 Mitgliedern der Konferenz gehören, das Thema der nuklearen Abrüstung dort überhaupt nur zu diskutieren. Insbesondere die USA befürchten, daß aus einer bloßen Diskussion ein Zwang zu Verhandlungen entstehen könnte. Im Moment fehlt einfach der politische Wille mancher Konferenzteilnehmer, etwas zu bewegen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2000, Seite 91
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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