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Nobelpreis für Chemie: Spiegelfechterei mit Molekülen

Die drei Preisträger entwickelten chemische Synthesen, die zwischen Bild und Spiegelbild unterscheiden können, und ermöglichten dadurch große Fortschritte bei der effizienten Produktion reiner, nebenwirkungsarmer Arzneimittel.


Am 22. Mai 1848 präsentierte ein junger Mann von 26 Jahren vor der Pariser Académie des Sciences eine bemerkenswerte Entdeckung: Von manchen chemischen Verbindungen gibt es zwei spiegelbildliche Formen, die sich wie die rechte und die linke Hand zueinander verhalten. Der junge Mann hieß Louis Pasteur, und seine Beobachtungen hatte er an den Kristallen der Weinsäure gemacht. Die "Händigkeit" von Molekülen – oder fachsprachlich Chiralität, nach dem griechischen Wort cheir für Hand – hat weit reichende Folgen für Chemie, Biologie und Pharmazie. Schon Pasteur fand einen ersten Beleg dafür: Nur die aus der Fermentation stammende natürliche Weinsäure konnte Mikroorganismen als Nahrung dienen, das spiegelbildliche Molekül dagegen nicht.

Wie sich seither zeigte, sind die meisten Biomoleküle chiral – die Erbsubstanz DNA ebenso wie Enzyme, Antikörper, Hormone, Zucker und – mit einer Ausnahme – auch die 20 natürlich vorkommenden Aminosäuren. In jeder Stoffklasse hat sich die Natur dabei für eine der beiden spiegelbildlichen Formen oder – wie Chemiker sagen – Enantiomeren entschieden. So sind die Aminosäuren alle "linkshändig", die Zucker dagegen "rechtshändig". Warum das so ist, darüber wird immer noch spekuliert.

Im Gegensatz zu biologischen Umsetzungen liefern chemische Synthesen in der Regel ein 1:1-Gemisch der beiden spiegelbildlichen Moleküle: ein so genanntes Racemat. Das Verdienst der diesjährigen Nobelpreisträger für Chemie ist es nun, diese Beschränkung aufgehoben zu haben: Sie ersannen Methoden und entwickelten Verfahren, auch auf nicht-biologischem Wege Moleküle mit bestimmter Händigkeit – also reine Enantiomeren – zu erzeugen.

Warum ist diese Leistung so bedeutsam, dass sie mit dem Nobelpreis gewürdigt wurde? Der Grund liegt im Wirkungsmechanismus der meisten Arzneimittel: Sie beeinflussen die Krankheit dadurch, dass sie sich an spezielle Strukturen – so genannte Rezeptoren – an der Oberfläche oder im Inneren einer Zelle oder eines Erregers anlagern. Diese Zielstrukturen sind aber in aller Regel chiral, und wie die rechte Hand nur in den rechten Handschuh passt, kann meist nur ein Enantiomer an einen bestimmten Rezeptor andocken; das andere ist bestenfalls nutzlos, schlimmstenfalls schädlich.

Die Contergan-Katastrophe Ende der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre demonstrierte dies auf tragische Weise. Hauptbestandteil des Schlafmittels Contergan, das damals schwangeren Frauen gegen morgendliche Übelkeit verschrieben wurde, war der chirale Wirkstoff Thalidomid. Er lag als Racemat vor: als Gemisch der beiden Enantiomeren. Wie sich zu spät herausstellte, verursachte das eine davon schwere Missbildungen an Feten.

Eine Möglichkeit, zu reinen Enantiomeren zu gelangen, besteht darin, das Racemat nachträglich mit weiteren Methoden zu trennen. Das ist jedoch sehr mühsam, denn die beiden spiegelbildlichen Komponenten unterscheiden sich nicht in ihren gewöhnlichen physikalischen und chemischen Eigenschaften. Außerdem bedeutet es eine grobe Verschwendung, da das falsche Enantiomer – mindestens die Hälfte des Produkts – gleich wieder in den Abfall wandert. Pasteur gelang die Trennung, weil die Weinsäure zu den seltenen Verbindungen gehört, deren Enantiomeren spiegelbildliche Kristalle bilden können. Mit bewunderswerter Geduld sortierte er diese von Hand unter dem Mikroskop.

Für die Natur sind "stereoselektive" Synthesen, die statt racemischen Gemischen nur die erwünschten Enantiomeren in Reinform liefern, kein Problem. Sie benutzt dazu Enzyme. Deren industrielles Gegenstück sind in gewisser Weise Katalysatoren; sie beschleunigen chemische Reaktionen oder machen sie überhaupt erst möglich, ohne selbst verbraucht zu werden. Zu Beginn der Sechzigerjahre begaben sich die Chemiker deshalb auf die Suche nach Katalysatoren, die ähnlich stereoselektiv wirken wie Enzyme. Diese mussten, so viel war klar, ihrerseits chiral sein. Den damals gebräuchlichen Katalysatoren, die in fester Form – meist als Teilchen – vorlagen, ließ sich jedoch schwerlich eine Händigkeit aufprägen.

Die bei weitem wichtigste Sorte chiraler Moleküle enthält (mindestens) ein asymmetrisches Kohlenstoffatom, dessen vier "Bindungsarme" alle eine andere chemische Gruppe tragen. Zur Synthese solcher Substanzen eignen sich ungesättigte organische Verbindungen, so genannte Olefine, die zwei durch eine Doppelbindung verknüpfte Kohlenstoffatome enthalten (Bild Seite 24). An diese beiden Atome lässt sich – unter Bruch der Doppelbindung – beispielsweise je ein Wasserstoffatom anlagern. Geschieht die Anlagerung auf der Oberseite des ebenen Olefins, entsteht ein anderes Enantiomer, als wenn sie auf der Unterseite erfolgt. Dieser Vorgang heißt asymmetrische Hydrierung und stand lange auf der Wunschliste der chemischen Industrie.

Im Jahre 1968 schaffte einer der diesjährigen Laureaten den Durchbruch. Dazu griff der damals 51-jährige William Knowles bei der Firma Monsanto auf zwei kurz zuvor gemachte Entdeckungen zurück. Zum einen war es gelungen, ein lösliches Molekül zu finden, das die Hydrierung ebenso wirksam beschleunigte wie die bis dahin benutzten Feststoffe. Es handelte sich um einen so genannten Übergangsmetallkomplex: Bei dieser Art von Substanzen umgibt sich ein Metall aus einer Nebengruppe des Periodensystems (das "Zentralatom") mit mehreren chemischen Gruppen (den "Liganden") und bindet sie über "Nebenvalenzen" in einer bestimmten geometrischen Anordnung (Oktaeder, Tetraeder, Quadrat, Pyramide und Ähnliches). Zugleich hatten andere Forscher Möglichkeiten entdeckt, chirale Moleküle zu erzeugen, die als Liganden für diesen Komplex in Frage kamen und diesem damit auch eine Händigkeit verleihen konnten.

Erfolg bei einem Wirkstoff gegen die Parkinson-Krankheit

Obwohl der Komplex, den Knowles in einem ersten Versuch verwendete, nicht ausschließlich aus einem Enantiomer bestand, sondern noch eine größere Menge des anderen als "Verunreinigung" enthielt, lieferte er eines der beiden spiegelbildlichen Hydrierungs-Produkte in 15-prozentigem Überschuss. Damit war bewiesen, dass das Prinzip funktioniert. Ermutigt von diesem Erfolg, machten sich Knowles und seine Mitarbeiter bei Monsanto daran, den Katalysator in größerer Enantiomeren-Reinheit zu gewinnen und durch Modifikation der Liganden zu verbessern. Lohn der Mühe war 1974 schließlich die erste stereoselektive industrielle Synthese. Mit ihr gelingt die Herstellung von L-Dopa, einem Wirkstoff gegen die Symptome der Parkinsonschen Krankheit; das spiegelbildliche D-Dopa ist unbrauchbar. (Die Symbole "D" und "L" leiten sich von lateinisch laevus für links und dexter für rechts ab.)

Allerdings taugte der Katalysator von Knowles nur zur Hydrierung ganz spezieller Olefine, die außer der Doppelbindung bestimmte andere chemische Gruppen enthalten mussten. In den Achtzigerjahren gelang es dann dem zweiten Preisträger, Ryoji Noyori von der Universität Nagoya (Japan), wesentlich breiter einsetzbare Varianten zu finden. Dazu gehörten auch Komplexe, die Ruthenium statt des von Knowles verwendeten Rhodiums als Zentralatom enthielten.

Bei seiner Arbei profitierte Noyori von den inzwischen gewonnenen genaueren Erkenntnissen über den Mechanismus, nach dem die stereoselektive Hydrierung abläuft. Bei jeder chemischen Reaktion führt der Weg zum Endprodukt über einen "energetischen Berg", der einen Übergangs- oder Zwischenzustand repräsentiert. Ein Katalysator ebnet diesen Weg, indem er eine vorübergehende Bindung mit dem Übergangszustand eingeht und dessen Energie dadurch erniedrigt. Stereoselektive Katalysatoren sollten so beschaffen sein, dass sie möglichst nur den Energieberg für den Weg zu dem gewünschten Enantiomer und nicht zu seinem Spiegelbild erniedrigen; sie müssen also von den beiden Übergangszuständen den einen sehr viel besser stabilisieren als den anderen.

Noyoris vielseitigere Katalysatoren, die er auf dieser Basis entwickelte, ermöglichten unter anderem die industriell wichtige Herstellung von S-Naproxen, einem entzündungshemmenden Wirkstoff. Außerdem ließen sie sich so modifizieren, dass sie spezifisch auch Kohlenstoff-Sauerstoff- statt Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindungen hydrierten. Dies eröffnete den Weg zur Herstellung ungesättigter Alkohole, die zum Beispiel als Bausteine von Vitamin E dienen.

Statt Olefine mit Wasserstoff zu hydrieren, kann man sie auch durch Anlagerung von Sauerstoff oxidieren und dabei wiederum spiegelbildliche Produkte erhalten. Diese "Epoxidation" spielt industriell ebenfalls eine wichtige Rolle. Dass man sie heute mit chiralen Katalysatoren stereoselektiv durchführen kann, ist das Verdienst des dritten Preisträgers: Barry Sharpless vom Scripps-Forschungsinstitut in La Jolla (Kalifornien). Interessanterweise verwendete Sharpless einen Titan-Komplex, dessen "händige" Komponente aus der Links- oder Rechtsform der Weinsäure besteht: Ob der Sauerstoff eine Doppelbindung von oben oder von unten angreift, hängt davon ab, ob der Katalysator das Anion der D- oder L-Weinsäure enthält.

In industriellem Maßstab können auf diese Weise zum Beispiel Bausteine von Beta-Blockern (S- und R-Methylglycidol) synthetisiert werden, wichtigen Medikamenten gegen Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen. Leidtragender der stereoselektiven Oxidation ist dage-gen der Schwammspinner. Er muss bei der Partnersuche seit einiger Zeit damit rechnen, auf künstliche Pheromone (Sexuallockstoffe) hereinzufallen, die dank der Sharpless-Reaktion großindustriell mit der richtigen Händigkeit hergestellt werden – ein wichtiger Beitrag zur Schädlingsbekämpfung.

Die chemische Industrie wurde in den letzten Jahrzehnten mit viel, teils berechtigter Kritik bedacht. Die Lektion des Contergan-Skandals hatte sie jedoch schnell gelernt und bei den jetzt mit dem Nobelpreis gewürdigten Arbeiten dafür gesorgt, dass der Weg von der akademischen Forschung zur industriellen Produktion sehr kurz war. Die Synthese von Wirkstoffen der richtigen "Händigkeit" mit Verfahren, die wenig Abfall produzieren, dient jedenfalls gleichermaßen kranken Menschen wie der Umwelt.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2001, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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