Sprache als sozialer Kitt und Stimulans für die Evolution des menschlichen Gehirns
Die Gehirngröße des Menschen korreliert mit seiner im Vergleich zu anderen Primaten größeren Sozialität - und die wird wesentlich dadurch gewährleistet, daß wir viel miteinander über uns und andere reden.
Treppenhausklatsch ist zu Unrecht verrufen; und auch im weitverbreiteten Interesse am Privatleben von Prominenten äußern sich nicht unbedingt niedere Instinkte – zumindest wenn man beides psychobiologisch analysiert, das heißt seinen Sinn und Zweck rein nach sozialen und evolutiven Gesichtspunkten beurteilt. Diese Schlußfolgerung zog jedenfalls der Anthropologe und Verhaltensforscher Robin J. M. Dunbar von der Universität London aus vergleichenden Untersuchungen über Gehirngrößen und soziales Verhalten bei verschiedenen Primatenarten einschließlich des Menschen ("New Scientist", 21. November 1992, Seite 28 ).
Die höheren Primaten zeichnen sich vor den anderen SäugetierenNdlxrch eine auffallend große Endhirnrinde aus; und die Cortex-Größe bei den einzelnen Arten korreliert, wie Dunbar fand, mit der Anzahl der Tiere in den sozialen Verbänden. Vermutlich bieten größere Horden in offenem Gelände besseren Schutz vor Raubfeinden. Die größten Verbände, mit durchschnittlich rund 55 Tieren, bilden Paviane und Schimpansen. Extrapoliert man das gefundene Verhältnis auf den Menschen mit seinem für seine Körpergröße riesigen Gehirn, betrüge seine optimale Gruppengröße ungefähr 150 Individuen.
Dunbar hat etliche Indizien dafür gefunden, daß diese Zahl in der Größenordnung tatsächlich stimmen könnte. Bei den Naturvölkern etwa existieren außer den meist deutlich kleineren gemeinsam umherziehenden oder zusammenwohnenden Trupps und den teilweise wesentlich größeren Stämmen Beziehungsgeflechte – wie zum Beispiel Clans – mit 100 bis 230 Mitgliedern. Sie sind oft lange tradiert und bei Besitzansprüchen, etwa auf Jagdgebiete oder Wasserstellen, sowie bei vielen sozialen Ereignissen wie rituellen Festen – die maßgebliche Struktur.
Die Zahl 150, meint Dunbar, sei auch in diversen Strukturen unserer modernen Gesellschaft ausgeprägt – sei es nun die Stärke einer Einheit beim Militär, die sich ohne Unterkommando führen läßt, oder die Personalstärke von Unternehmen, die noch ohne gestaffelte Hierarchie zu leiten sind. Des weiteren würden Wissenschaftler sich nur selten um die Forschungsergebnisse von mehr als 100 bis 200 Fachkollegen kümmern; werden die Disziplinen größer, so spalten sie sich in Teilgebiete auf. Bemerkenswert scheint schließlich die Erklärung einer religiösen Sekte in Nordamerika, warum ihre Dorfgemeinschaften aus gleichgestellten Mitgliedern bei Überschreiten einer Personenzahl von 150 geteilt würden: Das sei die Grenze, oberhalb derer die soziale Kontrolle allein nicht mehr ausreiche, um das Zusammenleben zu koordinieren.
Streicheleinheiten – von Hand oder verbal
Nun braucht es aber besonderer sozialer Mechanismen, damit derart große Gruppen zusammenhalten. Schon bei den Affen müssen die Individuen einander gut kennen und auch die Beziehungen der anderen Gruppenmitglieder zueinander einschätzen können. Dunbar meint, besonders dieser Bedarf an sozialer Intelligenz hätte die Evolution eines großen Gehirns gefördert – mehr als der ökologische Vorteil eines besseren Gedächtnisses, gesteigerter Denkleistungen und vermehrter Geschicklichkeit etwa bei der Nahrungssuche.
Nach Ansicht vieler Primatenforscher verfügen Affen über ein besonders probates Mittel, um soziale Bindungen zu festigen und Spannungen abzubauen: das sogenannte Lausen. So macht sich ein von seinem Haremschef zurechtgewiesenes Mantelpavian-Weibchen nicht etwa eilends davon, sondern sucht in seiner Aufregung im Gegenteil die Nähe des Zuchtmeisters und beginnt, sein prachtvolles silbriges Haarkleid nach Parasiten, Hautschuppen und Schmutz abzusuchen. So ist der Frieden sehr bald wiederhergestellt.
Auch wenn es keinen Zank gegeben hat, verbringen die höheren Affen lange Phasen des Tages mit gegenseitiger Fellpflege (siehe Bild). Wie die Gehirngröße ist der Zeitaufwand für diese soziale Zuwendung bei den verschiedenen Arten proportional zur Gruppengröße: Schimpansen, die sicherlich von allen nichtmenschlichen Primaten die komplexesten sozialen Beziehungen haben, widmen dem Lausen mehrere Stunden manchmal 20 Prozent des Tages. Demnach müßten die Menschen wenigstens fünf oder sechs Stunden täglich mit gegenseitigem Tätscheln zubringen. Aber wahrscheinlich ist schon der Aufwand der Schimpansen dafür das gerade noch rentable Maximum; denn andere Tätigkeiten sind währenddessen nicht möglich, und die Pflanzenfresser brauchen viel Zeit zur Nahrungssuche.
Die Lösung für den Menschen, so Dunbar, war die Erfindung der Sprache. Diesen gewagten Schluß zieht der Forscher, weil eine Unterhaltung in sozialer Hinsicht effektiver sein kann, als wenn man nur lausend zusammensitzt – erlaubt sie doch noch andere Tätigkeiten nebenher. Außerdem kann man in ein Gespräch mehrere Personen einbeziehen und über Abwesende reden, also außer den direkten auch indirekte Kontakte pflegen. Somit wäre das Plaudern viel zeitökonomischer und würde auch komplizierten, weitverzweigten sozialen Verflechtungen gerecht.
Einer gängigen Theorie zufolge entsprang die menschliche Sprache dem Bedürfnis, sich beim Jagen besser verständigen zu können. Dem hält Dunbar entgegen, daß manche in Rudeln jagenden Raubtiere sich auch ohne Lautäußerungen offensichtlich mindestens genausogut abstimmen wie der Mensch. Seiner Überzeugung nach diente das Sprechen ursprünglich vor allem dem sozialen Austausch: Mitteilungen über eigenes und fremdes Befinden, über den eigenen Status und das Verhältnis zueinander und zu dritten, über deren Zustand soziale Situation sowie über soziale Vorkommnisse jeglicher Art förderten den Zusammenhalt einer Gruppe.
Gesprächsverhalten
Zur weiteren Überprüfung seiner Theorie beobachtete Dunbar Gesprächsgruppen von Studenten in Aufenthaltsräumen der Universität, beispielsweise in der Cafeteria. Dabei zählte er durchschnittlich 3,4 Teilnehmer; dies entspricht ganz gut dem Faktor, um den das menschliche Bedürfnis nach sozialer Information dasjenige von Affen übertreffen sollte, die immer nur einen Kraulpartner zur gleichen Zeit haben können. Interessanterweise gab es bei fünf und mehr Personen bald Untergruppen mit eigenen Gesprächen. Daß in größeren Gruppen nicht mehr jeder alles versteht, ist für Dunbar ein Zeichen dafür, daß auch Gehör und Stimme auf Gespräche in kleiner Runde abgestimmt sind.
Die mitgehörten Unterhaltungen berührten, selbst wenn ihr Anlaß fachlicher Natur war, immer wieder persönliche Belange oder dritte Personen. Durchschnittlich 70 Prozent der Zeit sprachen die Studenten über Beziehungen und soziale Erlebnisse, davon die Hälfte über nicht Anwesende. Dabei erzählten die Männer eher von sich selbst, während die Frauen mehr über andere klatschten.
Diese Beobachtung könnte laut Dunbar eine frühere Vermutung bestätigen, wonach bei der Evolution der Sprache die Frauen führend waren. Dabei sei es aber weniger um die Kommunikation zwischen Mutter und Kind gegangen, wie bisher angenommen, sondern um den Zusammenhalt der weiblichen Erwachsenen, der auch bei vielen höheren Affen schon sehr ausgeprägt ist.
Dies mag zu Befunden passen, wonach Frauen ein etwas stärker ausgeprägtes Sprachvermögen – vielleicht auch nur ein größeres Sprachbedürfnis haben als Männer. Der ihnen manchmal nachgesagte stärkere Hang zum Klatschen jedenfalls hätte, wenn Dunbars Überlegungen stimmen, durchaus eine wertvolle soziale Funktion.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1993, Seite 30
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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