Sprache im Gehirn: eng lokalisierbar?
Neueren Befunden zufolge lassen sich Sprachfunktionen nicht in bestimmten Zentren lokalisieren. Das Gehirn arbeitet demnach nicht wie ein Ensemble herkömmlicher Computer, in denen Merkmale lokal abgespeichert sind, sondern ist als komplexes Netzwerk mit dynamisch wechselnder Verschaltung organisiert.
Es gilt allgemein als bekannt, daß die somatischen Funktionen – etwa das Bewegen der Finger oder das Tastempfinden der Fingerspitzen – eine umschriebene Repräsentation in der Hirnrinde (dem Cortex) haben. In der Vergangenheit wurden entsprechende kortikale Areale als Zentren bezeichnet; die Forschung der letzten 20 Jahre hat aber gelehrt, daß diese Orte der Repräsentationen nicht fest und klar umrissen lokalisiert sind.
Nach Schädigung einer Hirnrindenregion durch ein Trauma, durch Krankheitsprozesse der verschiedensten Art oder nach Ausschaltung im Tierversuch fällt zwar zunächst die Funktion aus, die man dieser Region nach übereinstimmenden Beobachtungen im Experiment und an Patienten zuschreibt. Dieser Ausfall muß aber nicht in vollem Maße bestehen bleiben. Vielmehr kann sich die betroffene Fähigkeit innerhalb von Wochen oder Monaten wiederherstellen, manchmal sogar bis zu dem früheren Niveau.
Diese Erfahrungen haben modelltheoretische Überlegungen angeregt, die der starren Zentren-Lehre widersprechen. An ihre Stelle sind Konzepte getreten, die sehr allgemein mit Schlagwörtern charakterisiert werden wie multiple Repräsentation von Funktionen, Netzwerkstruktur oder parallele Informationsverarbeitung in verteilten neuronalen Strukturen (siehe Spektrum der Wissenschaft, September 1993, Seite 42).
Doch wenn die Zentren-Lehre die heute verfügbaren Kenntnisse über die zerebrale Repräsentation somatischer Funktionen nicht mehr angemessen beschreibt, kann sie noch weniger die Organisation geistiger Vorgänge im menschlichen Gehirn charakterisieren. Karten, in denen umschriebenen kortikalen Arealen – und nur diesen – die Repräsentation scheinbar eindeutig definierter psychischer Leistungen zugeordnet wurde, sind damit überholt.
Zum einen müssen also die neuroanatomischen Grundlagen neu beschrieben werden; zum anderen hat die kognitive Neuropsychologie auch die komplexe Struktur von Funktionen wie Sprache, Erkennen visuell wahrgenommener Objekte oder Gedächtnis und deren Wechselwirkungen aufgezeigt. Der heutige Stand der Forschung soll hier am Beispiel von Sprachstörungen nach Hirnschädigung erläutert werden (Bild 1).
Die Auffassungen über die zerebrale Repräsentation von Sprachfunktionen sind seit wenig mehr als 100 Jahren entwickelt worden. Dabei orientierte man sich lange Zeit ausschließlich an sprachlichen Ausfallsymptomen, die nach umschriebener Hirnschädigung festzustellen waren.
Ausgangspunkt war die Beobachtung, daß bei fast allen Rechtshändern und bei etwa zwei Dritteln der Linkshänder eine Schädigung bestimmter Regionen der linken Großhirnhälfte von Sprachstörungen gefolgt ist; nach Schädigung der gleichen Regionen in der rechten Hirnhälfte treten solche Störungen nicht auf. Wegen der herausragenden Bedeutung der Sprachfunktionen wurde die linke Hirnhälfte des Menschen deshalb als die dominante Hemisphäre bezeichnet. Die durch Krankheit oder Hirnverletzung erworbene Sprachstörung nannte man Aphasie, was wörtlich Sprachlosigkeit bedeutet. Die Bezeichnung ist nicht ganz korrekt, weil das Sprachvermögen in der Mehrzahl der Fälle nicht völlig verloren, sondern nur auf die eine oder andere Weise beeinträchtigt ist.
Unter Aphasie versteht man eine Beeinträchtigung im Gebrauch und Verstehen der gesprochenen und geschriebenen Sprache, die durch eine Gehirnkrankheit oder -verletzung entsteht, nachdem das Sprachvermögen bereits entwickelt ist. Verzögerungen der Sprachentwicklung im Kindes- und Jugendalter gehören ebensowenig dazu wie sprachliche Beeinträchtigungen, die auf mangelnder Entwicklung intellektueller Fähigkeiten, auf deren Einbuße oder auf kognitiven Leistungsmängeln beruhen.
In der Neurologie wird auch streng zwischen sprachsystematischen Störungen und Sprechstörungen unterschieden. Letztere betreffen nur Artikulation, Stimmgebung und Sprechatmung. Diese Funktionen können auf all den Ebenen gestört werden, auf denen Motorik organisiert wird. Für die Sprechmotorik gibt es keine Hemisphärendominanz.
Die Sprachregion
Das Gebiet in der linken Hemisphäre, dessen Schädigung von Aphasie gefolgt ist, nannte man seit mehr als 100 Jahren die Sprachregion. Dazu rechnet man Bezirke der Hirnrinde, die vom unteren Stirnhirn (dem Brocaschen Areal) über den rückwärtigen Anteil der oberen Schläfenwindung (das Wernicke-Areal) bis zu der Gyrus angularis genannten Windung des Scheitellappens reichen, welche das hintere Ende der oberen Schläfenfurche umschließt. Die Sprachregion ist der sylvischen Furche benachbart (darum spricht man auch von den perisylvischen Hirnarealen). Sie läßt sich nicht genau umgrenzen (Bild 2); Hirnkrankheiten außerhalb dieser Region haben aber nur in äußerst seltenen Fällen aphasische Sprachstörungen zur Folge.
Aus dem regelhaften Auftreten von Aphasie nach Schädigung der beschriebenen Region folgerte man, daß in diesem Hirnareal die Sprachfunktionen organisiert seien. Die psychologischen Modelle dafür schlossen seit Ende des vergangenen Jahrhunderts die Vorstellung von umschriebenen, durch Assoziationsfasern verbundenen Speichern für sprachliche Teilfunktionen ein. Diese waren allerdings, bevor die Linguistik ihren Beitrag zur Aphasieforschung leistete, nur grob definiert, etwa als Sprachproduktion oder Sprachverständnis.
Einen letzten Höhepunkt erreichte dieser Forschungsansatz in der Leitungstheorie von Norman Geschwind (siehe seinen Artikel "Die Großhirnrinde", Spektrum der Wissenschaft, November 1979, Seite 126). Der amerikanische Neurologe suchte die psychischen Phänomene, die man nach umschriebener Hirnschädigung beim Menschen beobachtet, auf die Unterbrechung von Faserbündeln ("Nervenbahnen") zwischen Hirnarealen zurückzuführen, denen man spezifische somatische oder psychische Funktionen zuschrieb. Der englische Name disconnection theory und die Bezeichnung disconnection syndromes für die beobachteten Veränderungen im Verhalten beschreiben den Grundgedanken seiner Lehre besser als der deutsche Terminus Leitungstheorie. Geschwinds Lehre lag ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts, weil sie eine bestimmte Symptomatik auf die Schädigung einer und nur dieser streng lokalisierten Hirnstruktur zurückführte.
Diese Defizit-Hypothese ist nicht mehr haltbar. Dafür gibt es viele Gründe. Vor allem haben sich die starren Zuordnungen von Läsion und Funktionsausfall, die bei Beobachtungen von scheinbar typischen Einzelfällen entwickelt wurden, an größeren Gruppen von Patienten nicht bestätigt. Überdies gewann man aus der kognitiven Psychologie und der Linguistik neue Modellvorstellungen über psychische und sprachliche Funktionen, die sich in die alten, einfachen Denkschemata nicht einfügen.
Aphasiesyndrome
Die auch heute noch häufig vertretenen Auffassungen über die Hirnlokalisation von Sprachfunktionen gründeten sich auf den Eindruck, daß es innerhalb der Sprachregion bestimmte Areale gäbe, nach deren isolierter Schädigung bestimmte und gut voneinander abgrenzbare Typen aphasischer Sprachstörung aufträten. Untersucht man zahlreiche aphasische Patienten mit standardisierten Testverfahren, so lassen sie sich tatsächlich Untergruppen zuweisen. Wohl stellt man nicht jeweils genau dieselben Symptome fest, findet aber genügend gleichartige sprachliche Störungen für eine solche Unterteilung. Traditionell unterscheidet man vier Standardsyndrome, also typische Kombinationen von Symptomen: die Broca-, Wernicke-, globale und amnestische Aphasie (siehe Kasten auf Seite 96).
An allen Fällen von Aphasie nach Hirnschädigung haben die Standardsyndrome einen Anteil von etwa 75 Prozent. Bei den meisten Betroffenen ist die Sprachstörung Folge eines Schlaganfalls. Drei der aphasischen Syndrome lassen sich einer akuten Durchblutungsstörung im Bereich eines Astes oder mehrerer Äste der mittleren Hirnarterie zuordnen, welche die Sprachregion – aber nicht nur diese – versorgt (Bild 3).
Doch etwa 25 Prozent der aphasischen Patienten haben ihre Sprachstörung aufgrund einer anderen organischen Störung, etwa durch ein Trauma, eine Entzündung, einen Tumor oder eine degenerative Gehirnkrankheit. Unter solchen Patienten sind die beschriebenen Syndrome weniger deutlich ausgeprägt, und es überwiegen Mischformen.
Diese Erfahrung hat mich schon vor Jahren zu der Überlegung angeregt, daß die aphasischen Syndrome nicht eigentlich die strukturelle und topographische Organisation von Sprache im menschlichen Gehirn widerspiegeln, sondern vielmehr die Gefäßversorgung der Sprachregion. Sie wären dann nicht notwendig Kombinationen von Ausfällen sprachlicher Teilfunktionen.
Zu ähnlichen Schlüssen sind Forscher aus der kognitiven Psychologie und Linguistik gekommen. Sie haben gegen die Klassifikation nach Syndromen eingewendet, daß dabei übereinstimmende sprachliche Symptome überbewertet und individuelle Abweichungen vom generellen Bild vernachlässigt würden. Auch schien die Zusammenfassung von Symptomen zu Syndromen und selbst die Beschreibung und Definition einzelner Symptome zu global, um für das Verständnis der betreffenden Hirnleistungen von großem Wert zu sein. Ein vermeintlich eindeutiges, beispielsweise der Kategorie Wortfindungsstörungen zugeordnetes Phänomen kann durch Beeinträchtigung oder Veränderung von vielerlei psychischen Prozessen – sprachlichen wie nichtsprachlichen – bedingt sein, die ihrerseits möglicherweise von verschiedenartigen Störungen in komplexen Funktionsabläufen herrühren. Es ist schon deshalb naiv, die beobachteten krankhaften Erscheinungen sämtlich als Ausfallsymptome anzusehen, weil sie doch auch das Ergebnis von Reorganisationsprozessen sein können.
In einem frühen Stadium der Forschung – gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts – lokalisierte man die zugrundeliegenden Hirnschädigungen bei Sektionen. Die verfügbaren Einzelfälle wurden für charakteristisch gehalten und die klinisch-pathologischen Relationen verallgemeinert.
Erst seit etwa 20 Jahren ist es möglich, mittels Computertomographie am lebenden Menschen Röntgen-Schnittbilder herzustellen und Defekte der Hirnsubstanz bald nach schädigenden Ereignissen zu diagnostizieren. Einzelfälle schienen zwar auch dabei die überkommenen Doktrinen zu bestätigen; aber entgegen den optimistischen Erwartungen bei Einführung des Verfahrens hat sich herausgestellt, daß es keine schlüssigen Erkenntnisse über die Lokalisation des gesuchten Sprachzentrums liefert.
Ergebnisse und Mängel der Computertomographie
In Gruppenuntersuchungen fand man nämlich viele aphasische Patienten, bei denen sich Symptomatik und geschädigte Hirnregion nicht wie erwartet zuordnen ließen; bei der Studie von Anna Basso an der Universität Mailand zum Beispiel war dies immerhin in 36 von 207 Fällen nicht möglich. Es ist sicherlich nicht vertretbar, 17 Prozent fehlender Übereinstimmung als Ausnahme von einer unterstellten Regel zu deklarieren und all diese Fälle auf untypische Abweichungen in der psychischen und strukturellen Organisation des Gehirns zurückzuführen.
Klaus Willmes und ich haben an dem Klinikum der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen retrospektiv die Befunde an 221 Patienten untersucht, deren Sprachstörungen sehr genau mit einem standardisierten Verfahren – dem Aachener Aphasie-Test – analysiert und deren Hirnschädigungen computertomographisch lokalisiert worden waren. Sowohl bei Broca- und bei Wernicke- als auch bei globaler Aphasie war die Übereinstimmung zwischen der Symptomatik und der in der Fachliteratur vertretenen Hirnlokalisation (beziehungsweise bei umgekehrter Analyse die Korrelation zwischen Hirnlokalisation und Symptomatik) zu gering, als daß die zahlreichen Abweichungen vom erwarteten Ergebnis als Ausnahmefälle gelten könnten.
Wie ist dies zu erklären? Ein Grund ist methodischer Art. Eine stabile Hirnläsion läßt sich auf den Schnittbildern erst etwa vier Wochen nach dem schädigenden Ereignis feststellen, wenn die zellulären Abräumvorgänge zur Ruhe gekommen sind. Selbst danach stellt der Computertomograph nur morphologische Defekte dar; man muß aber nach anerkannten experimentellen Studien damit rechnen, daß Bezirke des Hirngewebes, die solch einen Defekt umgeben, in ihrer Funktion lange Zeit und vielleicht auf Dauer beeinträchtigt bleiben, ohne daß dabei Veränderungen in ihrem Strukturstoffwechsel zu erkennen wären. Dies läßt sich auch gegen die weiter unten diskutierte Kernspin-Tomographie einwenden, sofern dabei nicht spezielle Stoffwechsel-Untersuchungstechniken angewandt werden, die aber wiederum für größere Gruppen von Patienten nicht geeignet sind.
Die Defizit-Hypothese war also selbst in ihrer einfachsten Form – Symptomkombination X ließe sich regelhaft der Hirnläsion Y zuordnen – mit bildgebenden Verfahren nicht zu bestätigen. Damit verloren auch Fragen wie danach, wo das mentale Lexikon lokalisiert sei oder in welcher Hirnregion wohl syntaktische Konstruktionen organisiert würden, ihren Sinn. Selbst wenn das Auflösungsvermögen der bildgebenden Verfahren besser wäre, stünden solchen Fragen die neuen Konzepte der zerebralen Repräsentation von somatischen und kognitiven Funktionen entgegen: Es kann nämlich sein, daß lediglich ein Hirnareal in seiner Funktion gestört ist, das für die Funktion eines anderen – oder, moderner gedacht, verschiedener, weit verteilter, an dieser Funktion beteiligter Hirnregionen – erforderlich ist.
Spontane Rückbildung von Sprachstörungen
Unzulänglich sind die hergebrachten Konzepte auch insofern, als sie die Besserung von Aphasien trotz unverändert weiterbestehendem Gewebedefekt nicht erklären. Nach einem Schlaganfall bleiben nur sehr wenige Patienten über Wochen oder gar Monate im gleichen Ausmaß sprachlich beeinträchtigt und auf dieselbe Kombination von sprachlichen Teilleistungen beschränkt wie anfangs; interessanterweise sind dies nicht unbedingt diejenigen mit einer besonders ausgedehnten Hirnschädigung. In den meisten Fällen vergrößert sich der Wortschatz; Sätze werden syntaktisch besser strukturiert, und das Verständnis gesprochener Information sowie auch die sekundären sprachlichen Leistungen – Lesen und Schreiben – bessern sich. Nach drei bis vier Monaten nimmt der Wiedererwerb weiterer Sprachfähigkeiten ab, und nach sechs bis neun Monaten ist ein Plateau der spontanen Rückbildung erreicht. Mit systematischer logopädischer Therapie aber lassen sich auch später noch eine Besserung und ein höheres Niveau erreichen.
Zur Erklärung der spontanen und der durch logopädische Therapie bewirkten Rückbildung aphasischer Sprachstörungen sind zwei Theorien entwickelt worden. Die erste stützt sich darauf, daß die Lateralisierung der Sprachfunktionen – ihr Sitz in der linken Hemisphäre – zwar genetisch bestimmt ist, jedoch erst im Laufe der ersten Lebensjahre manifest wird. Bei der Geburt können im Prinzip beide Hirnhälften Sprachfunktionen übernehmen: Wenn ein Kind in den ersten zwei Lebensjahren eine schwere Schädigung der linken Hirnhälfte erleidet, vermag sich in seiner rechten Hirnhälfte ein recht gutes expressives und rezeptives Sprachvermögen zu entwickeln. Die Besserung aphasischer Symptome – spontan oder mit Hilfe der Therapie – sollte nach der ersten Theorie also dadurch zustande kommen, daß latente Sprachfunktionen der rechten Hemisphäre reaktiviert werden.
Die zweite Theorie besagt, daß die Rückbildung von aphasischen Sprachstörungen durch eine Reorganisation von Sprachfunktionen innerhalb der linken Hirnhälfte zustande komme. Doch beide Theorien ließen sich computertomographisch nicht überprüfen und mußten deshalb bis in die jüngste Zeit spekulativ bleiben.
PET-Untersuchungen und Kernspin-Tomographie
Neue Entwicklungen in der Technik bildgebender Verfahren ermöglichen heutzutage, nicht nur den Ort von Hirnschäden festzustellen, sondern auch die Aktivität umschriebener Hirnareale zu erfassen, während jemand – ob gestört oder gesund – sprachliche oder andere Aufgaben löst. Deswegen ist die Positronen-Emmissions-Tomographie (PET) zunächst ebenso enthusiastisch aufgenommen worden wie 15 Jahre zuvor die Computertomographie.
Bei PET-Aufnahmen macht man sich zunutze, daß die Aktivierung eines Hirnareals seinen Stoffwechsel steigert, was wiederum eine regional stärkere Durchblutung bedingt. Das Durchblutungsmuster wird mittels radioaktiv markierter Substanzen abgebildet, die man in den Kreislauf injiziert. Um jenes Areal gesondert darzustellen, in dem sich der betreffende Prozeß abspielt, bedient man sich der Subtraktionsmethode: Zunächst wird ein Bild in Ruhe aufgenommen und dann mit dem während der kognitiven oder sprachlichen Aufgabe verglichen; das Differenzmuster soll nur die während der Aufgabe besonders aktiven Hirnbereiche zeigen (Bilder 4 und 5; siehe auch "Bildliches Erfassen von kognitiven Prozessen" von Marcus E. Raichle, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1994, Seite 56).
Allerdings aktivieren die meisten Aufgaben mehr als eine Modalität, und mit ihrer Komplexität nehmen Größe und Zahl der beteiligten Hirnareale zu. Deshalb lassen sich einzelne kognitive Funktionen erst im Kontrast von Aufnahmen während verschiedener Leistungen isolieren. Bei Gruppenuntersuchungen mit PET muß zudem über die an verschiedenen Versuchspersonen gewonnenen Ergebnisse gemittelt werden. Dabei kann infolge individueller Unterschiede in der Gehirnorganisation sozusagen viel Rauschen in die Ergebnisse geraten.
Deren Interpretation ist auch aus anderen Gründen sehr schwierig. Oft bemängelt wird die räumliche Auflösung der PET-Systeme, die in der Größenordnung von einem halben bis einem Zentimeter liegt. Doch noch wichtiger ist die zeitliche Auflösung: Sie beträgt zur Zeit mehr als zehn Sekunden – aber man nimmt an, daß die meisten psychischen Prozesse in einer Sekunde ablaufen. Deshalb bietet man die sprachlichen (oder andere psychologische) Stimuli in Blöcken dar – unter der Annahme, daß das Gehirn in der Zeit, in der es einen solchen Block abarbeitet, nicht noch anderweitig aktiv sei. Die erwarteten Reaktionen sind in der Regel metalinguistisch, das heißt, die Probanden müssen beurteilen, ob die sprachlichen Stimuli gleich oder ungleich sind, ob sich dargebotene Wörter reimen oder nicht, ob sie existierende Wörter oder Kunstwörter sind. Schließlich werden die Stimuli auf sehr komplexe Weise dargeboten, zum Beispiel als Buchstaben, die für kurze Augenblicke in vertikaler Anordnung über und unter einen Fixierpunkt projiziert werden.
Alle drei Merkmale – Blockanordnung, metalinguistischer Charakter und Art der Darbietung – machen die getesteten sprachlichen Funktionen dem spontanen Gebrauch von Sprache sehr unähnlich. Zwei weitere Charakteristika gewöhnlichen Sprechens werden in der Versuchssituation ebenfalls nicht imitiert: der automatische und der sehr schnelle Ablauf. Schließlich spielen weitere psychologische Variablen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, subvokale Artikulation und Fixation des Blickes mit; zum Beispiel wird die Broca-Region nicht nur durch artikulatorische Planung aktiviert, sondern auch durch sprachliche Sequenzierung und semantische Mehrdeutigkeit.
Generell hat man feststellen müssen, daß die Instruktion für eine Aufgabe, aber auch die Erwartung der Versuchsperson die Ergebnisse deutlich beeinflussen. Dadurch werden gleichfalls Hirnregionen aktiviert – aber welche, das wäre nur durch sehr komplexe subtrahierende Versuchsanordnungen zu erkennen, die noch nicht befriedigend konstruiert worden sind.
Faßt man die bisherigen PET-Studien zusammen, so lassen sich immerhin drei wichtige Ergebnisse feststellen:
- Während sprachlicher Aufgaben werden bei gesunden rechtshändigen Personen vor allem Regionen in der linken Hirnhälfte aktiviert, und zwar insbesondere im Versorgungsgebiet der mittleren Hirnarterie; das stimmt mit der traditionellen Vorstellung überein. Unerwartet ist der Befund, daß einige Regionen der rechten Hemisphäre ebenfalls Aktivität zeigen, und zwar in der Regel solche, die den aktivierten Gebieten der linken symmetrisch gegenüberliegen. Dies ist besonders bei Aufgaben der Fall, die das Sprachverständnis beanspruchen. Ob diese Aktivierung rechtsseitiger Schläfenlappenareale aber den Schluß erlaubt, die rechte Hirnhälfte nehme an Funktionen des Sprachverständnisses teil, muß allerdings offen bleiben. Sie hat vielleicht nur mit begleitenden akustischen Funktionen, aber nicht unbedingt mit dem Sprachverständnis selbst zu tun. Deshalb wäre es auch voreilig, zu unterstellen, Strukturen im rechtsseitigen Schläfenlappen würden bei der Rückbildung erworbener Sprachstörungen mithelfen.
- Bestätigt wurde zudem die Bedeutung der Brocaschen Region für Prozesse, die mit der Sprachproduktion verknüpft sind. Unerwartet ist, daß diese Region auch bei Aufgaben aktiviert wird, die auf den ersten Blick keine Sprachproduktion zu beanspruchen scheinen – zum Beispiel bei der Kategorisierung projizierter Buchstaben nach ihrer phonetischen Struktur oder bei der Entscheidung darüber, ob sich zwei vorgesprochene Silben reimen oder nicht. Die Aktivierung prämotorischer Felder könnte anzeigen, daß bei solchen Aufgaben eine subvokale Artikulation (ein stummes Mitsprechen) stattfindet.
- Schließlich hat sich erwiesen, daß an der psychischen Funktion, die man das Lexikon nennt, weit verbreitete Bereiche im Gehirn beteiligt sind. Es scheint aber, daß der Eingang zu diesem System an eine Aktivierung des linken Schläfenlappens – und zwar in seinem rückwärtigen Anteil, etwa entsprechend der Wernicke-Region – gekoppelt ist.
Auch mit der funktionellen Kernspin-Tomographie lassen sich Veränderungen der Durchblutung in umschriebenen Arealen der Hirnrinde darstellen. Die zeitliche Auflösung ist geringer als eine Sekunde, die räumliche liegt zwischen einem und drei Millimetern; beide Werte sind also weit besser als bei der PET-Methode. Die Information wird ohne Anwendung radioaktiver Isotope gewonnen; zudem entfällt die Strahlenbelastung durch Röntgenaufnahmen wie bei der Computertomographie. Somit eignet sich die Technik für Längsschnittuntersuchungen am selben Patienten und an gesunden Personen.
Zunächst hat man damit nur motorische und visuelle Funktionen untersucht, neuerdings aber auch auditive, sprachliche und sprechmotorische Leistungen. Bei Gesunden war zu erkennen, daß während sprachlicher Aufgaben vordere und rückwärtige Anteile in der Sprachregion aktiv sind, ferner prämotorische Regionen des linken Frontallappens.
Interpretation der Resultate
Nach allen bisher vorliegenden Daten haben die neuen Untersuchungen kein einheitliches Bild ergeben. Man fand nicht nur Aktivierung in Regionen der linken Hemisphäre, denen nach Studien an hirngeschädigten Patienten Sprachfunktionen zugeschrieben worden waren, sondern auch in motorischen Regionen; außerdem deckten die bildgebenden Verfahren eine gleichzeitige Aktivierung rechtsseitiger Hirnareale auf.
Das ist weniger überraschend, als es scheinen mag: Sprechen und Schreiben sind nicht nur linguistische, sondern auch motorische Funktionen, Sprachverständnis und Lesen auch auditive und visuelle – und für die nicht-linguistischen Aspekte ist, wie gesagt, keine Hemisphärendominanz anzunehmen. Außerdem können beim Lösen einer Aufgabe oder bei einer spontanen Tätigkeit außer Arealen mit fördernder auch solche mit hemmender Funktion aktiviert werden; deswegen muß umgekehrt der Ausfall einer Hirnregion nicht unbedingt den Fortfall von Aktivität bedeuten, sondern kann zur Folge haben, daß hemmende Einflüsse dieser Region ausbleiben, welche die Funktion anderer Areale modulieren.
Insgesamt sprechen die bisher vorliegenden Befunde für eine Netzwerk-Organisation des Gehirns mit je nach Aufgabe wechselnder, dynamischer Verschaltung – und gegen die Annahme eng lokalisierter Zentren mit kleinen Speichereinheiten. Vermutlich sind im Gehirn nicht Eigenschaften abgespeichert, sondern Prozesse repräsentiert. Gegenüber diesem Konzept kommt es einem Beibehalten der alten Zentren-Lehre in moderner Terminologie gleich, wenn man unterstellt, bestimmte Hirnwindungen nähmen die Implementierung von Wortformen und Sätzen vor, andere die Vermittlung von Verben, während wieder andere die Vermittlung von Hauptwörtern ausführten. Die Funktionsweise des Gehirns gleicht eben nicht der eines herkömmlichen Computers, der Merkmale lokal speichert und einen Input durch Vergleich von Merkmalen identifiziert.
Künftige Forschungsrichtungen
Einige Ansätze weiterer Untersuchungen zur Lokalisation von Sprachfunktionen zeichnen sich schon ab. Zum einen steht die Erforschung der Rückbildung von Störungen nach Schlaganfall erst am Anfang. Ferner könnte eine neue Technik weitere Einsichten bringen, bei der PET-Aufnahmen und Kernspin-Tomogramme übereinander projiziert werden (Bild 1). Eine vorläufig letzte Möglichkeit der Kombination von Methoden ergibt sich, wenn man die Magnetenzephalographie in kognitive Studien einbezieht. Dieses Verfahren hat noch eine schlechte räumliche Auflösung, ist aber – wie Raichle in seinem zitierten Artikel dargelegt hat – geeignet, die zeitliche Dimension kognitiver Prozesse besser zu erfassen als die trägen PET- und Kernspin-Tomographie-Systeme.
Die wichtigste Aufgabe scheint mir jedoch die Entwicklung von Versuchsanordnungen zu sein, welche die Aktivität von Hirnregionen während genauer definierter psychologischer Prozesse besser als bisher wiederzugeben vermögen. Eine letzte Frage ist, ob man auch künftig danach trachten sollte, Abbildungen zu gewinnen. Das kommt zwar den Sehgewohnheiten des mit Röntgenaufnahmen vertrauten Mediziners entgegen; weil aber alle Daten aus Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren zunächst als Zahlenwerte vorliegen, könnte man sie gleich als solche weiter verarbeiten und Unterschiede in der Aktivität einzelner Hirnareale berechnen. So würde man neue Möglichkeiten einer dynamischen und differenzierteren Analyse gewinnen.
Literaturhinweise
- To what Extent Can Aphasic Syndromes be Localized? Von Klaus Willmes und Klaus Poeck in: Brain, Band 116, Seiten 1527 bis 1540, 1993.
– Sprachstörungen. Von Walter Huber, Klaus Poeck und Luise Springer. Trias-Thieme, Stuttgart 1991.
– Klinische Neuropsychologie. Herausgegeben von Klaus Poeck. Zweite Auflage. Thieme, Stuttgart 1989.
– Localization in Neuropsychology. Von A. Kertesz. Academic Press, New York 1983.
– Lesion Analysis in Neuropsychology. Von Hanna Damasio und Antonio R. Damasio. Oxford University Press, Oxford 1989.
–
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 92
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