Vertrauensbildende Maßnahmen: Stabilisieren statt Spionieren
Einst undenkbar, doch heute Realität: Der "Vertrag über den Offenen Himmel" ist eine Errungenschaft, die der fragilen sicherheitspolitischen Lage eine neue Stabilität verleiht.
Als der US-Pilot Francis Gary Powers am 1. Mai 1960 sein Aufklärungsflugzeug bestieg, wusste er noch nicht, dass er an diesem Tag Weltgeschichte schreiben würde. Sein Auftrag war streng geheim: Auf einer Flugroute quer über die Sowjetunion sollte er militärische Nuklearanlagen fotografieren. Die USA wollten sich auf diese Weise über den Stand der sowjetischen Atomrüstung informieren. Von besonderem Interesse war eine Region östlich des Urals, wo sich verschiedene Produktionsanlagen befanden. Auch sollte sich Gerüchten zufolge in jener Gegend ein Unfall ereignet haben, bei dem offenbar große Mengen radioaktiven Materials weiträumig verteilt worden waren.
Powers flog in einer Höhe von über 18 Kilometern. Damit würde sich seine Maschine vom Typ U2 zwar auf den Radarschirmen der sowjetischen Abwehr bemerkbar machen, sie wäre aber aller Erfahrung nach von Abfangjägern und Flugabwehrraketen nicht zu erreichen. Dennoch: In der Nähe von Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg, wurde das Höhenflugzeug von einer Rakete getroffen. Powers vermochte sich mit dem Fallschirm zu retten. Er hatte strenge Anweisung, sich nicht ergreifen zu lassen, doch von der eigens mitgeführten Giftkapsel machte er – aus welchen Gründen auch immer – keinen Gebrauch.
So konnte der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow voller Empörung der Weltöffentlichkeit einen gefangenen US-Piloten präsentieren, der den Luftraum der Sowjetunion verletzt hatte. Nach anfänglichen Dementis musste US-Präsident Dwight D. Eisenhower schließlich eingestehen, dass seit 1955 mehrere solcher Spionageflüge stattgefunden hatten. Dieses späte Eingeständnis nahm Chruschtschow zum Anlass, die amerikanisch-sowjetische Gipfelkonferenz in Paris abzubrechen, auf der die Deutschlandfrage erörtert werden sollte. Das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion verschlechterte sich dramatisch. Ein Jahr nach diesem U2-Zwischenfall spitzte sich die Lage durch den Bau der Berliner Mauer zu. Wenige Monate, bevor der Ost-West-Konflikt mit der Kuba-Krise 1962 einem weiteren Höhepunkt entgegensteuerte, erlangte Powers seine Freiheit wieder: Auf der Glienicker Brücke bei Potsdam wurde er in einem von den Geheimdiensten sorgfältig arrangierten Verfahren gegen den Spion Rudolf Abel ausgetauscht, der Ende der 50er Jahre versucht hatte, in New York ein sowjetisches Agentennetz aufzubauen.
Von derlei Geheimdienst-Atmosphäre ist im April 2002 auf dem Marineflugplatz Nordholz bei Cuxhaven nichts mehr zu spüren. Rund zweihundert Offiziere aus Deutschland, Russland, Weißrussland, Ungarn, der Ukraine, den USA und anderen Ländern unterziehen hier drei Antonow-Propellermaschinen einer so genannten Zulassungsprüfung. Die Beobachtungsflugzeuge, die mit großformatigen Panorama- und Einzelbildkameras ausgerüstet sind, sollen im Prinzip das Gleiche tun wie Powers’ U2 mehr als vier Jahrzehnte zuvor: die Territorien der ehemals gegnerischen Staaten überfliegen und militärische Einrichtungen fotografieren. Das Anliegen ist ebenfalls das Gleiche: Man möchte wissen, über welche militärischen Potenziale die jeweils anderen Länder verfügen.
Doch gibt es erhebliche Unterschiede zur eingangs beschriebenen Situation in der Hoch-Zeit des Kalten Krieges. Hier handelt es sich nicht um Spionage, sondern um kooperativ durchgeführte Beobachtungsflüge. Die dabei gewonnenen Informationen stehen allen teilnehmenden Nationen zur Verfügung. Kooperation und Informationsaustausch haben Konfrontation und Misstrauen ersetzt. Alle Offiziere hier wissen, dass sie an einem neuen Kapitel der Weltgeschichte mitwirken. Aber anders als in den Krisen der vergangenen Jahrzehnte schaut die Weltöffentlichkeit kaum hin. Dabei sind die positiven Folgen der politischen Umwälzungen in Europa nach dem Fall der Mauer gegenwärtig wohl nirgends konkreter zu spüren als hier in Nordholz. Fernab der Parlamente, wo Politiker wohlklingende Sonntagsreden halten, bauen Menschen, die einst auf verschiedenen Seiten des "Eisernen Vorhangs" standen, am gemeinsamen Haus Europa und erproben eine neue transatlantische beziehungsweise transpazifische Zusammenarbeit. Was hier geschieht, ist praktizierte Sicherheitspartnerschaft – über alle früheren geografischen und ideologischen Grenzen hinweg.
Möglich geworden ist diese neue Art der Kooperation durch den so genannten "Vertrag über den Offenen Himmel". Die Idee zu einem solchen Open Skies Treaty, wie er im Englischen genannt wird, ist bereits ein halbes Jahrhundert alt. Sie kam in dem Klima des Machtstrebens und Misstrauens zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion auf, das sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg immer weiter aufheizte. Weil den Militärstrategen meist keine verlässlichen Informationen über das Potenzial der jeweils anderen Seite vorlagen, insbesondere im Bereich der nuklearen Rüstung, waren sie zu konservativen Schätzungen gezwungen. Das heißt, in der Regel schrieben sie dem Gegner ein Potenzial zu, das größer sein sollte als das, worüber er tatsächlich verfügte – und das oft größer erschien als das eigene, denn mit einem Unterlegenheits-Szenario ließen sich die Haushaltsausschüsse viel leichter zur Finanzierung neuer Rüstungsprogramme überreden.
Um diese asymmetrische Informationslage aufzubrechen, die zu den bekannten Folgen des Wettrüstens führte, schlug Eisenhower im Juli 1955 während der Genfer Vier-Mächte-Konferenz vor, ein Regime des Offenen Himmels zu entwickeln: Unbewaffnete Flugzeuge der Sowjetunion und der USA sollten die Territorien der beiden Länder regelmäßig überfliegen. Damit sollten die tatsächlichen militärischen Fähigkeiten festgestellt, Veränderungen rechtzeitig erkannt und das Risiko von Fehleinschätzungen der sicherheitspolitischen Lage verringert werden. Die sowjetische Führung lehnte den amerikanischen Vorschlag ab mit der Begründung, dieses Vorhaben würde in erster Linie Spionagezwecken dienen. Daraufhin ordnete Eisenhower die geheimen Überflüge mit der U2 an, und beide Seiten bauten in der Folgezeit ihre kostenintensiven Systeme aus Aufklärungssatelliten auf.
Im Mai 1989, als sich der Ost-West-Konflikt merklich entspannt hatte, ergriff US-Präsident George Bush erneut die Initiative. Er schlug vor, ein Abkommen zu entwickeln, das hauptsächlich der Vertrauensbildung dient und den in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1986 eingeleiteten Prozess fortsetzt und weiter ausbaut. Bereits im Januar 1990 absolvierte eine kanadische Hercules-Maschine einen Probeflug über Ungarn, der auch über einen sowjetischen Militärstützpunkt führte. Allerdings fand der Flug ohne Sensorausrüstung statt; er sollte lediglich demonstrieren, dass keine organisatorischen Probleme auftreten. Einen Monat später wurden konkrete Verhandlungen über einen Vertrag über den Offenen Himmel in Ottawa (Kanada) aufgenommen und danach in Budapest (Ungarn) fortgesetzt. Teilnehmer waren die Staaten der Nato und des damaligen Warschauer Pakts.
Spielregeln für das Spähen
Diese beiden ersten Verhandlungsrunden offenbarten eine Reihe von grundlegenden Differenzen. Ursächlich war vor allem das unterschiedliche Bedürfnis nach Geheimhaltung, die in der Sowjetunion einen viel höheren Stellenwert hatte als in den Nato-Staaten. Die Verhandlungen wurden zunächst abgebrochen, doch im Herbst 1991 kehrten die Delegationen an den Verhandlungstisch zurück – diesmal in Wien. Nach der Auflösung der Sowjetunion hatte für deren Nachfolgestaaten die Frage der Geheimhaltung erheblich an Bedeutung verloren, und es bildete sich eine kooperative Atmosphäre unter den Verhandlungspartnern aus. Zügig schritt der Verhandlungsprozess voran, und im März 1992 unterzeichneten die Außenminister von 25 Staaten das Vertragswerk. Es trat am 1. Januar 2002 in Kraft, nachdem auch Russland und Weißrussland ihre Ratifikationsurkunden hinterlegt hatten.
Der Vertrag über den Offenen Himmel enthält weitreichende Vereinbarungen zur Vertrauensbildung, die – gemessen an dem jahrzehntelang vorherrschenden Klima des Misstrauens und Wettrüstens – als geradezu sensationell einzustufen sind. Jeder Vertragsstaat darf über dem gesamten Hoheitsgebiet jedes anderen Teilnehmers Beobachtungsflüge durchführen. Nur deren jährliche Anzahl ist durch Quoten begrenzt. Die Sensorausstattung muss den Spezifikationen des Vertrags entsprechen, und sie muss zusammen mit den Beobachtungsflugzeugen in einem aufwendigen Prüfungsverfahren zugelassen werden. Um jedem Vertragsstaat gleiche Voraussetzungen zu bieten, müssen die Sensoren kommerziell erhältlich sein und die gewonnenen Daten und Informationen allen Partnern zur Verfügung gestellt werden.
Um des Weiteren allen Vertragspartnern genügend Zeit für das Anschaffen und Erproben der Sensorik zu bieten, wird diese in zwei Stufen eingeführt. In einer ersten Phase sind optische Kameras und Videokameras zugelassen. In einer zweiten Phase, die Anfang 2006 beginnt, dürfen auch Infrarot-Zeilenabtastgeräte und Radargeräte eingesetzt werden. Das so genannte Bodenauflösungsvermögen, das diese Sensoren erreichen, darf bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten. Für die optischen Kameras ist die Bodenauflösung auf dreißig Zentimeter begrenzt, für die Infrarot-Kameras auf fünfzig Zentimeter und für die Radargeräte auf drei Meter. Diese Werte sind für die Zwecke des Vertrages ausreichend. Ein höheres Auflösungsvermögen würde Einzelheiten preisgeben, die für die Vertragserfüllung irrelevant sind, die der beobachtete Staat aber eventuell weiterhin geheim halten möchte.
Die Begrenzung des Bodenauflösungsvermögens macht es erforderlich, dass ein Beobachtungsflugzeug mit gegebener Sensorik eine bestimmte Mindestflughöhe nicht unterschreitet. Eine der wichtigsten Aufgaben der Zulassungsprüfung ist deshalb, diese Mindestflughöhen festzulegen. Dazu wird ein spezielles Kalibrierungsziel aus unterschiedlichen Höhen fotografiert. Aber auch die verwendeten Filme und der Entwicklungsprozess spielen eine erhebliche Rolle. Denn welche Details auf dem Negativ zu erkennen sind, hängt wesentlich von der Kontrastwiedergabe der Grauwertabstufungen ab. Diese lässt sich durch die Steilheit der Schwärzungskurve beschreiben, die angibt, welche Schwärzung des Films durch eine bestimmte Belichtung hervorgerufen wird. Allein zwei Jahre dauerte es, bis die Inspektorenteams die "richtige" Schwärzungskurve festgelegt hatten.
Solche Feinheiten zeigen, dass der Vertragstext nicht alle technischen oder operativen Fragen berücksichtigen konnte. Deshalb wurde nach Vertragsunterzeichnung eine "Beratungskommission Offener Himmel" eingesetzt, in der die noch ungelösten Probleme oder die erst in der Praxis auftauchenden Fragen beraten werden können. Oftmals fehlen international anerkannte wissenschaftliche Messverfahren, die dann erst von Experten erarbeitet werden müssen. Die Kommission, die in Wien tagt, erarbeitet Lösungsvorschläge und beschließt über den bisherigen Vertragsinhalt hinausgehende Regelungen. Diese Beschlüsse haben die gleiche rechtliche Verbindlichkeit wie der Vertrag.
Literaturhinweis
Der Vertrag über den Offenen Himmel. Von Rüdiger Hartmann und Wolfgang Heydrich. Nomos, 2000.
Der Vertrag über den Offenen Himmel
Die wichtigsten Fakten:
- Am 24. März 1992 unterzeichneten die 16 Nato-Staaten, die drei GUS-Staaten Russland, Weißrussland und Ukraine sowie Polen, die damalige Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Georgien den Vertrag. Als weitere Mitglieder folgten Kirgistan, Schweden und Finnland.
- Der Vertrag ist auf unbegrenzte Zeit geschlossen und steht weiteren Staaten zum Beitritt offen.
- In Kraft ist das Abkommen seit 1. Januar 2002.
- Der Vertrag öffnet den Luftraum aller Vertragsstaaten auf kooperativer Grundlage. Die Territorien können ohne Einschränkungen von speziell ausgerüsteten und zugelassenen Flugzeugen aus beobachtet werden.
- Abhängig von seiner Größe muss jeder Vertragsstaat eine bestimmte Anzahl von Beobachtungsflügen über seinem Territorium erdulden (passive Quote). Im Gegenzug steht ihm die gleiche Anzahl von Beobachtungsflügen über fremden Territorien zu (aktive Quote).
- Der Einsatz der Beobachtungsflugzeuge ist ausdrücklich auch für Zwecke des Umweltschutzes und zur Bewältigung von Naturkatastrophen erlaubt.
Die wichtigsten Wirkungen:
- Der Vertrag verbessert die militärische Offenheit und Transparenz und trägt im Verbund mit anderen Verifikationsmaßnahmen dazu bei, die Einhaltung bestehender und künftiger Rüstungskontrollabkommen zu überwachen. Da-durch hilft er, Vertrauen aufzubauen, Konflikte zu verhüten und Krisen zu bewältigen.
- Als vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahme trägt der Vertrag zur Weiterentwicklung und Stärkung des Friedens bei, wodurch auch Stabilität und kooperative Sicherheit der Vertragsmitglieder erreicht wird.
- Durch das weit über Europa hinausreichende Vertragsgebiet setzt das Abkommen neue Maßstäbe.
- Der Vertrag hat Modellcharakter für Krisengebiete in Afrika und Asien.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2002, Seite 98
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