Stachelträger auf großem Fuß
Der erste Säuger aus der Grube Messel, bei dem ein Stachelkleid nachgewiesen werden konnte, verließ sich zugleich auf schnelle, wendige Flucht.
Nicht jeder Igel hat Stacheln. Paradebeispiel dafür sind die heutigen Haarigel Südostasiens. Mit ihrer rüsselartigen Schnauze und ihrem langen nackten Schwanz wirken sie eher wie Ratten – darum werden sie auch Rattenigel genannt. Ihnen ähnliche, rund 50 Millionen Jahre alte Tiere sind fossil aus der Grube Messel bei Darmstadt überliefert. Sie gehören zwar nicht zu den Vorfahren heutiger Haar- und Stacheligel, aber mit ihnen zu den Igelartigen, einer alten Gruppe der Insektenfresser (Insektivoren).
Drei Igelartige sind aus Messel bekannt – zwei davon in hervorragender Erhaltung; eine dritte Art war lange Zeit lediglich durch fragmentarische Relikte in schlechtem Zustand belegt. Ein ungewöhnlich gut erhaltenes Exemplar dieser Spezies, das Gerhard Storch vom Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt am Main nun erstmals detailliert beschrieben hat, erlaubt es, Aussehen und Lebensweise des nur etwa mausgroßen Tieres zu rekonstruieren ("Senckenbergiana lethaea", Band 73/1, Seiten 61 bis 81, 1993).
Doppelte Überlebensstrategie
Das verblüffendste Merkmal von Macrocranium tenerum sind Stacheln, die den Rumpf mit Ausnahme des Bauches bedecken. Sie zeichnen sich als dicke, zugespitzte Gebilde in Form eines straff nach hinten gerichteten Haarstrichs am Fossil ab (Bild links). Beim Fell der anderen Messeler Säuger sind die Haare wenn überhaupt einzeln auszumachen zu Büscheln verklebt, ungeordnet verbogen und ohne Strich; meist aber bilden sie nur eine verwaschene Grauzone um das Fossil.
Die bislang einzige Ausnahme macht Pholidocercus hassiacus, einer der beiden anderen Messeler Igelartigen: Er besaß Borsten. Seinen Schwanz umschlossen zudem schuppenförmige Hautverknöcherungen, und tiefe Gefäßrinnen der Schädelknochen lassen auf eine ledrige Schwiele oder Hornplatte über der Stirn schließen – alles in allem eine umfassende Strategie zur Abwehr von Feinden.
Macrocranion tenerum hingegen verließ sich offensichtlich nicht auf sein schützendes Stachelkleid allein. Das Tier konnte sich anders als heutige Igel nicht einrollen; insbesondere seine extrem verlängerten Hinterbeine schließen dies aus. Es war also wie sein unbewehrter Gattungsgenosse Macrocranion tupaiodon auf schnellen Start eingerichtet; dieser dritte Messeler Igelartige besaß nicht ganz so extrem verlängerte Hinterextremitäten, mit denen er wohl auch springen konnte.
Der Stachelträger aber lebte auf ausgesprochen großem Fuß – die Hinterfüße sind noch länger als die ohnehin schon sehr langen Unterschenkelknochen. Eine derartige Konstruktion ermöglicht einen raumgreifenden Sprunggalopp, bei dem die langen Hinterbeine den Körper vorwärtsschnellen und die Vorderbeine ihn als Landungshilfen nur abfedern. Der Sprunggalopp verbindet hohe Fluchtgeschwindigkeit mit enormer Wendigkeit – ein Beispiel ist das Hakenschlagen der Hasen. Vermutlich konnte das im Alttertiär lebende grazile Tier kurzfristig sogar auf zwei Beinen hüpfen.
Daß die schnelle Fortbewegung vor allem der Flucht vor Feinden und weniger dem Nahrungserwerb diente ist aus Gebiß und Mageninhalt zu schließen: Die für einen Insektivoren ungewöhnlich gleichartigen vorderen Zähne eignen sich schlecht zum Durchdringen und Packen von Beute, und die Backenzähne deuten auf eher quetschend reibende Mahlwerkzeuge hin. Zudem enthält der Magen-Darmbereich nach rasterelektronenmikroskopischen Untersuchungen von Storchs Kollegen Gotthard Richter viele gleichartige Chitinscherben von dünnhäutigen kleinen Gliederfüßern – vermutlich Ameisen und deren Larven – sowie ganz wenig pflanzliches Gewebe.
Größe und Proportionen des Schädels sind ähnlich wie beim südostasiatischen Zwerghaarigel, was auf eine bewegliche rüsselförmige Nase schließen läßt. Vermutlich stöberte das Tier als Allesfresser am Boden, vorzugsweise nach kleinen, in Mengen auftretenden Insekten wie Ameisen. Vermutlich hatte es auch einen langen Schwanz wie seine Messeler Verwandten – doch der ist fast das einzige, was am neuen Exemplar fehlt (Bild). Es sind lediglich die vorderen Schwanzwirbel überliefert; diese lassen aber aufgrund ihrer Muskelfortsätze auf einen langen Schwanz schließen.
Anpassungsunterschiede
Das kleine Ensemble der Messeler Igelartigen macht deutlich, daß sie in der Bandbreite biologischer Anpassungen nicht hinter den heutigen Vertretern zurückgestanden haben. Alle drei Arten waren Allesfresser, die vor allem mit Hilfe des Geruchs- und Gehörsinns ihre Nahrung am Boden aufstöberten; diese Kost war aber, wie Gebiß, Kauapparat und Magen-Darm-Inhalt erkennen lassen, durchaus verschieden. Hinzu kamen unterschiedliche Überlebensstrategien. Nur durch solche Differenzierungen lassen sich unter nahe verwandten und ähnlich großen Arten Ökosysteme aufteilen und nutzen – gleich, zu welcher geologischen Zeit eine Fauna existierte.
Primitiv sind die Messeler Igelartigen in Einzelmerkmalen – als Anpassungstypen sind sie, wie Storch schreibt, ungewöhnlich, ja extravagant im Vergleich zu den heutigen Formen. Die in der gegenwärtigen Tierwelt vorzufindenden Anpassungslösungen sind also nicht zwangsläufig die effektivsten und einzig möglichen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1994, Seite 23
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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