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Stahl: Ein traditioneller Werkstoff mit hohem Innovationspotential

Kein anderer technischer Werkstoff wird weltweit in solchen Mengen produziert wie Stahl, und kaum ein anderer verfügt über so vielfältige nützliche Eigenschaften. Härte und Zähigkeit etwa, einander eigentlich widersprechende Attribute, lassen sich durch die Temperatur bei Herstellung und Weiterverarbeitung des Rohstahls wie durch Legierungszusätze geziehlt steuern. Dabei ist das Spektrum der Möglichkeiten bislang nur zu einem kleinen Teil ausgeschöpft worden.

Stahl ist der wichtigste Konstruktionswerkstoff in nahezu allen Bereichen der Technik, sei es für tragende Elemente von Hängebrücken und Wolkenkratzern, sei es für kleinste medizinische Operationswerkzeuge.

Der Name rührt vom althochdeutschen stahal her und bedeutet "der Feste", doch ist Festigkeit nur eine seiner Eigenschaften – er ist auch sehr zäh, läßt sich also nur unter großem Energieaufwand brechen, und ist mit einem hohen Elastizitätsmodul von 200 Milliarden Pascal zwar elastisch, aber nicht nachgiebig. Allerdings umfaßt die Bezeichnung Stahl eine ganze Palette metallischer Werkstoffe, die zweierlei gemeinsam haben: Sie bestehen größtenteils aus Eisen, und der Anteil des Härte gebenden, doch spröde machenden Kohlenstoffs beträgt nicht mehr als zwei Prozent (höhere Werte haben Roh- und Gußeisen).

Dem englischen Uhr- und Instrumentenmacher Benjamin Huntsman (1704 bis 1776) gelang es 1742 erstmals, flüssigen Stahl herzustellen; in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts setzten der Essener Industrielle Friedrich Krupp (1787 bis 1826) und sein Sohn Alfred (1812 bis 1887) das Verfahren großtechnisch um. Mit etwa 700 Millionen Tonnen Rohstahl pro Jahr wird heutzutage weltweit mehr von diesem Werkstoff produziert als von allen anderen zusammen.

Seit 20 Jahren ist diese Menge bis auf konjunkturelle Schwankungen um etwa 15 Prozent konstant geblieben; die westdeutsche Produktion beläuft sich seit 1964 auf rund 40 Millionen Tonnen jährlich. Drastische Personalreduzierungen in dieser Branche spiegeln demnach die zunehmende Arbeitsproduktivität wider, nicht aber einen abnehmenden Ausstoß. Tatsächlich wird für die gleiche Menge Stahl nur etwa ein Viertel der Beschäftigten wie vor 30 Jahren benötigt – ein Ergebnis unablässig verbesserter, weitgehend automatisierter Fertigungstechniken (Bild 1), die zudem auch die Belastung der Umwelt deutlich verringert haben.

Mittlerweile sind die Verweilzeiten von Stahlsorten auf dem Markt sehr kurz, bei Röhrenstählen für Pipelines betragen sie beispielsweise nur sieben Jahre. Deshalb ist etwa die Hälfte der derzeit 2000 genormten Sorten noch keine fünf Jahre erhältlich; solche, die sich vor 20 Jahren bestens verkauften, wären mittlerweile sogar im selben Einsatzgebiet wegen gestiegener Anforderungen an das Material und seine Weiterverarbeitung ungeeignet. Das mag überraschen, da man – beeindruckt durch neuartige Kunststoffe und Keramiken – leicht übersieht, daß traditionelle Werkstoffe fortwährend in der Weiterentwicklung sind. Zwar setzen sich Neuerungen weniger sprunghaft durch und sind auch nicht so auffällig; wegen der großen Produktionsvolumina haben aber schon Verbesserungen um wenige Prozent erhebliche ökonomische Auswirkungen.


Innovationsfähigkeit als Materialeigenschaft

Ein Mikroskop oder Elektronenmikroskop enthüllt bei Stahlproben einen Mikrokosmos feinster Teilchen, deren Art und Anordnung die gewünschten Eigenschaften ausmachen. Schon geringfügige Änderungen der elementaren Zusammensetzung des Materials, der Produktionsbedingungen wie auch der Weiterverarbeitung ergeben unterschiedliche Kennwerte für Festigkeit und Zähigkeit.

Grundlegend dafür ist das Verhalten reiner Eisen-Kohlenstoff-Legierungen. Eisen ist eines der wenigen Metalle, die je nach Temperatur zwei verschiedene Formen des kubischen Gitters annehmen: Unterhalb von 911 Grad Celsius bildet es Ferrit, dessen Grundgitter raumzentriert ist, also ein weiteres Eisenatom im Mittelpunkt des Würfels aufweist; zwischen 911 und 1392 Grad Celsius ordnet es sich zum flächenzentrierten Austenit, der statt dessen zusätzliche Eisenatome jeweils in der Mitte der Würfelseiten enthält. Die Existenz dieser beiden Zustandsformen ist deshalb so bedeutend, weil man allein durch Erhitzen und Abkühlen eine zweimalige totale Umwandlung der Mikrostruktur zu erzwingen und diese somit gezielt zu ändern vermag.

In beiden Zuständen können je nach Temperatur bestimmte Mengen an Kohlenstoff gelöst, also in die Gitter mit eingebaut sein. Höhere Anteile scheiden sich hingegen als Eisencarbid (Zementit, Fe3C) aus. Diese Partikel erweitern das Eigenschaftsspektrum, denn Carbid ist sehr hart.

Um hochfeste Stähle zu erzeugen, erwärmt man beispielsweise einen Stahl mit 0,3 Prozent Kohlenstoff, bis sich ein Austenitgefüge bildet und alle Carbidkörnchen in Lösung gegangen sind. Eine anschließende Abkühlung läßt sich nun so steuern, daß entweder in jedem Korn abwechselnd Lamellen von Carbid und Ferrit entstehen (man nennt diesen Stahl Perlit) oder der Kohlenstoff gemeinsam mit dem Eisen ein neues raumzentriertes Gefüge aufbaut – den sehr harten Martensit.

All diese Verfahren beruhen darauf, daß sich eine Zustandsform in eine andere normalerweise durch Diffusion der Atome umwandelt, was aber bei tiefen Temperaturen viel mehr Zeit erfordert als bei hohen. So lassen sich manche Strukturänderungen durch schnelles Abkühlen unterdrücken, andere (diffusionslose) wie die Martensitumwandlung hingegen auslösen (Bild 2). Weil sich die Mikrostruktur und damit die Härte der meisten Stähle schon auf diese Weise in weiten Grenzen verändern lassen, vermag man beispielsweise Zeit, Energie und Kosten dadurch zu sparen, daß man Bauteile im weichen Zustand formt und danach dem Verwendungszweck angepaßt härtet.

Erweitert man die Anzahl der Bestandteile durch Legieren, ergeben sich mit jedem zusätzlichen auch weitere Variationsmöglichkeiten. Um die Komplexität solcher Systeme zu erfassen, sind mehrachsige Zustandsdiagramme hilfreich, wobei jedem Element eine Achse zugeteilt ist und die Temperatur als vertikale Achse aufgetragen wird. Eine Mischung aus drei Elementen bei fester Temperatur stellt sich demnach als ein Dreieck dar (Bild 3), an dessen Ecken jeweils ein reines Element vorliegt; im Innern definiert jeder Punkt die jeweiligen Elementkonzentrationen, die sich zu eins summieren. Die Existenzbereiche jeder Zustandsform – auch Phase genannt – sind in dieser Darstellung zusammenhängende Gebiete. In anderen Bereichen kommen mehrere Phasen gleichzeitig vor.

In modernen Stählen werden mehr als ein Dutzend Legierungselemente eingesetzt; die wichtigsten sind Kohlenstoff, Mangan, Silicium, Chrom, Nickel, Aluminium, Stickstoff, Phosphor, Bor, Titan, Vanadium, Niob, Wolfram und Cobalt (Bild 4); diese bilden zusammen also ein vieldimensionales Zustandsdiagramm. Wegen dieser Komplexität ist eine enorme Anzahl möglicher Legierungen auf Eisenbasis bislang noch gar nicht erprobt worden.


Anforderungen an Konstruktionswerkstoffe

Stähle ermöglichen, ein reichhaltiges Spektrum mechanischer Eigenschaften zu verwirklichen. Drähte in Stahlgürtelreifen, sogenannter Reifencord, sind die derzeit festeste Form – sie halten eine Last von 40 Tonnen pro Quadratzentimeter. Ein Stahldraht dieser Festigkeit vermag bei einem Durchmesser von nur zwei Millimetern einen Mittelklassewagen sicher zu tragen. Andererseits lassen sich spezielle Tiefziehstähle für Automobilkarosserien um etwa 50 Prozent dehnen; ihre Festigkeit beträgt, damit sie nach dem Tiefziehen nicht zu stark zurückfedern, nur 1,7 Tonnen pro Quadratzentimeter.

Härte allein macht indes noch keinen guten Konstruktionswerkstoff aus, wie Gesteine, Gläser und Keramiken belegen. Zähigkeit ist ebenfalls erforderlich, denn sie macht das Material robust, fehlertolerant und damit sicher für den praktischen Einsatz. Allerdings ist es ein recht allgemeines Gesetz der Materialfestigkeit, daß fast jeder Werkstoff zu härten ist, dabei aber in gleichem Maße spröder wird – gesucht ist also die optimale Kombination beider Eigenschaften. In dieser Hinsicht belegen Stähle einen guten Platz. Beispielsweise erhöht das Zulegieren von Stickstoff beide Qualitäten (Bild 5).

Härte und Zähigkeit reichen aber auch noch nicht; mindestens fünf weitere Eigenschaften sind erforderlich: Umformbarkeit, Schweißbarkeit, chemische Beständigkeit, Wiederverwertbarkeit und Preiswürdigkeit. Alle diese Forderungen werden von den Stählen exzellent erfüllt, was ihre Rolle im Wettbewerb mit anderen Werkstoffen weiter stärkt. So wurde Schrott lange vor jeder Umweltdiskussion in großen Mengen und ohne Qualitätsverlust wiederverwertet. Je nach Anwendungsfall sind die genannten Eigenschaften von mehr oder weniger hohem Gewicht, und derjenige Werkstoff wird gegen konkurrierende gewinnen, der am besten einem vorgegebenen Anforderungsprofil anzupassen ist.

Entwicklungen der Verfahrenstechnik

Der Weg vom Rohstahl zum fertigen Produkt verläuft über mehrere Stufen, auf denen sich alle genannten Eigenschaften beeinflussen lassen. Werden bei der Stahlherstellung bereits Legierungselemente zugemischt und durch besondere Verfahren der Reinheitsgrad eingestellt, so lassen sich beim Gießen die Gefüge durch Temperaturregulierung sowie dann weiter beim Walzen durch mechanische Bearbeitung und Nachglühen beeinflussen.

In bisher üblichen Stranggußanlagen erstarrt der Stahl in etwa 25 Zentimeter dicken, rechteckigen Strängen, sogenannten Brammen. Die Gebrauchsdicke von Flachstahl ist aber bedeutend geringer, für Karosseriebleche beträgt sie beispielsweise nur 0,7 Millimeter. Bislang wurde der Strang deshalb gewalzt. Das verschlingt Investitions- und Energiekosten, die man zum großen Teil einsparen könnte, gelänge es von vornherein, dünner zu gießen. Dies ist aber großtechnisch sehr schwierig und darum Gegenstand intensiver Entwicklungen.

Einige Produktionsanlagen erreichen schon Gießdicken von etwa 50 Millimetern; da viele Walzgerüste entfallen, sind sie nur etwa ein Drittel so lang wie herkömmliche. Beim Doppelroller-Verfahren gießt man sogar nur etwa einen Millimeter starke Bänder, indem man die Schmelze zwischen zwei seitlich abgedichteten Rollen erstarren läßt (Bild 6); das hundertmal schnellere Abkühlen erzeugt zudem deutlich feinkörnigere Mikrostrukturen. Dieses Verfahren wird weltweit an mehreren Orten im Labormaßstab, aber auch bereits in Pilotanlagen erprobt.

Meist muß die Oberfläche des Stahls – des fertigen Produkts oder eines noch umzuformenden Halbzeugs – abschließend gehärtet werden. Zu den klassischen Techniken zählen die genannte Wärmebehandlung, das Einbringen von Stickstoff sowie das Aufkohlen aus einer Gasatmosphäre. Moderne Techniken, die gegenwärtig noch erweitert und verbessert werden, bringen äußerst harte Schichten etwa aus Titancarbid oder -nitrid mit physikalischen und chemischen Bedampfungsverfahren auf. Elektronen- oder Ionenbeschuß vermag die Gefügestruktur gezielter zu verändern, als dies durch eine thermische Behandlung möglich wäre. Auch Kunststoffbeschichtungen, bei denen die Polymermoleküle eine direkte chemische Verbindung mit dem Stahl eingehen, sind in der Entwicklung; sie bilden schon als mono-molekulare Schicht einen guten Korrosionsschutz (Bild 7).


Methoden der Forschung und Entwicklung

Um die verschiedenen Verfahrensschritte zu optimieren und auch aufeinander abzustimmen, sind mathematische Modellierungen sehr hilfreich. Allerdings sind Werkstoffe mit solch kompliziertem Gefüge wie dem des Stahls, dessen Ausbildung durch viele Einzelheiten des Produktionsprozesses beeinflußt wird, zu komplex, als daß man sie vollständig und exakt theoretisch zu beschreiben vermöchte. Viele Zusammenhänge lassen sich jedoch bei wachsenden Rechnerleistungen immer realitätsnäher numerisch simulieren. Zum Beispiel kann man das Wachstum eines runden Ferritteilchens in einer Austenitmatrix bei 750 Grad Celsius, dessen Geschwindigkeit von der Diffusion der umzulagernden Atome bestimmt wird, numerisch analysieren. In Minuten, so zeigen die Rechnungen, wächst das Partikel durch Kohlenstoff-, dagegen erst in Wochen durch Siliciumdiffusion (also unter Umlagerung beider Elemente; Silicium diffundiert wesentlich langsamer). Erst nach einem Jahr ist die Reaktion abgeschlossen. Vergleichbar detaillierte Ergebnisse sind experimentell kaum zu gewinnen.

Dennoch läßt sich die Realität nicht ausschließlich auf dem Computer nachbilden. Beispielsweise beschäftigen sich Forscher unseres Instituts mit der Frage, wie sich die Materialeigenschaften von Stahl ändern, wenn man Gießen und Walzen aus Zeit- und Kostengründen ohne Zwischenabkühlung direkt hintereinander ausführt. Statt ein im Maßstab reduziertes Laborwalzwerk aufzubauen (bei den verringerten Abmessungen würde das Abkühlen zu schnell vonstatten gehen), ersetzten wir es durch einen hydraulisch bewegten Kolben, der mit Wucht auf eine stillstehende Stahlprobe genügender Größe aufschlägt. So kann man das großtechnische Walzen im Labor sehr gut experimentell nachahmen und seine Wirkung auf Gefügebildung und Eigenschaften verfolgen, um letztlich wieder den industriellen Prozeß zu optimieren.

Schließlich müssen auch modernste Meßmethoden wie die Rasterkraftmikroskopie eingesetzt werden, um etwa das Entstehen und Wachsen von Mikrorissen detailliert zu untersuchen.

Dieses Repertoire an Verfahren zur Analyse und Veränderung des Werkstoffs und seine ihm eigene Vielgestalt ermöglichen dann die gezielte Entwicklung einer Stahlsorte auf eine Anwendung hin oder auch die Optimierung von Bauteilen, von denen einander widersprechende Eigenschaften gefordert werden. Ein Getriebezahnrad kann als anschauliches Beispiel dienen: In Bereichen großer Zugbelastung muß das Material zäh sein, wo die Zahnräder einander berühren hingegen hart und verschleißfest. Stahl läßt sich nur wenige Millimeter tief härten und weist dann beide Eigenschaften auf – fest an der Oberfläche und zäh im Innern. Diese Bandbreite an Eigenschaften weist kaum ein anderer Werkstoff auf. Aus seiner Komplexität erwächst dem Stahl eine Innovationskraft, die ihm auf lange Sicht seine Bedeutung als Konstruktionswerkstoff erhalten wird.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1995, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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