Experimentelle Ökonomie: Strafe muss nicht sein
Altruistisches Verhalten durch Sanktionen erzwingen zu wollen ist problematisch. Es funktioniert nur, wenn der Betroffene die Strafdrohung auch als angemessen empfindet.
Verfechter einer harten Erziehung sind sich sicher: Nur die Drohung mit Strafe könne den Menschen von schädlichem Tun abhalten. Zwecklos sei der Appell an bessere Einsicht, Edelmut oder Mitgefühl. Erst dann, wenn ein potenzieller Übeltäter sich vorher ausrechnen könne, dass der zu erwartende Nachteil aus der Bestrafung den Vorteil aus der Tat übersteige, werde er von seinem Vorhaben ablassen.
Das steht im Einklang mit dem Standardmodell der Wirtschaftswissenschaftler. Deren Homo oeconomicus interessiert sich nur für seinen eigenen Vorteil und sonst gar nichts. Angesichts der herannahenden Straßenbahn vergleicht er deshalb Fahrpreis einerseits und Schwarzfahrergebühr mal Wahrscheinlichkeit des Erwischtwerdens andererseits und entscheidet sich dann für den Kauf eines Tickets – hinreichende Kontrolldichte vorausgesetzt.
Nun hat das Modell des Homo oeconomicus in letzter Zeit erhebliche Kratzer bekommen. Beispielsweise fanden Karl Sigmund, Ernst Fehr und Martin A. Nowak heraus, dass Menschen in vielen Situationen nicht ausschließlich ihren Vorteil suchen, sondern auch ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit Geltung verschaffen wollen (Spektrum der Wissenschaft 3/2002, S. 52). Dafür sind sie sogar bereit, Nachteile in Kauf zu nehmen.
Ein neueres Experiment, das Fehr zusammen mit Bettina Rockenbach (damals an der Universität Bonn, jetzt in Erfurt) durchgeführt hat, verschärft diese Aussage noch: Unter bestimmten Umständen wird die Androhung einer Strafe bereits als unfairer Akt empfunden und mit einer verminderten Kooperationsbereitschaft beantwortet (Nature, Bd. 422, S. 137).
Vertrauen lohnt sich – aber nur, wenn es erwidert wird
Fehr und Rockenbach baten Studierende an der Universität Bonn, die um die Mittagszeit zum Essen in die Mensa kamen, um die Teilnahme an einem "Investitionsspiel". Je zwei Personen – nennen wir sie A und B – wurden zu einem ungleichen Paar zusammengespannt. Das geschah anonym – die beiden bekamen sich nicht zu Gesicht – und nur ein einziges Mal. Damit sollte verhindert werden, dass irgendwelche persönlichen Gefühle der Partner füreinander, die Erwartung einer Gegenleistung oder die Furcht vor Spott und Schande eine Rolle spielten. Aus demselben Grund wurde das Geld, das es bei dem Spiel zu gewinnen gab, sehr diskret ausgezahlt.
Stellen wir uns unter A einen Anleger und unter B seinen Bankier vor. Beide erhalten vom Spielleiter ein Grundkapital von zehn Geldeinheiten. A steht es frei, einen beliebigen Teil davon B anzuvertrauen. Der Spielleiter legt noch einmal das Doppelte dazu. B darf nun entscheiden, wie viel er von dem überlassenen Kapital plus 200 Prozent Gewinn an A zurückzahlt – im Extremfall gar nichts. Am Ende bekommen beide ihr Guthaben in echtem Geld ausbezahlt; in Bonn waren es fünfzig Pfennig pro Geldeinheit plus drei Mark fürs Mitmachen.
Wenn die Spieler einander voll vertrauen, kann jeder sein Grundkapital verdoppeln, indem A es komplett aufs Spiel setzt und B von dem auf dreißig Einheiten angewachsenen Betrag zwanzig an A zurückgibt; die restlichen zehn plus sein Startkapital machen zusammen auch zwanzig. Wenn dagegen das erforderliche Vertrauen fehlt, schleichen beide mit lumpigen zehn Einheiten davon. Insofern gleicht die Situation der im "Gemeinwohl-Spiel", das Sigmund, Fehr und Nowak früher schon durchgeführt hatten: Vier Personen werfen einen Einsatz ihrer Wahl in einen Gemeinschaftstopf, dessen Inhalt verdoppelt und zu gleichen Teilen an die Spieler ausgezahlt wird: Vertrauen zahlt sich aus – allerdings nur, wenn es erwidert wird.
Während beim Gemeinwohl-Spiel alle vier Partner gleichberechtigt sind, hat im Investitionsspiel jedoch B eindeutig die stärkere Position. Er muss sich ja erst entscheiden, nachdem A unwiderruflich seinen Vertrauensvorschuss geleistet hat. Nichts hindert ihn, einen gutgläubigen A gnadenlos auszunehmen und mit vollen vierzig Einheiten auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
Aber so egoistisch sind die Menschen gar nicht – zumindest nicht die Bonner Studenten –, wie sich bei dem Experiment herausstellte. Die As hatten auf dem Zettel, der anonym an den jeweiligen B weitergereicht wurde, nicht nur anzugeben, wie viel sie investierten, sondern auch, wie viel sie gerne zurückbekommen würden. Dabei zeigten sie sich bescheiden: Im Durchschnitt erbaten sie nur das 1,8fache ihres Einsatzes, also etwas weniger als das Doppelte, was der vollkommenen Gleichbehandlung entsprochen hätte. Diese Erwartung wurde im Durchschnitt zu immerhin drei Vierteln von den Bs befriedigt – ein klarer Fall von Altruismus, der sich einzig und allein mit Fairnessprinzipien erklären lässt.
Strafdrohung mindert Großzügigkeit
Noch interessanter als dieses Resultat ist jedoch das Ergebnis einer Variante des Investitionsspiels, bei der es eine "Strafoption" gab. Im Gemeinwohl-Spiel gedeiht das zarte Pflänzchen der Kooperativität enorm, wenn die Teilnehmer Gelegenheit bekommen, ihre unkooperativen Kollegen mit Sanktionen zu belegen, das heißt nachträglich deren Gewinn um einen gewissen Betrag zu schmälern – was sie selbst aber auch eine bestimmte (geringere) Summe kostet. Im Prinzip kann diese Maßnahme nach Belieben verhängt werden, ohne dass ein Fehlverhalten des Betroffenen vorliegt; allerdings setzten die Teilnehmer des Gemeinwohl-Spiels sie wirklich nur als Strafe ein – das aber ausgiebig.
Vom Standpunkt des Homo oeconomicus ist diese Handlungsweise vollkommen widersinnig, weil sie den eigenen Gewinn mindert. Schon die schiere Möglichkeit einer Bestrafung veranlasst die Spieler aber zu größerer Kooperativität, wovon wiederum alle profitieren. Damit dürfen sich die Verfechter harter Strafandrohungen bestätigt fühlen.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. In der erwähnten Variante des Investitionsspiels erhielten die As Gelegenheit, ihren jeweiligen B für mangelnde Kooperativität, das heißt für Rückzahlungen unterhalb des erwarteten Betrages, zu "bestrafen". Diesen Begriff haben Fehr und Rockenbach in ihren Anweisungen allerdings sorgfältig vermieden, um den Anschein eines moralischen Vorwurfs nicht aufkommen zu lassen. A hatte auf seinem Zettel nur zusätzlich anzukreuzen, ob B vier Einheiten vom Guthaben abgezogen werden sollten, wenn er weniger als den gewünschten Betrag zurückzahlte. Im Unterschied zum Gemeinwohl-Spiel war diese Strafandrohung der Kooperation aber nicht förderlich – ganz im Gegenteil!
Wenn A das Feld mit der Bestrafungsoption ankreuzte, zahlte der durchschnittliche B deutlich weniger aus als bei der ersten Variante des Investitionsspiels, in der A keine Sanktionen verhängen konnte. Wenn A diese Möglichkeit dagegen hatte, aber keinen Gebrauch davon machte, war die Auszahlung sogar höher als im Fall ohne Bestrafungsoption.
Offensichtlich fühlte sich B, den Spielregeln entsprechend, in der Position des Gönners, der durchaus bereit ist, etwas zu geben, das er nicht geben muss, aber darauf besteht, dass seine Gabe freiwillig ist. Also honoriert er es, wenn ihm A durch Nicht-Ankreuzen diese Freiwilligkeit bestätigt, und schmollt in Form von Minderzahlung, wenn A seine edlen Absichten durch Strafandrohung in Zweifel zieht.
Dabei spielt auch die Frage der Angemessenheit eine Rolle. Der Schmolleffekt fällt deutlich geringer aus, wenn A eine relativ bescheidene Forderung (weniger als das Doppelte des Einsatzes) mit Bußgeld bewehrt, als wenn er zu viel verlangt und für den Fall der Untererfüllung auch noch Sanktionen in Aussicht stellt.
Wohlgemerkt: Die angedrohte Strafe ist nicht wirklich hart. Ein ökonomisch rationaler B würde gar nichts auszahlen, die vier Einheiten Verlust in Kauf nehmen und sich immer noch wesentlich besser stellen als die Bs in dem Bonner Experiment, die ihre freiwillige Gabe sorgsam nach der (wahrgenommenen) Fairness des Partners abstuften.
Die Parallelen zum täglichen Leben sind unverkennbar. Auch hier stehen nur selten wirklich harte Strafen zu Gebote. In vertraglichen Beziehungen aller Art – oder innerhalb einer Familie – ist es oft unmöglich oder kontraproduktiv, die Einhaltung von Vereinbarungen gerichtlich zu erzwingen. Mit der gebotenen Vorsicht wäre also das Ergebnis von Fehr und Rockenbach etwa so zu verallgemeinern: Der Appell an die Fairness des Partners funktioniert durchaus – vorausgesetzt, er wird vom Partner als fair empfunden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2003, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben