Altertumsforschung: Streit um Deutung des ältesten Original-Schriftstücks Europas
Seit seiner Entdeckung vor vierzig Jahren ist der vorsokratische "Papyrus Derveni" in seiner Bedeutung ebenso unangefochten wie in seiner Deutung umstritten. Erst jetzt liegt die erste komplette Transkription samt englischer Übersetzung vor.
Zeit und Olymp können beide als lang bezeichnet werden, jedoch nicht der Himmel, der nämlich weit ist." In diesem leicht rätselhaften, leicht philosophischen Stil sind auch die übrigen 25, größtenteils nur sehr fragmentarisch erhaltenen Kolumnen des "Papyrus Derveni" abgefasst. Sein Name leitet sich von seinem Fundort ab, einem Dorf bei Thessaloniki in Nordgriechenland, in dem die Schriftrolle 1962 entdeckt wurde. Der Papyrus lag im Grab eines feuerbestatteten Angehörigen der Kriegerkaste neben der verbrannten Leiche, weshalb die ersten, äußeren Seiten – und damit der Anfang der Papyrusrolle – in der Mitte völlig verkohlt und unleserlich waren.
Die Bestattung fand nach übereinstimmender Ansicht der Experten um etwa 330-340 v. Chr. statt. Dies lässt sich sehr genau bestimmen, weil in Derveni noch mehrere andere Gräber aus jener Zeit entdeckt wurden.
Der Text selbst entstand bereits einige Jahrzehnte früher. Er wurde Analysen zufolge um etwa 380-360 v. Chr. mit Feder auf den Papyrus geschrieben. Damit ist er das älteste im Original erhaltene europäische Schriftstück und als solches von überragender Bedeutung für die Geisteswissenschaften, speziell die Philosophie. Abgesehen von Inschriften sind literarische Zeugnisse aus dem vorsokratischen Griechenland nur in Abschriften oder Übersetzungen aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten erhalten. Wer den Papyrus verfasste – oder lediglich eine Textvorlage kopierte? –, ist allerdings ebenso unbekannt wie der Titel der Abhandlung; denn den 26 Kolumnen fehlt eine Unter- oder Überschrift. Auch innerhalb des Textes wird kein Titel oder Autor angegeben.
Jahrzehntelanges Puzzlespiel
Noch im Jahr des Fundes hat der deutsche Spezialist Anton Fackelmann den Papyrus Derveni kunstvoll entrollt und damit überhaupt zugänglich gemacht. Allerdings konnte der Text wegen der vielen brand- und altersbedingten Lücken insgesamt nur zu etwa einem Drittel rekonstruiert werden. Zwei Drittel sind wohl für immer zerstört. In den allerersten Kolumnen ist nur ein einzelnes Wort zweifelsfrei entzifferbar.
All dies führte zu einem jahrzehntelangen Puzzlespiel der Wissenschaftler, bei dem fehlende Buchstaben oder ganze Satzteile wort- und sinngemäß ergänzt werden mussten – eine sehr mühevolle Rekonstruktions- und Dechiffrierarbeit, die seit langem Cyriakos Tsantsanoglu in Thessaloniki leistet. Daneben präsentierten in der Vergangenheit immer wieder ausländische Schriftexperten Ergebnisse eigener Rekonstruktionsversuche. Und so streiten die Gelehrten bis heute um Lesarten, Interpretationen und philosophische Vaterschaft des Papyrus Derveni. Die erste komplette Transkription des Urtextes mit englischer Übersetzung veröffentlichte der Londoner Gräzist Richard Janko in der jüngsten Ausgabe der deutschen "Zeitschrift für Papyrologie und Epigrafik" (ZPE Nr. 141), wobei er sie im Vorwort zurückhaltend nur als "Interimstext" bezeichnet.
Im gleichen Fachorgan war bereits im Jahre 1982 eine Version des gesamten bruchstückhaften Urtextes erschienen, allerdings seltsamerweise anonym. Dies weckte großen Unmut in breiten Kreisen der internationalen Gelehrtenwelt, der bis heute noch nicht verflogen ist. Es wird vermutet, dass deutsche Wissenschaftler damals nach Thessaloniki reisten und den dort öffentlich ausgestellten Papyrus hinter Glas fotografierten, um davon zu Hause eine Abschrift anzufertigen. Als unautorisierte Transkription bezeichnete sie die Papyrologin Maria Serena Funghi aus Pisa und sprach damit wohl für viele Kollegen vor allem in den westeuropäischen Ländern. Die Schriftleitung der "Zeitschrift für Papyrologie und Epigrafik" in Bonn reagierte indes nicht auf die Vorwürfe und verwies auf das Vorwort zu dieser Publikation, in dem die Intentionen der deutschen Wissenschaftler dargelegt würden.
Schließlich veröffentlichten auch die Kritiker die Essenz ihrer eigenen Bemühungen um den Papyrus, allerdings erst im Jahre 1997, rund 35 Jahre nach dem Fund. Der amerikanische Sammelband "Studies on the Derveni Papyrus" enthält außer neuen Erkenntnissen über das bedeutende philosophiehistorische Dokument eine frühe englische Übersetzung mitsamt einer Diskussion strittiger Textpassagen. Die Grundlage bildete ein Experten-Kongress, der im April 1993 in Princeton (New Jersey) stattfand. Als Herausgeber fungierten Glenn W. Most von der Universität Chicago (er lehrte von 1991 bis 2001 auch in Heidelberg) sowie André Laks aus Lille (er war letztes Jahr Stipendiat des Berliner Wissenschafts-Kollegs). Was auffällt: Deutsche Forscher sind in dem Band nicht vertreten und hatten auch nicht auf der Tagung vorgetragen. Als einziger deutschsprachiger Autor lieferte der inzwischen emeritierte Walter Burkert aus Zürich einen Beitrag.
Spiegel vorsokratischen Denkens
Der deutsche Papyrologie-Experte Robert Hübner, bekannt als Schach-Großmeister und Kolumnist, kommentierte diesen Sammelband eher lakonisch mit den Worten: "Da dem Buch der griechische Urtext fehlt, nach dem die Übersetzung angefertigt wurde, hängt es sozusagen in der Luft!" Offensichtlich ist der tiefe Graben zwischen den deutschen und den anderen westlichen Altertumsforschern noch nicht zugeschüttet. Mit besänftigendem Unterton forderte denn auch der Gräzist Claude Calame von der Universität Lausanne kürzlich in einem Pressegespräch seine Kollegen in der Bundesrepublik zu "mehr Kooperationsbereitschaft und Mitarbeit" auf.
Doch jenseits dieses Streits lassen sich durchaus schon einige allgemeine Aussagen zum Papyrus Derveni machen. Eine nüchterne inhaltliche Bestandsaufnahme unter Einbeziehung der jüngst erschienenen Transkription von Janko ergibt, dass der Text um eine Thematik kreist, die dem Tod und der Feuerbestattung eines Kriegers angemessen ist. Die ersten Kolumnen handeln von den Erinnyen, den griechischen Rachegeistern. Heraklit, der namentlich erwähnt wird, nannte sie Helferinnen der Gerechtigkeit. Orpheus, der in späteren Kolumnen zu Wort kommt, möchte sie dagegen durch Opfergaben milder stimmen. Heraklit lehnt dies dem Text zufolge kategorisch ab. Obwohl er als Philosoph des Krieges gilt ("Der Krieg ist der Vater aller Dinge"), verabscheut er insbesondere Blut- oder Tieropfer.
Anschließend erwähnt der Papyrus-Schreiber den Hades und seine Schrecken. Auch dies passt zum Anlass eines Begräbnisses. In der 6. Kolumne folgt die erste komplett erhaltene Textpassage: "Gebete und Opfer besänftigen die Seele..." Hier äußert sich offenbar der Schreiber selbst. Er leitet dann zu Orpheus und seiner Lehre über, der den Menschen "wichtige Dinge in Rätseln", also verschlüsselt, vermitteln wollte.
Insgesamt spiegelt der Papyrus also zwei wichtige religionsphilosophische Geistesrichtungen seiner Zeit wider – Heraklits vernunftbetontes Denken und die orphische Mystik. Dabei liefert er bedeutsame Einblicke in die vorsokratische Philosophie. Nach Ansicht von Laks bestätigt er in vielen Details die Richtigkeit späterer überlieferter Schriften.
Abgesehen von diesen generellen Aussagen bleiben allerdings gravierende Unterschiede in der Beurteilung durch die diversen Altertumsforscher. So sieht Burkert, der sich seit über zwanzig Jahren mit dem Papyrus befasst, den "sicher belesenen" Autor wenigstens teilweise in der Nachfolge des Stesimbrotos von Thasos – oder gar des Sophisten Anaxagoras. Janko dagegen hält den Papyrus Derveni im Vorwort seiner jüngsten Übersetzung lediglich für eine Abschrift aus den Werken des Diagoras von Melos. Laks schließlich ordnet den Papyrus-Schreiber den Nachfolgern des Diogenes von Apollonia zu. Bei so viel Differenzen selbst im "westeuropäischen" Lager dürfte es noch einige Zeit dauern, bis sich eine einhellige Deutung durchsetzt und eines der wichtigsten Dokumente aus der europäischen Frühzeit richtig in seinen ideengeschichtlichen Kontext eingeordnet ist.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2003, Seite 19
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