Streitgespräch über Wissenschaft und Religion
Spektrum der Wissenschaft:
Herr Professor Lüke, zu Professor Kanitscheiders Spektrum-Interview über "Naturwissenschaft und Religion" haben Sie sich recht polemisch geäußert. Es sei "durchsetzt von Halbwahrheiten und Halbwissen". Es sei wie bei einem Stabhochspringer: "Die Latte liegt bei sechs Metern, der Sportsmann springt berührungsfrei bei vier Metern darunter her und meint, er habe nicht gerissen." Das sind harte Worte. Stehen Sie noch zu Ihrer Kritik?Professor Ulrich Lüke:
Inhaltlich ja, wenngleich die Form, die von meinem ersten Ärger bestimmt war, keinen Höflichkeitspreis beanspruchen könnte.
Spektrum:
Professor Bernulf Kanitscheider:
Ich habe viel Erfahrung mit Gesprächen zwischen Theologie und Wissenschaftstheorie und weiß, dass man die Thematik auch sehr sachlich führen kann. Polemik muss nicht unbedingt sein.Spektrum:
Herr Professor Lüke, was halten Sie von Kanitscheiders Unterscheidung von "Natur" und "Übernatur"? Ist das nicht die zentrale Trennlinie, an der Religion und Wissenschaft aufeinander treffen?Lüke:
Kanitscheider:
In der Philosophie gibt es die Position des Naturalismus, wobei man zwischen einer starken und einer schwachen Spielart unterscheiden kann. Naturalismus besagt, wenn man das einmal so salopp formuliert: Es geht überall im Universum mit rechten Dingen zu. Es gibt also nicht so etwas wie unkörperliche spirituelle Wesen; es gibt keine Engel, keine Kobolde und keine Feen; die Welt ist materiell und kausal strukturiert. Sie ist auch komplex – man denke etwa an das Auftreten von Emergenzen –, aber es gibt keine geistigen, vom materiellen Träger abgehobenen Entitäten, und wir sind gehalten, die Welt nur unter Zugrundelegung der theoretisierbaren und beobachtbaren Phänomene zu verstehen. Das ist das, was man die Position des schwachen Naturalismus nennen könnte. Darüber hinaus gibt es aber auch den starken Naturalismus, der zusätzlich davon ausgeht, dass diese Welt, so wie wir sie eben feststellen, alles ist, was es gibt.Lüke:
Der Naturalismus hat metaphysische Voraussetzungen, die er selber nicht reflektieren kann oder will. Sie wollen Ihren Naturalismus gern transzendenz-resistent machen, aber die hinzugezogene Naturwissenschaft liefert schon infolge ihrer Ergebnisoffenheit nicht das dazu notwendige und hinreichende immanente Immunisierungsmaterial.Kanitscheider:
Lüke:
Von Ihrem Sparwillen bin ich überzeugt, gleichwohl kommen Sie an einer Ontologie, die sich Ihrem naturalistischen Positivismus entzieht, nicht vorbei. Auch in der Theologie kann man rationales Denken nicht weit genug treiben. Da teile ich eine Position, die Ihrer in gewisser Weise nahe kommt. Es ist ja keineswegs so, dass ich ab irgendeiner Grenze zu denken aufhören und Gott ins gerade noch nicht betretene Refugium der Unwissenheit transferieren müsste. Der sowjetische Kosmonaut Gagarin hatte nach dem ersten bemannten Raumflug gesagt: Ich bin einmal um die Erde geflogen, Gott habe ich nicht gesehen, also gibt es ihn nicht. Aber diese Bestreitung Gottes auf dem Weg des Gagarinschen Trugschlusses liefern Sie hier gerade. Thomas von Aquin entgegnete schon solchem Denken, von Gott können wir nicht sagen, was er ist, sondern nur, was er nicht ist. Bei der Formulierung dessen, was er nicht ist, halte ich die Naturwissenschaften allerdings für hilfreich und notwendig.Kanitscheider:
Bei dieser thomistischen Bestimmung möchte ich sofort einhaken. Naturalisten monieren gerade das Fehlen positiver Begriffsbestimmungen in Bezug auf Gott.Lüke:
Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, Analogien heranzuziehen. Wir sagen dann zum Beispiel: "Gott ist wie ein Vater" oder "Gott ist der Weg". Mit all dem wird Gott aber nicht definiert. Wer das erwartet, missversteht, was die Theologie leisten kann und zu leisten behauptet. Ich halte diese Versuche für legitim, weil sie existenzielle Erfahrungen, die Menschen zu allen Zeiten und in allen Völkern gemacht haben, ahnungs- und andeutungsweise zur Sprache bringen. Das wird Sie gewiss nicht zufrieden stellen, erfüllt aber die Forderung des 4. Laterankonzils von 1215, dem zufolge alle Aussagen über Gott ihm unähnlicher sind als ähnlich.
Kanitscheider:
Damit sind Sieaber – methodisch betrachtet – genau in der Situation, dass Sie die Existenz einer Entität behaupten, deren Begrifflichkeit Sie überhaupt nicht kennen. Und damit laufen Sie in sämtliche Gegenargumente, die vom logischen Empirismus und vom kritischen Rationalismus immer wieder gegenüber metaphysischen Termen vorgebracht wurden. Ihr Gottesbegriff ist ein Unbegriff, weil Sie die Anwendungsbedingungen nicht angeben können.Lüke:
Kanitscheider:
Er hat doch eine Erklärungsfunktion. Er muss irgendetwas in dieser Welt erklären, das man sonst nicht erklären kann.Lüke:
Vielleicht erklärt er ja, dass es etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Dann wären wir in dem Bereich, dem die Kosmologen sich annähern. Genauso gut könnte man aber in der Biologie ansetzen. Wenn wir den Prozess der Hominisation rekapitulieren, stoßen wir schon bald nach dem Auftauchen der ersten Artefakte auf solche, die nicht anders als in einem religiösen Kontext verstehbar sind. Schon sehr frühe Hominiden haben ihr Dasein in einen bestimmten Sinnkontext eingeordnet, indem sie, zum Beispiel Homo sapiens neanderthalensis, bestimmte Bestattungsrituale pflegten.Kanitscheider:
Lüke:
Dass die Entstehung der Religionen mit einem Überlebensvorteil einhergehen kann, bezweifle ich nicht; dass sie nur daraus zu erklären sei, bestreite ich allerdings. Bei der Argumentation können Sie den Schrei einer Martinsgans nicht mehr von der h-Moll-Messe unterscheiden, da beides einmal für die Gänsepopulation, einmal für Familie Bach einen Überlebensvorteil hatte.Kanitscheider:
Derjenige, der einen höheren ontologischen Behauptungsanspruch vertritt, trägt immer auch die Last der Begründung oder die Stützungslast, um mit Karl Popper zu sprechen.Lüke:
Kanitscheider:
Ich schließe keineswegs aus, dass es Unendliches nicht geben kann. Zum Beispiel ist der Kosmos nach heutigem Wissen wahrscheinlich räumlich unendlich. Der Knackpunkt ist vielmehr methodischer Natur: Derjenige, der die Existenz von etwas propagiert, hat immer die Begründungslast, und nicht der andere die Widerlegungslast.Spektrum:
Ein Vorschlag zur Klärung der Fronten. Herr Lüke unterlegt Herrn Kanitscheider offenbar den Standpunkt des starken Naturalismus, wie er eingangs definiert wurde: Die Ereigniswelt sei alles. Daraus folgert er eine Beweislast auf der Gegenseite. Herr Kanitscheider aber nimmt wohl eher die Position des schwachen Naturalismus für sich in Anspruch. Herr Kanitscheider, Sie schließen dabei aber nicht prinzipiell aus, dass es metaphysische Entitäten geben könnte, oder?Kanitscheider:
Lüke:
So, wie sich im Laufe der Evolution der kognitive Apparat des Menschen herausgebildet hat in der Auseinandersetzung mit der Realität, auf die er sich bezieht, so entstand auch das Transzendenzbewusstsein des Menschen in Auseinandersetzung mit der Realität, die wir Transzendenz nennen.Auch eine Taube brauchte in ihrer Evolution keine aerodynamischen Kenntnisse, und doch sind sie, ohne dass die Taube darum wüsste, aus ihrem Körperbau zu gewinnen. Das Transzendenzbewusstsein wäre dann der in der Hominisation mehr und mehr aufdämmernde Reflex jener Wirklichkeit, die wir zugegebenermaßen mehr erahnen als verstehen und die uns gleichwohl zutiefst prägen kann.
Kanitscheider:
Die Inhalte der Religionen sind so verschieden, vom extremen Polytheismus über die christliche Trinität bis hin zu ganz abstrakten Formen. Denken Sie an den Konfuzianismus und den Taoismus! In vielen Religionen finden Sie eine höchste Idee vor, die sich kaum personalisieren lässt, und dennoch tut zum Beispiel der Buddhismus in punkto Funktionalität genauso seine Pflicht wie der Theismus.
Lüke
: Er erfüllt diese Pflicht völlig anders und geht ebenso wenig in einer rückstandslos erklärbaren Funktionalität auf wie die jüdisch-christlich-muslimische Religion.Kanitscheider:
Lüke
: Natürlich können Sie (viel Vergnügen!) für jede Religion eine zugehörige Adaptationsstory erfinden, um das, was Sie daran ärgert, naturalistisch wegzuerklären. Der Buddhismus kennt ein Nirwana, ein Nichts, das sich – streng gefasst – der Naturwissenschaft und dem Naturalismus entzieht.Kanitscheider:
Das ist keine Transzendenz. Das ist das Erlöschen der Perso-nalität.Lüke
Kanitscheider:
Das Nirwana ist kein ontologisches Reich. Es hat keine Ähnlichkeit mit dem christlichen Paradies, mit dem Jenseits. Es ist das Erlöschen des Karma-Weges, das Auslöschen der Individualität, einfach das Nichts.Spektrum:
Gibt es für Theologie und Naturwissenschaften überhaupt eine gemeinsame methodische Grundlage, vor allem einen gemeinsamen Begriff von Wissenschaft? Herr Kanitscheider hatte ja bereits geäußert, die Theologie gehe von einer Unveränderbarkeit der Schrift aus, während in den Naturwissenschaften jede Aussage im Prinzip immer wieder zur Disposition stehe.Kanitscheider:
Spektrum:
Einen gemeinsamen Wissenschaftsbegriff kann es also nicht geben?Kanitscheider:
Das Prinzip der Unfehlbarkeit verhindert es. Von den Kirchenvätern ist ganz klar festgehalten worden, dass die Schrift einen anderen Wissensstatus hat als jegliche Erkenntnis über die Beschaffenheit der Welt.Lüke
Kanitscheider:
Das stimmt. Die Rekonstruktion dessen, was in einer sehr alten Schrift tatsächlich authentisch ist, die Einbeziehung des historischen Kontexts, die Findung der Bedeutung auf der semantischen Ebene, das alles ist ein Problem – auch bei der Auseinandersetzung mit Texten wie der Metaphysik des Aristoteles oder den Epen von Homer: Was war wirklich damit gemeint? DiesesProblem ist allen alten Texten gemein. Aber nehmen wir einmal das als authentisch Akzeptierte und untersuchen es auf die Geltung! Hier liegt ein fundamentaler Unterschied vor: In der Philosophie haben wir immer die Möglichkeit, einen Satz, etwa von Platon, als falsch zu erkennen und ihn daher einfach zu verwerfen. In der Theologie aber gilt das für die "offenbarten" Schriften nicht.Lüke
: Die Wissenschaftlichkeit liegt in der Frage des methodischen Umgangs mit den verschiedenen Texten. Der Gegenstand ist in beiden Fällen vorgegeben, in der Theologie wie anderswo.Kanitscheider:
Lüke
: Darüber mögen Sie mit einem Dogmatiker oder Exegeten räsonieren. Ich bin für Philosophie zuständig. Aber die Wahrheitsfrage lässt sich mit der Gottesfrage verbinden. Ihr Naturalismus oder der von Ihnen erwähnte kritische Rationalismus müssen den Wahrheits-begriff voraussetzen, um auch nur den kleinsten Denkschritt leisten zu können. Ob der Satz, es gebe die Wahrheit, wahr ist, können Sie nur unter Voraussetzung der Wahrheit entscheiden. Auf dieser Ebene würden Theologen den Gottesbegriff ansetzen, wenn sie sagen, Gott ist die Wahrheit. Er ist dann das, was ich nicht mehr mit den Alternativen "wahr" und "falsch" untersuchen kann, weil es diese Kriterien erst generiert.Kanitscheider:
Dieser Satz ist nicht verstehbar. Gott kann nicht die Wahrheit sein, weil die Wahrheit die Übereinstimmung eines Satzes mit einer Faktizität ist.Lüke:
Kanitscheider:
Zu behaupten, Gott sei die Wahrheit, ist eine logische Konfusion. "Wahr" kann nur ein Satz über Gott sein. Dies ist eine Sache der Logik. Würden Sie die Anwendbarkeit der normalen zweiwertigen aristotelischen Logik für theologische Schlüsselaussagen aufrecht halten? Die Auferstehung – fand sie statt, oder fand sie nicht statt?Lüke
: Als Christ, Sie lechzen offenbar nach Bekenntnissen, sage ich, ich halte den Gedanken an Auferstehung für glaubwürdig, ohne Ihnen hier das Wie extemporieren zu können.Kanitscheider:
Lüke:
Es ist mit der Reichweite unserer Logik, die immer eine endliche und sprachlich vermittelte ist, unmöglich, ein umfassendes Wissen über Gott zu erreichen. Auf Ihrem Denkweg kann man vielleicht gottlos werden, aber nicht Gott loswerden.Kanitscheider:
Dann haben wir aber doch wenigstens ein Teilwissen. Worin besteht es?Lüke:
Kanitscheider:
Die Flucht ins Mysterium löst nicht das Problem der Logik.Spektrum:
Eine letzte Frage: Herr Kanitscheider vertrat in unserem ersten Interview den Standpunkt, dass es "ehrlicher" für Naturwissenschaftler sei, wenn sie eine atheistische Position beziehen und keine agnostische, die ja heute sozusagen zum korrekten Ton unter Wissenschaftlern gehört. Wie denken Sie darüber, Herr Lüke?Lüke
Kanitscheider:
Zur Erläuterung. Die Existenzhypothese Gottes ist eine Behauptung, für die zunächst einmal gar nichts spricht. Und in dieser Situation verhalte ich mich wie in allen vergleichbaren Fällen von Existenzbehauptungen. Solange nichts positiv für die Existenz spricht, bleibe ich negativ entschieden, und das bedeutet in Bezug auf die Gottesfrage, ich bin besser atheistisch eingestellt als agnostisch.Lüke:
Ich möchte das Verhältnis von Wissenschaft und Religion mit einem Bild beschreiben, und zwar im Vergleich des Wissenschaftlers und seiner Methodologie mit einem Fischer, der im Meer fischt. Der Fischer kann die Größe seiner Netze und deren Maschengröße variieren, er kann die Auswurfweite, die Eintauchtiefe, die Zugfestigkeit und so weiter verändern und auf diese Weise immer wieder neue Fänge machen. Er findet Fische, die er zuvor nie zu Gesicht bekommen hat. Und doch ist alles, was er herausfischt, nicht das Meer. Was er herausfischt sind Lebewesen, die indirekt auf das Meer als Bedingung ihrer Existenzmöglichkeit verweisen. Und vielleicht geht ihm dabei auf, dass das auch für ihn selbst gilt.Kanitscheider:
Es moderierten ReinhardBreuer und Michael Springer vonSpektrum der Wissenschaft.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2000, Seite 82
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben