Stress-Bewältigung und Gesundheit
Seiner vielfältigen körperlichen Auswirkungen wegen ist Stress ein bedeutsamer Risikofaktor für unterschiedlichste Erkrankungen. Doch wird bei weitem nicht jeder krank, der starker Belastung ausgesetzt ist.
Viele der heute sozialmedizinisch besonders relevanten psychosomatischen, immunologischen und Herz-Kreislauf-Krankheiten stehen in engem Zusammenhang mit Stress.
Doch müssen starke Beanspruchung oder einschneidende Lebensveränderungen durchaus nicht zwangsläufig eines dieser oft chronischen Leiden nach sich ziehen. Zwar finden sich statistisch durchaus Zusammenhänge zwischen kritischen Ereignissen wie dem Tod des Partners, Scheidung oder auch Verlust des Arbeitsplatzes und Erkrankungsrate, aber die Korrelation ist nicht besonders eindrucksvoll.
Die viel häufigeren alltäglichen Belastungen in Beruf, Familie und Freizeit sind in der Regel etwas stärker mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen des körperlichen und psychischen Wohlbefindens gekoppelt. Aber auch dabei bleibt ein großer Spielraum für individuelle Unterschiede.
Die Gründe dafür hat als erster der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky von der Ben-Gurion-Universität des Negev in Beersheva (Israel) untersucht: Wer bleibt trotz zahlreicher Stressoren gesund? Und warum? Damit erweiterte er die bislang an den pathogenen Prozessen orientierte medizinische Stress-Forschung um einen wesentlichen Aspekt.
Anhaltspunkte für das Phänomen Gesundbleiben
Mit Schutzfaktoren wie ausgewogener Ernährung oder dem Vermeiden bestimmter Risiken sowie mit übergreifenden Persönlichkeitsmerkmalen, so stellte sich heraus, ist das „Geheimnis gesunder Menschen“ allein nicht zu entschlüsseln. Deshalb interessierten sich die Wissenschaftler, die dem Phänomen Gesundbleiben nachgingen, auch für den Einfluß bestimmter Formen des Umgangs mit Belastungen.
Nach einer Definition des Stress-Forschers Richard Lazarus von der Universität von Kalifornien in Berkeley versteht man unter Bewältigung solcher Situationen alle Anstrengungen einer Person, mit äußeren und selbstgestellten Anforderungen umzugehen, sie zu meistern, zu tolerieren, zu mildern oder zu vermeiden. Lazarus unterscheidet dabei zwei Funktionen: Die instrumentelle (sozusagen die Handhabe) bezieht sich auf eine Veränderung der belastenden Problemsituation; die palliative (lindernde) auf die Minimierung von unangenehmen Spannungszuständen und Gefühlen wie Ärger, Angst oder Traurigkeit. Beide Funktionen lassen sich sowohl durch direkte Aktionen, beispielsweise eine Aussprache zur Lösung eines Konflikts oder einen Waldlauf zum Abbau von Spannungen, als auch durch rein psychische Reaktionen erfüllen, etwa indem man die Situation bagatellisiert, sich davon ablenkt oder sie positiv umbewertet (Bild 1).
Strategien der Stress-Bewältigung
Um besonders wirksame Bewältigungsstrategien zu erkennen, verfolgt die gesundheitspsychologische Forschung mehrere Ansätze:
– Zum einen vergleicht man das Bewältigungsverhalten gesunder mit dem von bereits erkrankten Personen.
– Des weiteren macht man Querschnittsstudien von Personen, die ähnlichen Belastungen ausgesetzt sind, und vergleicht Indikatoren für körperliches und psychisches Wohlbefinden mit dem Bewältigungsverhalten.
– Außerdem werden nun vermehrt prospektive Studien angelegt, wobei sich dadurch immer mehr Sicherheit gewinnen läßt, daß man den aktuellen Gesundheitszustand von Probanden aufgrund ihres zu einem früheren Zeitpunkt beobachteten Bewältigungsverhaltens vorherzusagen sucht.
– Im Laborexperiment schließlich untersucht man das Verhalten unter standardisierten Belastungsbedingungen; dabei werden die psychophysiologischen und biochemischen Stress-Reaktionen kontinuierlich registriert.
Nach den bisherigen Ergebnissen wird sich allerdings die Hoffnung auf eine generell gesunde Standardstrategie zur Stress-Bewältigung wohl nicht erfüllen. Vielmehr scheint die Wirksamkeit einzelner Bewältigungsformen von vielen Faktoren abzuhängen: von Art und Intensität der jeweiligen Belastung, dem Zeitpunkt, zu dem das jeweilige Verhalten eingesetzt wird, und insbesondere auch von den Werten, Zielen und Motiven der betroffenen Person. Dennoch lassen sich einige Hinweise auf eine effektive Stress-Vorbeugung ableiten.
Als durchgängig unwirksam erwiesen sich eskapistische Strategien wie etwa realitätsflüchtige Wunschphantasien, gar noch verbunden mit Alkohol- und Medikamentenkonsum. Ineffektiv ist auch, die emotionale Belastung und Spannung an anderen auszulassen oder sich auszutoben, um nach einer gängigen Redewendung „Dampf abzulassen“. Psychische Reaktionen wie Selbstabwertung, Selbstbeschuldigung und Selbsbemitleidung, die häufig eine grüblerische Weiterbeschäftigung mit der Sache bedingen, helfen ebenfalls nicht.
Als durchgängig wirksam erwies sich dagegen zum einen die positive Neubewertung der Situation, sowohl im zeitlichen Vergleich („Wie geht es mir gegenüber dem letzten Jahr?“) als auch im sozialen („Wie geht es mir gegenüber anderen?“). Ebenfalls hilfreich war aktives, problemlösungsorientiertes Handeln, freilich nur dann, wenn der Betroffene tatsächlich die Situation zu kontrollieren vermochte. Unablässiges forciertes Streben, Probleme in den Griff zu bekommen, wie es für das sogenannte Typ-A-Verhalten charakteristisch ist, erhöht vielmehr durch anhaltende Überaktivierung insbesondere das Risiko von koronarer Herzkrankheit.
Sich mit Unabänderlichem abfinden zu können gilt daher als weiteres günstiges Merkmal – wiederum nicht mit einer allgemein passiv-resignativen Haltung zu verwechseln. Martin Seligman, damals an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia, hat in seinen Arbeiten zur „gelernten Hilflosigkeit“ gezeigt, wie frühe und wiederholte Erfahrungen mit nicht kontrollierbaren Ereignissen eine Erwartungshaltung prägen, die auch bei späteren Erlebnissen das eigene Handeln als ohnehin zwecklos erscheinen läßt; deswegen würden tatsächlich vorhandene Möglichkeiten, die Situation zu beherrschen, nicht mehr adäquat erkannt und genutzt. Für seelisch beeinträchtigte, besonders für depressive Menschen ist solche von vornherein angenommene Hilflosigkeit charakteristisch. Erfolgreiches Bewältigungsverhalten hingegen bedeutet, die eigenen Kontrollmöglichkeiten der jeweiligen Situation entsprechend realistisch einschätzen zu können.
Als defensive Strategien – ein drittes Muster – faßt man Versuche zusammen, belastenden Situationen auszuweichen beziehungsweise sie zu vermeiden oder sie zu verleugnen. Ein solches Verhalten kann sich durchaus unterschiedlich auswirken. Einerseits tendieren Personen mit unterschiedlichsten Erkrankungen stärker dazu als Gesunde; dadurch gelingt es ihnen wahrscheinlich seltener, die Ursachen der Belastung wirklich zu beheben oder unter Kontrolle zu bringen. Dies birgt die Gefahr einer chronischen Erhöhung des Belastungsniveaus mit entsprechender langfristiger physiologischer Überaktivierung – die Konsequenz sind eben gesundheitliche Schäden. Andererseits ist belegt, daß der Rückzug in die Defensive bei schweren Schicksalsschlägen zumindest kurzfristig den Betroffenen vor einem Zusammenbruch unter überwältigenden Gefühlen von Schmerz und Trauer bewahren kann. Dann sind derartige Strategien im Wechsel mit Realitätszuwendung und aktiven Bewältigungsversuchen sogar notwendige Schritte hin zur vollen Wiederanpassung.
Expressive Strategien schließlich sind jene, bei denen es um das Ausdrücken oder Unterdrücken von belastenden Gefühlen geht. Übereinstimmend zeigen die Untersuchungen für viele Leiden, daß Erkrankte bei frustrierenden oder ärgererregenden Vorkommnissen weniger als Gesunde dazu neigen, dem Ärger oder der Aggression Ausdruck zu geben, und allgemein Gefühle weniger zeigen.
Nach einer gängigen Auffassung ist solch ein Unvermögen, sich emotional abzureagieren, auf lange Sicht der Nährboden für chronische Erkrankungen. Allerdings sind die empirischen Belege dafür bisher wenig überzeugend. Wie aber die Marburger Psychologin Irmela Florin darlegt, dient das Unterdrücken von Gefühlsäußerungen dazu, unangenehme Auseinandersetzungen zu vermeiden: Wer Ärger, Unmut oder Verletzung nicht zeigt, geht damit Streit und möglichem weiteren Ärger aus dem Wege. Bestehende Konflikte werden so jedoch nicht gelöst. Mit der Zeit erscheinen mehr und mehr Lebens- und Erlebnisbereiche gleichsam als vermint, und immer häufiger lösen Situationen drohender Gefahr eine körperliche Überaktivierung aus. Dagegen trägt das Ausdrücken von Gefühlen wesentlich dazu bei, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen, die in schwierigen Situationen Rückhalt und Unterstützung geben können.
Trotzdem wäre die Schlußfolgerung voreilig, nur der ungehemmte Ausdruck stelle einen gesunden Umgang mit Gefühlen dar. Die Bamberger Psychologin Hannelore Weber kam nach umfangreichen Untersuchungen zur Ärgerbewältigung zu dem Schluß, daß Reaktionen gegen jemanden oder etwas – den auslösenden Menschen, die eigene Person, Dritte oder Objekte – den Ärger konservieren und damit das Wohlbefinden beeinträchtigen; und zwar gilt dies gleichermaßen, ob man den Ärger erkennen läßt oder ihn, wie es umgangssprachlich heißt, „in sich hineinfrißt“. Eine günstige Wirkung haben dagegen alle Bewältigungsformen, durch die der Ärger ein Ende findet: Ablenkung, Umdeutung oder Humor ebenso wie ein offenes, klärungsorientiertes Gespräch.
Bewältigungstraining
Mithin läßt sich erfolgreiches Verhalten bei Stress wohl am besten durch Flexibilität kennzeichnen. Weder die Haltung, Belastungen unbedingt vermeiden zu wollen, noch das Bedürfnis, jede Situation kontrollieren zu können, scheinen der Gesundheit zuträglich. Gesunde Personen schätzen demgegenüber die eigenen Möglichkeiten angemessen ein und können aus einem großen Repertoire an Lösungsalternativen die jeweils optimale auswählen. In dem einen Fall kann dies Handeln bedeuten, um den Stressor zu beseitigen, im anderen ist es vielleicht besser sich zu sagen, alles sei halb so schlimm. So lassen sich instrumentelle und palliative Bewältigungsformen in Balance halten; für den Organismus bedeutet das Wechsel zwischen Aktivierung während der direkten Problemlösung und Phasen der Erholung und Entspannung.
Im Rahmen von Aktionen zur Prävention und Gesundheitsförderung haben wir in den vergangenen zehn Jahren Programme für einen gesundheitsbewußten Umgang mit Alltagsbelastungen entwickelt und bei verschiedenen Zielgruppen erprobt. Die Teilnehmer treffen sich wöchentlich mehrere Monate lang gruppenweise zu einem besonderen Verhaltenstraining.
Die Leitidee dabei ist ein positiver Gesundheitsbegriff. Statt unlustbetonter Emotionen wie Schuldgefühlen und Angst vor Krankheit, Schmerzen oder gar Tod werden möglichst Wohlbefinden, Lebensfreude und Selbstverwirklichung angesprochen und als Motivationen für das individuelle Gesundheitsverhalten verstärkt.
Wichtigstes Ziel ist, die Selbstkontrollkompetenzen des Teilnehmers im Umgang mit seinen Alltagsbelastungen zu verbessern. Die einzelnen Trainingsmodule vermitteln dazu spezifische Möglichkeiten der instrumentellen und der palliativen Stress-Bewältigung: also sowohl Problemlösetechniken, Zeitmanagement, Einübung sozialer Kompetenzen und positive Selbstinstruktionen als auch Entspannungs- und Bewegungstechniken sowie die Förderung von angenehmen, genußvollen Verhaltensweisen zum Belastungsausgleich.
Jedes Modul gliedert sich in die drei didaktischen Schritte: Vermittlung von theoretischen Grundlagen, praktische Übung und Training für den und im Alltag. Insbesondere der Transfer des Gelernten in die gewöhnliche Lebenssituation unterscheidet unser Programm von rein seminaristischen Anti-Stress-Kursen.
Teilgenommen haben schon chronisch Kranke, für die es vordringlich ist, daß sie mit ihrem Leiden besser fertig werden, und Bluthochdruckpatienten zur Unterstützung ihrer medizinischen Therapie, aber auch gesunde Männer und Frauen im Rahmen der allgemeinen Erwachsenenbildung sowie besonders von betrieblichen Gesundheitsaktionen. Regelmäßig war bei der begleitenden wissenschaftlichen Bewertung festzustellen, daß sich das körperliche und psychische Befinden deutlich besserte. Mißmutig-gereizte und niedergeschlagene Stimmungen, Spannungszustände, Schlafstörungen und vielfältige funktionelle Beschwerden nehmen ab, Vitalität und Tatendrang hingegen zu, und subjektiv beurteilen die Teilnehmer ihren Gesundheitszustand positiver. Objektiv ist der Erfolg an körperlichen Parametern zu messen. Beispielsweise benötigte von den essentiellen Hypertonikern nach dem Training mehr als die Hälfte gar keine Medikamente mehr oder nur in geringerer Dosis, ohne daß die Blutdruckwerte wieder gestiegen wären (Bild 2); offensichtlich hatten diese Patienten eine regulierende Selbstkontrolle gelernt.
Allerdings hat das Training, das ja allein das individuelle Verhalten verändern soll, dort seine Grenzen, wo äußere Bedingungen – etwa am Arbeitsplatz – das Belastungserleben bestimmen. So schätzten Teilnehmer von betrieblichen Programmen trotz erhöhten Wohlbefindens die Häufigkeit und Stärke von Stress vor allem durch Informations-, Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen des Unternehmens unverändert als hoch ein. Damit wird deutlich, daß individuelle Verhaltensschulungen zur Verhütung stressbedingter Gesundheitsrisiken nicht genügen. Vielmehr müssen auch die sozialen Verhältnisse gesundheitsgerecht gestaltet werden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1993, Seite 106
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