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Paläogenetik: Wie man uraltes Erbgut entziffert

Längst verloren geglaubte genetische Information hat sich in den Überresten von Pflanzen und Tieren erhalten. Svante Pääbo berichtet, wie man sie gewinnt. Nun wird es möglich, evolutive Veränderungen des Erbmaterials direkt zu untersuchen.
Zeichnung mit Mammuts, Wollnashorn, Säbelzahntigern und Pferden

Ein wesentlicher Prozeß beim evolutiven Wandel der Organismen und beim Entstehen neuer Arten ist die Veränderung des Erbmaterials, der Desoxyribonucleinsäure (DNA). Mutationen geschehen zum Beispiel durch Kopierfehler bei der Vervielfältigung der DNA und verändern die Abfolge der Bausteine, genauer der Basen, im Molekül. Aber solche Ereignisse in der Entwicklungsgeschichte ließen sich bis vor kurzem allenfalls indirekt durch den Vergleich von Gensequenzen oder Proteinen heute lebender Tiere und Pflanzen erschließen – mit allen Einschränkungen und Unsicherheiten solchen Vorgehens.

Nun gibt es zwar Fossilien die Menge. Aber abgestorbene Organismen sind, wenn sie überhaupt in Schlamm oder Sand eingebettet werden, meist schon stark verwest; auch tierische Hartteile wie Zähne, Knochen oder Schalen werden häufig im Sediment schließlich umkristallisiert, holzige Pflanzenbestandteile zu Kohle abgebaut. Deshalb war fraglich, ob die molekularbiologischen Befunde zur Evolution sich jemals an den DNA-Sequenzen von Lebewesen früherer Epochen würden überprüfen lassen, ähnlich wie man in der Paläontologie etwa Skelettreste oder Abdrücke von Weichteilen ausgestorbener mit Körperstrukturen lebender Arten direkt vergleichen kann.

In den letzten zehn Jahren aber stellte sich heraus, daß DNA unter Umständen sehr lange in Überresten längst verstorbener Organismen überdauert haben kann, wenn auch oft beschädigt und in winzige Fragmente zerstückelt; und man verfügt inzwischen über recht effektive Methoden, solche Relikte einstiger Gene zu vervielfältigen und damit einer Analyse zugänglich zu machen. Bisher wurden unter anderem Gensequenzen von neun ausgestorbenen Säugetierarten sicher rekonstruiert, wobei die älteste Sequenz von einem im Dauerfrostboden Sibiriens konservierten Mammut, also aus der letzten Eiszeit stammt (Bilder 1 und 4). Die Proben wurden teils aus ehemals weichen Geweben wie Haut oder Muskulatur, teils aus Knochen gewonnen. Neuerdings geht man noch wesentlich weiter zurück und untersucht Insekten und andere kleine Tiere, die vor vielen Jahrmillionen in Harz eingeschlossen wurden, das sich in Bernstein umwandelte (Bild 5).

Angeregt und ermutigt durch diese bahnbrechenden Entwicklungen richtete das Naturgeschichtliche Museum in London eigens ein molekularbiologisches Laboratorium zur Erforschung der Abstammungsgeschichte ein. Dem Beispiel sind andere Forschungsstätten gefolgt, so die Smithsonian Institution in der amerikanischen Bundeshauptstadt Washington und das Amerikanische Museum für Naturgeschichte in New York.


DNA aus ägyptischen Mumien

Anfang der achtziger Jahre erfuhr ich als Doktorand an der Universität Uppsala (Schweden), wie leicht sich DNA-Sequenzen aus frischen Geweben mit modernem molekularbiologischem Rüstzeug entschlüsseln lassen. Alsbald begann ich zu überlegen, ob die gleichen Verfahren sich nicht auch für eingetrocknete und mumifizierte Gewebe eigneten und man Überreste von Erbsubstanz in menschlichen Mumien oder ledrigen Tierhäuten damit lesbar machen könnte.

Offenbar hatte dies noch niemand versucht; eine Durchsicht der Fachliteratur blieb jedenfalls ergebnislos. Allerdings war es nicht einfach, geeignete Gewebeproben zu beschaffen, denn notgedrungen muß man dazu unersetzliche Fundstücke ein wenig beschädigen. Schließlich erhielt ich aber doch kleine Muskel- und Hautstücke von Mumien der ägyptischen Sammlung der Universität Uppsala, und vor allem verschafften die von der Idee begeisterten Kuratoren mir Kontakt zum Pergamon-Museum in Berlin mit seinen reichen Beständen. Von 23 Mumien, die mir am besten konserviert zu sein schienen, entnahm ich Proben von jeweils wenigen Gramm.

Das Material erwies sich bei einer ersten Prüfung im Lichtmikroskop als sehr unterschiedlich. Im allgemeinen sind die Gewebe für eine Analyse zu stark zersetzt; hingegen sind sie hauptsächlich an der Körperoberfläche, und zwar besonders an den äußersten Körperzonen, viel besser erhalten (Bild 2). Tatsächlich fanden sich in der Haut von Fingern und Zehen vielfach noch Zellkerne, die Farbstoffe aufnahmen, mit denen man DNA spezifisch markieren kann. Wahrscheinlich hatte diese Teile vor tiefgreifender Umwandlung geschützt, daß sie nach dem Tode – beziehungsweise der Einbalsamierung – zuerst ausgetrocknet waren; denn die zelleigenen autolytischen Enzyme, die DNA zersetzen, sind nur in feuchtem Milieu wirksam.

Um die noch vorhandenen Gensequenzen zu isolieren, wendete ich die für frische Extrakte gebräuchlichen Verfahren an, setzte zum Beispiel Enzyme ein, um Proteine abzubauen, und Lösungsmittel, um die DNA von noch verbliebenen Proteinen und Lipiden zu trennen. Mittels Elektrophorese prüfte ich dann die Länge der Fragmente (ein elektrisches Feld trennt sie nach der Größe auf, während sie durch ein Gel wandern; Bild 3). Die größten Teilstücke bestanden nur noch aus höchstens 100 bis 200 Basenpaaren. (DNA enthält als Bausteine vier verschiedene solcher Kernbasen, deren Sequenz den genetischen Code ausmacht; die Basen paaren sich in spezifischer Weise und bilden so den typischen molekularen Doppelstrang.) Aus frischem Gewebe dagegen lassen sich noch Fragmente von 10000 und mehr Basenpaaren Länge gewinnen.

Möchte man die genetische Information solcher Fragmente untersuchen, werden sie in großer Zahl benötigt. Zu vervielfältigen vermochte man DNA-Sequenzen damals allerdings nur, indem man sie klonierte, das heißt mit einem DNA-Trägermolekül verband, so daß sie sich in Bakterien, die das Hybridmolekül eingeschleust bekamen, vermehren ließen. Idealerweise – zumindest mit frischem Material – erbringt diese Methode schließlich Tausende von Bakterienkolonien (Klone), die jede ein bestimmtes Fragment des gesamten übertragenen Erbmaterials vervielfältigen.

Wesentlich war in diesem Fall der nächste Schritt: zu prüfen, ob es sich bei den eingeschleusten und vermehrten DNA-Sequenzen überhaupt um die interessierenden menschlichen handelte und nicht um irgendwelche anderen, denn vermutlich waren die Mumien von Mikroben oder Pilzen durchseucht.

Viel weniger der Klone, als ich erwartet hatte, enthielten menschliche Erbsubstanz – aber erst später fand sich der Grund dafür. Eigentlich war meine Absicht, zum Nachweis von Human-DNA in den Proben nach bestimmten Genen zu suchen, von denen man weiß, daß sie für wichtige Proteine codieren. Diese sind in einer Zelle gewöhnlich aber nur in zwei Kopien vorhanden, und es war höchst unwahrscheinlich, sie unter den wenigen Klonen aus dem spärlichen und stark angegriffenen Material zu finden. Alternativ suchte ich darum nach einer nur für menschliche DNA spezifischen repetitiven (wiederholten) Sequenz, und zwar der Alu-Sequenz. Sie existiert im menschlichen Genom in fast einer Million Kopien und sollte deshalb leicht unter den Klonen zu finden sein.

Einer der Bakterienklone enthielt gleich zwei Alu-Sequenzen. Die Mumie, von der die DNA-Bruchstücke stammten, ist zwischen 2310 und 2550 Jahre alt. Somit war erwiesen, daß Erbmaterial unter günstigen Umständen tatsächlich jahrtausendelang überdauern kann.


Ermutigende und frustrierende Befunde beim Quagga

Ebenfalls 1984, wenige Monate bevor diese Ergebnisse veröffentlicht wurden, erschien eine Publikation über klonierte DNA des Quagga, eines pferdeähnlichen großen Huftiers aus dem südlichen Afrika, das Ende des 19. Jahrhunderts ausgerottet wurde. Russell Higuchi und Allan C. Wilson von der Universität von Kalifornien in Berkeley hatten die DNA aus einem Rest Muskelgewebe von einem 140 Jahre alten Fell des Naturhistorischen Museums in Mainz gewonnen, in dem Falle aber nicht aus Zellkernen, sondern aus Mitochondrien, also Organellen, die für die Energieversorgung der Zelle zuständig sind und Vielfachkopien von DNA enthalten. Dem genetischen Vergleich zufolge war das Quagga eng mit dem Steppenzebra verwandt (Bild 6; siehe auch Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1984, Seite 18). Erstmals war damit gezeigt, daß Erbmaterial ausgestorbener Organismen erhalten und entwicklungsgeschichtlichen Studien zugänglich sein kann.

Trotz solcher Anfangserfolge kamen wir zunächst nicht weiter. Den meisten genetischen Fragen ließ sich mit dem kargen Material ohnehin nicht nachgehen; und es war auch praktisch ausgeschlossen, zur Überprüfung eines Resultats die gleiche Sequenz in einem zweiten Klon zu finden, schon weil man aus alter DNA sowieso nur sehr wenige Klone erhielt. Die Möglichkeit, Resultate zu wiederholen und zu überprüfen wäre aber die Voraussetzung für ein wissenschaftlich solides Ergebnis gewesen.

Wieso aber war die Klonierung alten genetischen Materials so wenig effizient? Wie die biochemische Analyse ergab, hatten die DNA-Fragmente immer etwa die gleiche Größe: Sie bestanden aus rund 100 Basenpaaren, gleich ob sie von einem vor 13000 Jahren in Südchile verendeten Riesenfaultier stammten oder aus erst vier Jahre altem getrocknetem Schweinefleisch. Demnach muß die Erbsubstanz schon in den ersten Stunden nach dem Tod enzymatisch in kurze Stücke zerlegt werden, noch bevor das Gewebe austrocknet. Später scheinen Sauerstoffradikale die DNA anzugreifen, indem sie mit den Basen oder dem Zucker-Phosphat-Rückgrat reagieren.

Durch diese und andere Prozesse kann es passieren, daß Basen chemisch modifiziert werden oder verlorengehen, das Rückgrat der Stränge bricht und unterschiedliche DNA-Stücke sich miteinander und mit anderen Molekülen verbinden. Dadurch wird die Erbsubstanz abgebaut und die genetische Information vernichtet.

Solcherart geschädigte DNA vermögen Bakterienzellen meistens nicht mehr zu kopieren. Gelingt ihnen dies doch einmal, bauen sie vielfach beim Kopieren noch Fehler ein. Die Sequenzen vom Quagga beispielsweise enthielten an zwei Positionen eine andere Base, als Wirbeltiere sie sonst an dieser Stelle aufweisen (Bild 6). Sie schienen allerdings bei der ersten Replikation der alten DNA in den Bakterien eingebaut und dann weiter vervielfältigt worden zu sein. Wie es sich tatsächlich verhielt, ließ sich damals nicht anhand einer Wiederholung der Klonierung prüfen.


Ein neues Kopierverfahren

Mit all diesen Schwierigkeiten hatte es ein Ende, als der Amerikaner Kary B. Mullis bei der Firma Cetus 1985 die Polymerase-Kettenreaktion erdachte: ein äußerst empfindliches und effektives Verfahren, ein bestimmtes DNA-Stück im Reagenzglas binnen kürzester Zeit praktisch beliebig zu vermehren – innerhalb von Stunden millionenfach (siehe seinen Artikel "Eine Nachtfahrt und die Polymerase-Kettenreaktion", Spektrum der Wissenschaft, Juni 1990, Seite 60). Für die bahnbrechende Idee wurde er vor kurzem mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1993, Seite 16).

Bei dieser Art von Vervielfältigung wird der DNA-Doppelstrang durch Erhitzen in Einzelstränge getrennt. Zwei kurze komplementäre Stücke von DNA, sogenannte Primer, die anhand von Sequenzinformation von schon untersuchten verwandten Organismen synthetisiert wurden, können sich an die Enden der zu vermehrenden, jetzt einzelsträngigen Sequenz anlagern. Nun besorgt die Polymerase automatisch den Rest der Verdoppelung, indem sie, ausgehend von den Primern, zwei neue DNA-Stränge synthetisiert. Der Vorgang läßt sich beliebig oft wiederholen, wobei die Zahl der Stränge exponentiell wächst. Durch die Wahl der zugesetzten Primer wird festgelegt, welche Sequenz in einem Gemisch vielfältiger DNA-Bruchstücke kopiert werden soll.

Sofort war klar, daß diese Methode sich zum Studium alten Erbmaterials bestens eignen müßte, denn man benötigt im Grunde am Anfang nur ein einziges zu kopierendes Molekül. Außerdem sollten beim Vervielfältigen der wenigen Fragmente, die noch genetische Information enthalten, die stärker demolierten, die vieltausendfach in der Überzahl sein können, kaum stören. Voller Optimismus schloß ich mich damals Wilsons Arbeitsgruppe an, die als eine der ersten die Polymerase-Kettenreaktion anwandte.

Schon bald hatten wir Erfolg. Mit passenden Primern zu den von Higuchi isolierten Quagga-DNA-Segmenten gelang es uns, aus Extrakten derselben Gewebeproben die gesuchten DNA-Stücke abermals zu gewinnen und zu vermehren. Die neuen Fragmente trugen an den Positionen, wo die früher mittels Bakterien klonierten Sequenzen vom Wirbeltierschema abgewichen waren, die üblichen Basen. Also waren dort beim Klonieren alten Stils tatsächlich Fehler aufgetreten; vermutlich war die alte DNA beschädigt gewesen, und die Bakterien hatten diese Stellen nicht korrekt repariert.

Auch bei der Polymerase-Kettenreaktion unterlaufen gelegentlich Kopierfehler, aber diese fallen nicht sonderlich ins Gewicht. Denn anders als bei der Klonierung in Bakterien, die jeweils nur ein einzelnes DNA-Fragment vervielfältigen, enthält bei diesem Vorgehen das Ausgangsmaterial gewöhnlich mindestens einige Dutzend oder gar Hunderte gleicher DNA-Moleküle. Wird einem Strang in einem der Folgezyklen eine falsche Base eingebaut, überwiegt am Ende doch die richtige Sequenz, wenn man die Gesamtsubstanz analysiert.

Wie sich in weiteren Untersuchungen zeigte, lassen sich mit der neuen Vervielfältigungsmethode mitunter sogar aus mehreren unvollständigen, teilweise zerstörten DNA-Bruchstücken längere intakte Sequenzen rekonstruieren. Primer sind ja im Grunde nichts anderes als ein kurzes Stück komplementäre DNA. Dieses wird, wenn es sich an einen passenden alten Einzelstrang anlagert, entsprechend dessen Sequenz verlängert. Im nächsten Vervielfältigungszyklus findet dieser längere Primer nach der Strangteilung vielleicht ein anderes passendes altes Fragment, das in Leserichtung der Polymerase weitere Basen enthält, um deren Gegenstücke der Primer wiederum ergänzt wird. So entstehen nach und nach immer längere Sequenzen der alten DNA; unter günstigen Bedingungen sind sie schließlich sogar größer als die größten in der ursprünglichen Probe.

Wir möchten nun diesen Vorgang bei altem Erbmaterial nutzen, dessen Bruchstücke für derzeit mögliche Analysen zu kurz und zu stark demoliert sind. Des weiteren suchen wir aber auch nach Techniken, Schäden in der überlieferten DNA zu beheben, bevor wir sie vervielfältigen.

Der Hauptvorzug der Polymerase-Kettenreaktion bleibt aber ihre methodische Eleganz: Die einfache Handhabe hat ermöglicht, binnen weniger Tage aus verschiedenen Proben die gleiche Gensequenz des Quagga zu vermehren und so die Bedingung experimenteller Forschung zu erfüllen, Ergebnisse reproduzierbar, überprüfbar zu machen. Die molekularbiologische Paläontologie konnte damit erstmals behaupten, eine experimentelle Wissenschaft zu sein.


Erbgut prähistorischer Menschen

Sehr viel mehr Schwierigkeiten traten allerdings auf, als wir uns Jahrtausende alten Fundstücken zuwandten. Zunächst versuchten wir uns an dem Gehirn einer rund 7000 Jahre alten Leiche aus einer Solequelle in Florida. Bei einer anderen Leiche, die unter ähnlichen Umständen konserviert worden war, hatten William W. Hauswirth und seine Mitarbeiter von der Universität von Florida in Gainesville bereits mit anderen Methoden nachgewiesen, daß die Gehirngewebe noch DNA enthalten. Wahrscheinlich waren die Gewebe deswegen so gut konserviert, weil das Wasser einen neutralen pH-Wert aufwies und sehr wenig Sauerstoff enthielt.

Aus praktischen Gründen wählten wir zur Untersuchung nicht Kern-, sondern Mitochondrien-DNA, von der in Zellen mehr vorhanden ist. Sie eignet sich besonders gut für Vergleiche von Popula-tionen und das Studium ihrer Evolution, denn sie wird unabhängig von der Kern-DNA nur von der Mutter mit der Eizelle weitervererbt und unterliegt rascherem Wandel.

Aber die ersten Versuche schlugen fehl: Wir vermochten zwar aus den Gehirnen DNA zu isolieren, sie aber nicht zu vermehren. Irgendwelche Faktoren in den Extrakten schienen die Polymerase daran zu hindern, wie sonst die Molekülbruchstücke zu vervielfältigen. Erst nach Monaten gelang es uns, die Hemmnisse mit Hilfe des Blutproteins Albumin auszuräumen, das die störenden Stoffe offenbar bindet.

Allerdings war die DNA so schlecht erhalten, daß wir nur sehr kurze Sequenzen erhielten. Immerhin fanden wir ein Muster, das man bislang von Mitochondrien der heutigen amerikanischen Ureinwohner nicht kannte. Dies muß aber nicht bedeuten, daß diese Variante auf dem Kontinent gar nicht mehr vorkommt; dazu weiß man zu wenig über die Vielfalt und Variabilität dieser Gensequenzen in der modernen indianischen Bevölkerung. Inzwischen machen mehrere Arbeitsgruppen entsprechende Erhebungen, in denen auch viele Populationen anderer Erdteile untersucht werden.

Diese neuen genetischen Vergleichsstudien erweisen sich für viele Aspekte der Evolution des Menschen als aufschlußreich, selbst wenn man nicht auf altes Material zurückgreifen kann. Anhand heutiger DNA kann man Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse erschließen und auch evolutive Zeiträume abschätzen, denn innerhalb einer Art verändert sich anscheinend die Basensequenz der DNA mit relativ gleichbleibender Rate: Die Zahl der Veränderungen gibt mithin ein relatives Maß der seit der Trennung von Populationen verstrichenen Zeit. Man kann sogar Vergrößerungs- oder Schrumpfungstendenzen von vorgeschichtlichen Bevölkerungen, zum Beispiel als Folge von Epidemien, Hungersnöten, Kriegen oder größeren Wanderungsbewegungen, abschätzen.

Zum Beispiel bestärken genetische Vergleiche heutiger amerikanischer Ureinwohner die Vermutung, daß ihre Vorfahren aus Asien stammen und daß es nur sehr wenige Einwanderungswellen recht kleiner Gruppen gegeben hat. Dies läßt sich nun, ergiebiges Fundmaterial vorausgesetzt, auch durch die Analyse der DNA von früheren amerikanischen Bevölkerungen prüfen. Verbindet man solche Studien mit kulturgeschichtlichen, könnte man zudem eruieren, ob beispielsweise eine Gruppe von einer anderen mit fremder Kultur verdrängt worden ist oder ob sie deren Lebensweise lediglich übernommen hat.


Irrtümer durch Verunreinigungen

Gerade die besonderen Vorzüge der Polymerase-Kettenreaktion, ihre extreme Empfindlichkeit und Effizienz, können bei der Untersuchung alter DNA nachteilig sein: Das Enzym vervielfältigt alle Basensequenzen, an die sich die Primer binden können, gleich welcher Herkunft diese sind. Sollten durch das Hantieren mit Geweben und Reagenzien auch nur winzige Spuren falscher DNA in die Probe gelangt sein, werden sie unweigerlich mitverarbeitet. Man kann sich deshalb fragen, ob nicht manche mit dem Verfahren nachgewiesene genetische Ähnlichkeit zwischen uns und unseren Vorfahren nur auf unsauberes Arbeiten zurückgeht.

Zum Beispiel können abgeschilferte Hautzellen von Archäologen oder Museumsmitarbeitern auf den Fundobjekten haften oder Gerätschaften von früheren Experimenten minimal verunreinigt sein. Verschiedene Ansätze von ausgestorbenen Tieren enthielten sogar ausschließlich menschliche DNA. Darum läßt man heute äußerste Sorgfalt walten, hält Arbeitsplatz, Instrumente und Reagenzien möglichst sauber, führt im selben Raum keinerlei andere Versuche durch und installiert in jedem Labor ein separates Belüftungssystem.

Mit menschlichen Überresten zu arbeiten ist besonders schwierig, weil menschliche DNA zwangsläufig die häufigste Quelle für Kontamination ist. Deshalb wählten wir vorsichtshalber für eine erste größere Populationsstudie Nagetiere, und zwar die im Südwesten Nordamerikas beheimateten Känguruhratten. Kelley Thomas, Francis Villablanca und ich untersuchten zunächst 48 Bälge aus Museen, die Anfang des Jahrhunderts in der Mojavewüste in drei Populationen gesammelt worden waren. Die Mitochondrien-DNA war bei allen so gut erhalten, daß wir daraus Sequenzen aus 200 Basenpaaren bestimmen konnten.

Dann fingen wir selbst genau an den von den Sammlern auf Karten angegebenen Plätzen Tiere. Ihre Gensequenzen glichen verblüffend denen der 60 bis 80 Jahre zuvor erlegten Exemplare: Sie waren großenteils identisch, sonst zumindest sehr ähnlich; selbst die Variabilität hatte sich nicht verändert. Demnach gehen die heutigen Populationen direkt auf die damaligen zurück, und weder größere Wanderungen noch wesentliche störende Einflüsse können aufgetreten sein. Damit war erwiesen, daß Sammlungen naturgeschichtlicher Museen sich durchaus eignen, genetische Veränderungen in Populationen über die Zeit molekularbiologisch zu erforschen.

Da mittlerweile weltweit sehr viele Tiere und Pflanzen existentiell bedroht sind, erweisen solche Vergleiche früherer und heutiger Populationen sich als hilfreich, um die Gründe des Artensterbens besser zu verstehen. Man weiß, daß in schrumpfenden Populationen die genetische Vielfalt abnimmt; sie werden dann vermutlich anfälliger für Infektionskrankheiten und andere Belastungen, die der kleine Restbestand vielleicht nicht mehr übersteht. Ein Beispiel für extremen genetischen Monomorphismus ist der Gepard (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1986, Seite 64). Es ist zu hoffen, daß Untersuchungen an schon ausgestorbenen Tieren unser Verständnis für die Prozesse, die zum Aussterben führen, vertiefen werden.

Für die ersten Analysen alter DNA hatte man Probematerial lediglich in ursprünglich weichem Gewebe gesucht. Im Jahre 1989 gelang es aber Erika Hagelberg und Bryan Sykes von der Universität Oxford (England), auch aus Knochen, die ja den Großteil der Überreste verstorbener Organismen ausmachen, verwendbare Molekül-Relikte zu gewinnen. Sie stammen vermutlich aus den Zellen, die den harten Knochen fortwährend auf- und abbauen (den Osteoblasten und Osteoklasten).

Praktisch bewährt hat sich das bei den Moas, einer ausgestorbenen Gruppe flugunfähiger, pflanzenfressender Vögel Neuseelands, von der einige Arten dreieinhalb Meter groß wurden und 200 Kilogramm wogen. Die letzten sind erst verschwunden, nachdem der Mensch vor etwa 1000 Jahren die Inseln besiedelt hatte und sie jagte. Früher vermutete man eine engere Verwandtschaft mit den in Neuseeland heute noch lebenden Kiwis, die gleichfalls nicht fliegen können. Alan Cooper von der Victoria-Universität von Wellington untersuchte dann aber Erbmaterial sowohl aus Knochen als auch aus mumifizierten weichen Geweben, die in Höhlen und Mooren überdauert hatten, und es gelang ihm, von vier der sechs Gattungen Mitochondrien-DNA zu vermehren. Demnach waren diese Moas miteinander eng verwandt, jedoch nicht näher mit den Kiwis als mit den australischen und afrikanischen Straußen (Bild 7). Die Kiwis sind vielmehr sozusagen Vettern der australischen Emus und Kasuare.

Den Befunden zufolge müßten die Kiwis später nach Neuseeland gelangt sein als die Moas, vermutlich erst, nachdem die Inseln – vor etwa 80 Millionen Jahren – sich von Australien (genau genommen von dem Großkontinent Gondwanaland) getrennt hatten. Falls sie da schon flugunfähig waren, könnten sie Neuseeland nur schwimmend oder driftend erreicht haben, vielleicht entlang einer damals vorhandenen Inselkette. Denkbar ist aber auch, daß die kleinen, wehrlosen Vögel das Flugvermögen erst später verloren, da in dem neuen Habitat keine ihnen gefährlichen, am Boden jagenden Raubtiere vorkamen. Dann hätte allerdings der gemeinsame Vorfahre von Kiwi, Emu und afrikanischem Strauß ebenfalls fliegen können.

Die Moas wiederum scheinen sich erst in – gemessen an evolutiven Phasen – jüngerer Zeit in die vielen Gattungen und Arten aufgefächert zu haben, obwohl diese Gruppe schon sehr viel länger existierte. Cooper erklärt dies mit der geologischen Vergangenheit Neuseelands: Vor etwa 30 Millionen Jahren sind beträchtliche Teile der Inseln unter den Meeresspiegel gesunken. Als gegen Ende des Tertiärs vor zweieinhalb Millionen Jahren kaum mehr Land aus dem Wasser ragte, dürften von den ursprünglichen Moas die meisten ausgestorben sein. Mit späteren Hebungen, welche die neuseeländischen Alpen auffalteten, und noch andauernder vulkanischer Aktivität entstanden zahlreiche neue ökologische Nischen, die eine rasche Artentfaltung der übriggebliebenen Vögel ermöglichten.

Somit hat diese Vogelgruppe damals einen evolutiven Engpaß überwunden und zahlreiche neue ökologische Räume besiedelt. Nun soll untersucht werden, ob ähnliches auch mit anderen neuseeländischen Tieren geschah.


Zeitliche Grenzen der Rückschau

Wie weit wird man mit DNA-Analysen in die Vergangenheit blicken können? 200000 Jahre auf die unmittelbaren Vorfahren des anatomisch modernen Menschen? Vielleicht sogar drei Millionen Jahre bis zu den ersten Hominiden? Oder bis zu den letzten Dinosauriern in die ausgehenden Kreidezeit vor rund 65 Millionen Jahren?

Dem setzen doch bestimmte physikalische Gesetzmäßigkeiten und chemische Reaktionen Grenzen. Besonders Wasser und Sauerstoff sind kritische Faktoren. Durch Wasser werden, wie man aus chemischen Konstanten errechnet hat, in 50000 Jahren selbst kleinste DNA-Stücke zerstört; die Basen gehen verloren. Und Sauerstoff greift nicht nur die Basen, sondern auch das Rückgrat des Doppelwendel-Moleküls DNA an. Aber selbst unter Idealbedingungen – Ausschluß von Wasser und Sauerstoff sowie bei niedriger Temperatur – vernichtet die Hintergrundstrahlung schließlich die genetische Information.

Erst 1990 wurden neue Hoffnungen geweckt, daß man allen Skeptikern zum Trotz sehr alte DNA gewinnen könne. Edward M. Golenberg und Michael T. Clegg von der Universität von Kalifornien in Riverside hatten eine Gensequenz aus einem 17 Millionen Jahre alten Magnolienblatt bestimmt, das in einer Tonschicht unter einem See im Norden von Idaho eingelagert gewesen war. Ein Fragment war 800 Basenpaare lang. Pamela S. und Douglas E. Soltis von der Washington State University in Pullman kamen zunächst zu einem gleichartigen Ergebnis. Andere Forschergruppen unternahmen dann viele weitere Versuche mit Überresten derselben und anderer Pflanzenarten von derselben Fundstelle. Diesmal fanden sie trotz reichlichen Fossilmaterials nichts. Es ist überhaupt erstaunlich, daß sich die Magnolien-DNA in dem feuchten Ton erhalten haben soll.

Mit Erbmaterial-Analysen von in Bernstein eingeschlossenen Tieren oder Pflanzenteilen kommt man womöglich weiter. In ihm ist das abgestorbene organische Material trocken aufgehoben und, wenn das fossile Harz günstig lagert, wohl auch nicht dem Sauerstoff ausgesetzt. George O. Poinar jr. aus Berkeley und Robert DeSalle vom Amerikanischen Museum für Naturgeschichte in New York haben so DNA-Bruchstücke von 40 Millionen Jahre alten Termiten gewonnen, die zu derjenigen heutiger Tiere paßt.

In der nächsten Zeit werden wir durch Arbeiten in vielen Gruppen erfahren, ob diese Ergebnisse zu wiederholen sind. Sollten sie sich als tragfähig erweisen, würden viele interessante Untersuchungen möglich. Zum Beispiel könnte man versuchen zu bestimmen, wie schnell die molekulare Uhr der Evolution wirklich tickt. Wie erwähnt, scheinen molekulare Mutationen am Erbmaterial – Austausch von Basen – mit einer konstanten Rate stattzufinden, zumindest in ein- und derselben Entwicklungslinie. Um die genetische Ähnlichkeit zwischen Arten oder Populationen zu bestimmen, kann man die Zahl solcher Mutationen abschätzen. Schwieriger ist es, auch die entsprechenden Evolutionszeiträume anzugeben, solange feste Zeitmarken fehlen.

Einige Probleme werden aber dabei immer bleiben, zum Beispiel die, ob ein fossiler Organismus wirklich der Vorfahr eines heutigen war oder ob er nur einer verwandten Seitenlinie angehörte. Gründe für kontroverse Diskussionen wird es also auch künftig genug geben.

Viele Leute möchten wissen, ob man ausgestorbene Arten nicht eines Tages aus rekonstruiertem Erbmaterial wiedererstehen lassen könnte; Science-fiction regt zu solchen Spekulationen immer wieder an. Mancher mag sogar erwarten, daß Klone seiner Ahnen plötzlich aus einem Labor kommen. Und Kinder träumen neuerdings von Zuchtstationen für Dinosaurier.

Ich bin ganz sicher, daß solche Wunschphantasien (oder Alpträume) niemals Realität werden. Wir haben keine Ahnung, wie man die Millionen DNA-Bruckstücke, die man findet, zu Chromosomen einer lebenden Zelle zusammenbasteln könnte, und genausowenig wissen wir, wie die Tausende von Genen anzuwerfen sind, welche die Entwicklung von der Eizelle an steuern. Die Klonierung neuer Individuen aus ausgereiften Organismen funktioniert bei Wirbeltieren noch nicht einmal bei den heute lebenden, von denen man intakte Zellen mit dem vollständigen Gensatz zur Verfügung hat.

Allenfalls könnte es irgendwann gelingen, ein komplettes Gen einer ausgestorbenen Art zu gewinnen. Aber wenn man dies in den Zellkern einer modernen Art einpflanzt, wird es günstigstenfalls eine Eigenschaft des Wirtes beeinflussen, aus der sich möglicherweise seine Funktion erschließen ließe. Ausgestorbene Lebewesen lassen sich aber auf diese Weise nicht wiedererschaffen. Einmal verschwundene Ökosysteme und Arten sind und bleiben verloren.

Die Erforschung alter DNA dürfte gleichwohl viele entwicklungsgeschichtliche Fragen klären helfen, insbesondere was den genetischen Wandel in Populationen betrifft – die Evolution im eigentlichen Sinne. Wenn das Verständnis dieser Prozesse wächst, werden wir nicht nur unsere eigene Geschichte und die des Lebens im allgemeinen besser verstehen, sondern können uns auch bessere Strategien überlegen, um das Leben auf der Erde in seiner Vielfalt zu bewahren.

Literaturhinweise

- DNA Sequences from the Quagga, an Extinct Member of the Horse Family. Von R. Higuchi, B. Bowman, M. Freiberger, O.A. Ryder und A.C. Wilson in: Nature, Band 312, Heft 5991, Seiten 282 bis 284, 15. November 1984.

– Ancient DNA: Extraction, Characterization, Molecular Cloning and Enzymatic Amplification. Von Svante Pääbo in: Proceedings of the National Academy of Sciences, Band 86, Heft 6, Seiten 1939 bis 1943, März 1989.

– Independent Origins of New Zealand Moas and Kiwis. Von A. Cooper, C. Mourer-Chauviré, G.K. Chambers, A. von Haeseler, A.C. Wilson und S. Pääbo in: Proceedings of the National Academy of Sciences, Band 89, Heft 18, Seiten 8741 bis 8744, 15. September 1992.

– DNA Sequences from a Fossil Termite in Oligo-Miocene Amber and Their Phylogenetic Implications. Von R. DeSalle, J. Gatesy, W. Wheeler und D. Grimaldi in: Science, Band 257, Seiten 1933 bis 1936, 25. September 1992.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1994, Seite 54
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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