Tangram für Fortgeschrittene
Wie stellt man es an, eine ebene Figur so aufzuteilen, daß man aus den Einzelteilen eine völlig andere Figur zusammensetzen kann? Es gibt einige überraschend elegante Lösungen.
Die beiden Rätselerfinder Sam Loyd (1841 bis 1911) und Henry Ernst Dudeney (1857 bis 1931) – der eine Amerikaner, der andere Engländer – arbeiteten in ihren frühen Jahren gemeinsam an einer regelmäßigen Rätsel- Kolumne für die Zeitschrift "Titbits". Loyd schrieb die Rätsel, Dudeney kommentierte sie unter dem Pseudonym "Sphinx" und vergab die Preise. Aber die Zusammenarbeit schlug bald in Rivalität um, und die beiden Männer gingen fortan verschiedene Wege. Beiderseits des Atlantiks entwickelten sie in der Folgezeit die Kunst, vertrackte mathematische Fragen in einfache Geschichten zu verpacken, zu hoher Blüte.
Ein typisches Beispiel dafür ist Sam Loyds Sänftenpuzzle. Das mathematische Problem besteht darin, eine vorgegebene Form in möglichst wenige Teile zu zerlegen und diese zu einem Quadrat neu zusammenzusetzen. Loyd kleidete diese Aufgabe in eine Geschichte, in der sich die Sänfte einer jungen Dame überraschend zusammenfalten läßt und dadurch Regenschutz bietet (Bild 2). Zerlegungsaufgaben dieser Art sind das Thema eines wunderbar unterhaltsamen Buches, das Greg N. Frederickson, Professor für Informatik an der Purdue-Universität in West Lafayette (Indiana), geschrieben hat.
Wenn man ein Gebilde zerschneidet und die Teile zu einer neuen Form zusammensetzt, ändert sich der Flächeninhalt nicht. Diese harmlos anmutende Aussage ist weniger selbstverständlich, als es den Anschein hat. Merkwürdigerweise ist die analoge Behauptung in drei Dimensionen sogar falsch, wenn man sehr komplizierte Zerteilungen zuläßt. Der polnische Mathematiker Stefan Banach (1892 bis 1945) und sein polnisch-amerikanischer Kollege Alfred Tarski (1901 bis 1983) haben 1924 bewiesen, daß man eine Vollkugel so in sechs Teile zerlegen kann, daß die Teile, anders zusammengesetzt, zwei Vollkugeln derselben Größe wie die Ausgangskugel ergeben (Spektrum der Wissenschaft, April 1990, Seite 12). Der Satz ist über jeden Zweifel erhaben – aber so bizarr, daß er den Namen Banach-Tarski-Paradox mit vollem Recht trägt.
Wie kann sich durch bloßes Umordnen das Volumen verdoppeln? Nun, die Teile sind so kompliziert gebaut, daß sie gar kein wohldefiniertes Volumen haben. Sie sind eher unendlich komplexe kugelförmige Staubwolken als zusammenhängende Objekte.
Mit einem real existierenden Gegenstand aus endlich vielen Atomen ist eine solche Zerlegung nicht zu machen – Edelmetallhändler können also aufatmen –, aber das Paradox zeigt, wie subtil der Begriff des Volumens ist. In der Ebene kann das Banach-Tarski-Paradox nicht auftreten, wie Tarski 1925 bewiesen hat, auf der Oberfläche einer Kugel dagegen durchaus.
Zwei Vielecke gleicher Fläche haben eine gemeinsame Zerlegung...
Wenn aber die Teile, in die ein Objekt zu zerlegen ist, so einfach sind, daß sie alle wohldefinierte Flächeninhalte beziehungsweise Volumina haben, muß man sich um Paradoxa dieser Art keine Sorgen machen. Im Jahre 1833 beantwortete P. Gerwien, Leutnant im 22. preußischen Infanterieregiment, eine Grundfrage über Zerlegungen, die der ungarische Mathematiker Farkas (Wolfgang) Bólyai (1775 bis 1856) gestellt hatte: Wenn zwei ebene Vielecke gleichen Flächeninhaltes gegeben sind, gibt es stets ein endliches Sortiment von kleineren Vielecken, die sich zu jeder der beiden Formen zusammensetzen lassen. Dieses Ergebnis heißt Satz von Bólyai und Gerwien (obwohl anscheinend ein gewisser William Wallace es schon 1807 bewiesen hat).
In drei Dimensionen gilt der Satz nicht. Der große deutsche Mathematiker David Hilbert (1862 bis 1943) stellte 1900 die Frage, ob zwei Polyeder gleichen Volumens stets zerlegungsgleich sind, sich also aus der gleichen Menge polyederförmiger Teile zusammensetzen lassen. Ein Jahr später bewies dann der deutsch-amerikanische Topologe Max Dehn (1878 bis 1952) zur allgemeinen Überraschung, daß ein reguläres Tetraeder und ein Würfel gleichen Volumens nicht zerlegungsgleich sind.
... aber interessant sind Zerlegungen mit wenigen Teilen
Richtig Spaß macht es, schöne Beispiele für zerlegungsgleiche Formen zu finden. Das gelingt durchaus auch mit phantasievollem Probieren, allerdings nur, wenn man über ein lebhaftes räumliches Vorstellungsvermögen verfügt. Ein großer Vorzug von Fredericksons Buch ist, daß es viele der allgemeinen Prinzipien erklärt, nach denen man Zerlegungen finden kann.
Eins dieser Prinzipien besteht darin, eine Form treppenförmig auseinanderzuschneiden. Die Teile können dann um eine Stufe gegeneinander verschoben und zu einer neuen Form zusammengefügt werden (Bild 1). David Collison (1936 bis 1991), ein gebürtiger Engländer, der dann als Programmierer und Unternehmensberater in den USA arbeitete, hat mit Hilfe dieses Prinzips raffinierte Zerlegungen entwickelt. Seine Zerle-gung eines Fünfecks in zwei kleinere Fünfecke (Bild 1 unten) illustriert die bekannte pythagoreische Gleichung 52+122=132.
Eine andere allgemeine Methode ist das Parkettierungsprinzip. Viele interessante Formen parkettieren die Ebene, das heißt, beliebig viele Exemplare der Form lassen sich lückenlos und überdeckungsfrei aneinanderlegen. Wenn man zwei verschiedene Parkettierungen mit Grundformen gleichen Volumens überlagert, kann man daraus oft Zerlegungen ablesen, mit denen sich die eine Form in die andere verwandeln läßt – zum Beispiel ein griechisches Kreuz in ein Quadrat (Bild 3 a und b).
Auf der gleichen Grundidee basiert eine kompliziertere Zerlegung von Harry Lindgren (1912 bis 1992), die ein gleichseitiges Zwölfeck in ein lateinisches Kreuz (mit langem unterem Balken) verwandelt (Bild 3 c bis i). Der erste (und schwierigste) Schritt besteht darin, das Zwölfeck so zu zerlegen und neu zusammenzusetzen, daß es die Ebene parkettiert. Für das lateinische Kreuz – von gleicher Fläche wie das Zwölfeck – ist eine solche Umwandlung in eine parkettierende Form leichter zu finden. Wenn man beide Parkettierungen übereinanderlegt, ergibt sich die gesuchte Zerlegung.
Ein interessanter Spezialfall des Parkettierungsprinzips ist das Streifenprinzip. Man zerlegt die beiden Formen in Teile, die jeweils einen unendlich langen Streifen parkettieren. Wenn man dann die beiden Streifen irgendwie – möglicherweise schräg – übereinanderlegt, erhält man eine Zerlegung. (Unendlich viele gleiche Streifen nebeneinander ergeben auch eine Parkettierung der Ebene. Wenn man beide Streifen so zu Parketten erweitert, läuft das Streifenprinzip auf das Parkettierungsprinzip hinaus. Der Winkel, um den die beiden Streifen gegeneinander verdreht sind, bestimmt, welcher Versatz zwischen benachbarten Exemplaren des gleichen Streifens einzuhalten ist.)
Die Verwandlung eines Sechsecks in ein Quadrat (Bild 4 oben) ist so entstanden. Ihr Erfinder, der Belgier Paul Busschop (1799 bis 1877), hat auch ein Buch über das Solitärspiel mit den 33 Pflöcken geschrieben, welches posthum von seinem Bruder publiziert wurde. Harry Bradley (1871 bis 1936), ein amerikanischer Ingenieur, der 1897 am Massachusetts Institute of Technology lehrte, fand auf die gleiche Weise eine Zerlegung des Davidsterns in ein Quadrat (Bild 4 unten).
Bei Zerlegungsaufgaben muß nicht immer nur eine Form in eine andere transformiert werden. Oft gilt es, eine ganze Anzahl von Figuren zu zerlegen und zu einer großen zusammenzusetzen oder umgekehrt. Beispielsweise zeigt Frederickson in seinem Buch, wie man einen achtspitzigen Stern in fünf verkleinerte Kopien seiner selbst verwandeln kann (Bild 5). Besondere Kunstfertigkeit ist wegen der inkommensurablen Seitenlängen geboten: Die Flächen von kleinem und großem Stern verhalten sich wie 1 zu 5 und die Seitenlängen deshalb wie 1 zu SQRT5. Dafür gibt es keine gemeinsame Zerlegung. Entsprechend liegt jede Seite, die im kleinen Stern außen liegt, im großen innen und umgekehrt.
Fredericksons Buch enthält zahlreiche Zerlegungen dieser Art. Außerdem führt er nicht nur seine eigenen Werke vor, sondern auch andere, zum Teil noch unveröffentlichte, die Zerlegungsspezialisten aus aller Welt gefunden haben: Robert Reid, Antiquitätenhändler in Peru, Alfred Varsady, technischer Zeichner in Metten bei Deggendorf (Donau), und Stuart Elliott, forschender Chemiker in England (Bild 7).
Zuweilen ist das Bild einer Zerlegung so suggestiv, daß das Auge den Verstand in die Irre führt. Im Jahre 1901 unterlief Loyd ein denkwürdiger Fehler. Er behauptete, eine Zerlegung einer Form namens miter ("Gehrungsform") in ein Quadrat gefunden zu haben. Dummerweise ist das angebliche Quadrat ein Rechteck mit dem Seitenverhältnis 49 zu 48. Loyds großer Rivale Dudeney wies 1911 auf den Fehler hin und gab eine korrekte Zerlegung an (Bild 6).
Wenn Sie sich nun selbst auf die Suche nach Zerlegungen machen wollen, wünsche ich Ihnen viel Spaß. Aber prüfen Sie Ihr Werk lieber sorgfältig nach, bevor Sie es veröffentlichen.
Dissections: Plane and Fancy. Von Greg Frederickson. Cambridge University Press, 1998.
Maltese Crosses. Von Greg Frederickson in: Journal of Recreational Mathematics, Band 28, Heft 3, Seiten 170 bis 174, 1997.
From Here to Infinity. Von Ian Stewart. Oxford University Press, 1996.
The Banach-Tarski Paradox. Von Stan Wagon. Cambridge University Press, 1985.
Geometric Dissections. Von Harry Lindgren. Van Nostrand, 1964
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1998, Seite 11
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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