Jahrtausend der Städte: Technologien für lebenswerte Städte
Der Mensch entwickelt sich immer mehr zur urbanen Spezies. Welche Technologien und Innovationen werden die Städte von morgen lebenswert machen?
Das "Jahrtausend der Städte" hat UN-Generalsekretär Kofi Annan ausgerufen, als er Anfang Juli 2000 in Berlin die Konferenz "Urban 21" eröffnete. 3500 Bürgermeister aus aller Welt diskutierten auf dieser Tagung mit Politikern, Stadtplanern und Firmenvertretern über die Zukunft der Städte. Im Kern ging es immer wieder um die eine Frage: Ist der Trend zur Urbanisierung, zur Verstädterung, vereinbar mit dem Prinzip der "nachhaltigen Entwicklung" – also einer Entwicklung, die den Bedürfnissen der jetzt lebenden Menschen gerecht wird, ohne künftigen Generationen ein Erbe aus Umweltverschmutzung, verbrauchten Ressourcen und unzumutbaren Lebensbedingungen zu hinterlassen?
Bislang ist die Anziehungskraft der Städte ungebrochen. "Einst waren Städte wie Babylon, Rom oder Jerusalem das Symbol einer ganzen Welt. Heute ist die ganze Welt im Begriff, eine Stadt zu werden", schrieb der amerikanische Architekturhistoriker und Stadtplaner Lewis Mumford bereits Anfang der 60er Jahre in seinem Standardwerk "The City in History". Mumford hatte Recht: Im 20. Jahrhundert stieg die Zahl der Menschen, die in Städten leben, von 200 Millionen auf drei Milliarden, die Hälfte der heutigen Weltbevölkerung. Und in einer weiteren Generation werden sich bereits zwei von drei Menschen als Städter bezeichnen können. Vor fünfzig Jahren gab es lediglich die Ballungsräume London und New York mit über acht Millionen Einwohnern. Heute haben 17 Megacitys über zehn Millionen Einwohner – 13 davon in Entwicklungsländern –, und in 15 Jahren werden weitere neun dieser Megalopolen hinzukommen (siehe Kasten).
Dabei verläuft die Urbanisierung in den Entwicklungs- und Schwellenländern völlig anders als in den reichen Industrienationen. Während in Lateinamerika, Süd- und Ostasien sowie Westafrika pro Tag 170000 Neuankömmlinge auf der verzweifelten Suche nach einem besseren Leben in die Städte strömen, klagen die Industrieländer über das Phänomen der Stadtflucht ins nahe gelegene Umland. Die Zentren von Städten wie London oder Detroit sind nachts fast völlig verwaist, aber ihr Wachstum in die Fläche ist enorm. Die amerikanische Metropole Atlanta verdoppelte im letzten Jahrzehnt ihre geographische Ausdehnung. Steigender Wohlstand, größere Mobilität und die Möglichkeiten der modernen Kommunikation, beispielsweise im Bereich der Telearbeit, sind die Gründe für diese Expansion in die grünen Vororte. Der städtische Lebensraum, den ein Nordamerikaner für sich in Anspruch nimmt, ist zehnmal größer als der eines Städters in den Entwicklungsländern.
In den Industrienationen heißt die Hauptaufgabe der Stadtplaner daher: Haltet die Stadtflucht in Grenzen, macht eure Städte lebenswert, senkt die Umwelt- und Verkehrsbelastung und schafft attraktiven, günstigen Wohnraum! In den Entwicklungs- und Schwellenländern sind die Probleme ganz andere: Dort leben in vielen Städten 30 bis 60 Prozent der Bewohner in Slums oder Barackensiedlungen, sie kennen keine Schulbildung und ersticken im Müll. In wenigen Jahren werden allein die Städte Asiens pro Tag eine Million Tonnen an festen Abfällen erzeugen, von der Luft- und Trinkwasserverschmutzung ganz zu schweigen. Bis zur Hälfte ihres Einkommens müssen die Bewohner dieser Moloche für sauberes Trinkwasser ausgeben – während andernorts 60 Prozent des kostbaren Nasses durch undichte oder angebohrte Leitungen verschwinden. Ähnliches gilt für elektrischen Strom: So wird in Indien in vielen Gegenden nur ein Bruchteil der genutzten Elektrizität auch bezahlt. Erhebliche Mengen werden illegal abgezapft. Weltweit leben zwei Milliarden Menschen ohne Zugang zu Elektrizität, und für noch viel mehr ist Strom in gleichbleibender Qualität ein unerschwinglicher Luxus. Die Inder nehmen’s mit Galgenhumor: Der Strom falle fürs Fernsehen immer dann aus, sagt ein indisches Sprichwort, "when somebody is kissed or killed".
Ähnlich katastrophale Verhältnisse gelten für den Verkehr: In Bangkok beispielsweise ist ein Fußgänger im Schnitt doppelt so schnell wie ein Auto. Dennoch ist das Bedürfnis nach individueller Mobilität auch in den Ländern Asiens erheblich: 80 Millionen Chinesen wollen sich in den nächsten zehn Jahren ein Fahrzeug kaufen – was alle weltweiten Anstrengungen zur Verminderung der Schadstoffemissionen vollends zunichte machen würde. Während all diese Probleme noch ihrer Lösung harren, wandeln sich die Städte rasanter, als Politiker reagieren können. Überall, ob in Kairo oder Mexico City, stößt man auf schier unüberbrückbare Gegensätze: kreuzungsfreie Stadtautobahnen neben Wellblechsiedlungen auf Müllbergen, bettelnde Kinder und perfekt gekleidete Geschäftsleute mit Mobiltelefon, stinkende Kloaken und First-Class-Restaurants mit Internet-Anschluss.
Ihr eigener Erfolg droht den Städten zum Verhängnis zu werden. Dennoch war der Tenor auf der "Urban 21"-Konferenz nicht Resignation, sondern Aufbruchstimmung: "Nachhaltige Stadtentwicklung", "Best Practices" – also nachahmenswerte Beispiele – und "Public Private Partnerships" zwischen Firmen und Städten waren die meist gehörten Schlagworte.
Partnerschaften mit Unternehmen sollen die Zukunft sichern
Vertreter der Weltbank stellten ihre neuen, im November 1999 verabschiedeten, Strategien zur Stadtentwicklung vor. Ihr ganzheitlicher Ansatz legt die Schwerpunkte auf die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und Kreditwürdigkeit von Städten, sowie eine gute Verwaltung mit Einbindung aller gesellschaftlich relevanten Gruppen. Wichtigstes Ziel ist die Bekämpfung der Armut als Wurzel vieler Übel, also etwa die Umwandlung von Slumgebieten in lebenswerten Wohnraum. Selbsthilfeprogramme sollen Wege und Abwasserleitungen, Müllsammelstationen, Trinkwasserstellen, Nachbarschaftskliniken und Grund-schulen errichten. Ein "Best Practice"-Beispiel ist hier das Kampung-Programm in Indonesien, das es in den letzten dreißig Jahren geschafft hat, die Lebensbedingungen von zwanzig Millionen Menschen erheblich zu verbessern. Dutzende von Städten – von Cali, Kolumbien, über Maputo, Mosambik, bis Haiphong, Vietnam – implementieren zur Zeit die neuen Stadtentwicklungs-Strategien der Weltbank, die rund acht Milliarden Dollar an Krediten für 121 geplante Projekte bereitstellt.
Dennoch reicht dies natürlich bei weitem nicht aus, um den Bedarf der Städte an Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur zu decken, weder in den Industrienationen noch in den Entwicklungs- und Schwellenländern. "Um lebenswerte Städte zu bauen, werden in Zukunft Partnerschaften mit Firmen eine immer wichtigere Rolle spielen", prophezeit Roxanne Qualls. Als ehemalige Bürgermeisterin von Cincinnati hat die Dozentin der Havard Universität langjährige Erfahrungen mit den "Public Private Partnerships". "In der Vergangenheit ging es dabei vor allem um schlüsselfertige Anlagen der Energieversorgung, Müllentsorgung oder im Verkehrswesen. Nun sind Gebäudetechnik, Licht und Telekommunikation hinzugekommen, und vor allem auch kluge Finanzierungslösungen. Die Zukunft gehört den Städten, die all dies in enger Zusammenarbeit mit den Partnerfirmen realisieren können." Neue Technologien, innovative Ideen und ganzheitliche Lösungsansätze sind gefragt, um den Menschen ein lebenswertes Dasein in den Städten von morgen bieten zu können. Einige der Erfolg versprechendsten werden auf den folgenden Seiten dargestellt.
Literaturhinweise
Stadtplanung in Curitiba. Von Jonas Rabinovitch und Josef Leitman, Spektrum der Wissenschaft 5/1996, S. 68.
Lösungen für Städte von morgen. Siemens AG, Best.Nr. A 19100-F-P73, Fax 089/63635292.
Städte im Wandel – Neue Strategien für die kritischen Themen der Stadtpolitik. Die Weltbank, Juni 2000, Best.Nr. A19100-F-P75, Fax 089/63635292.
Die 17 heutigen Megacitys nach UN-Angaben
(ab zehn Millionen Einwohnern, in der Reihenfolge abnehmender Größe)
Tokio : Mexico City : São Paulo : New York : Mumbai (Bombay) : Schanghai : Los Angeles : Kalkutta : Buenos Aires : Seoul : Peking : Lagos : Delhi : Osaka : Karachi : Rio de Janeiro : Kairo
Die neun neuen Megacitys (bis zum Jahr 2015)
Dhaka : Hangzhou : Hyderabad : Istanbul : Jakarta : Lahore : Manila : Teheran : Tianjin
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2000, Seite 78
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