Verhaltensforschung: Teilen macht satt
Normalerweise fehlt Tieren der Sinn für den möglichen künftigen Nutzen selbstlosen Verhaltens. Doch nun erwiesen sich Vögel im Test als uneigennützig, wenn der sich füllende Futternapf ihnen augenfällig vorführte, wie sich momentaner Verzicht langfristig auszahlt.
Die Schlange vor der Kasse im Supermarkt scheint endlos. Genervt quälen wir uns mit unserem randvollen Einkaufswagen millimeterweise vorwärts – und sind über uns selbst erstaunt, dass wir einen drängelnden Studenten vorlassen. Immerhin klemmt nur Milch und Toastbrot unter seinem Arm. Was bewegt uns zu diesem selbstlosen Akt? Ist es schiere Großmut oder "Auf den kommt es nun auch nicht mehr an"? Oder steckt Weitblick dahinter, der uns ahnen lässt, dass wir schon morgen ebenfalls für einen Gefallen dankbar sein könnten?
Auf den ersten Blick steht Altruismus in klarem Widerspruch zu den Forderungen des Darwin’schen Kampfes ums Dasein. Und doch spielt Geben und Nehmen eine zentrale Rolle im menschlichen Miteinander. Schon seit den frühen 1950er Jahren widmen sich Verhaltensforscher und Soziobiologen daher der Frage, wie unter den Bedingungen evolutiven Wettbewerbs kooperatives Verhalten entstehen konnte.
Antworten ergaben sich aus Experimenten mit spieltheoretischen Modellen wie dem berühmten Gefangenendilemma. Dabei haben zwei Personen die Wahl zwischen Kooperation oder Im-Stich-Lassen. Für beide zusammen ist der Gewinn am größten, wenn sie gemeinsame Sache machen; doch jeder einzelne erreicht für sich allein den höchstmöglichen Profit, wenn er sich gegen den Partner stellt, während dieser kooperiert. Treffen zwei Egoisten aufeinander, gehen beide leer aus. Bei Experimenten mit Menschen mündete dieses Spiel in eine dauerhafte Kooperation, wenn einer der Teilnehmer nach dem Prinzip des "Wie du mir – so ich dir" (englisch "Tit for Tat") Gleiches mit Gleichem vergalt.
Ganz anders sieht es bei Tieren aus. Hier gibt es Kooperation gewöhnlich nur innerhalb der Verwandtschaft, wo sie die Verbreitung der eigenen Gene fördert. So betreuen bei Affen weibliche Familienangehörige die Nachkommen gemeinsam, und Löwinnen eines Rudels – überwiegend Schwestern oder Mütter und Töchter – unterstützen sich bei der Jagd. Dagegen lassen sich nicht verwandte Tiere in spieltheoretischen Experimenten auch durch eine Tit-for-Tat-Strategie nicht dazu bewegen, auf eine unmittelbare Belohnung im Interesse einer für beide Partner günstigen langfristigen Kooperation zu verzichten.
Die Erklärung liegt auf der Hand: Vorläufiger Verzicht setzt einen Sinn für den künftigen Nutzen voraus. Der aber scheint Tieren zu fehlen: Sie schauen kurzsichtig stets nur auf ihren unmittelbaren Vorteil. Dafür sprechen auch Ergebnisse von Versuchen, bei denen Tiere zwischen einer sofortigen und einer verzögerten Futterprämie wählen konnten. Dabei zogen sie generell die unmittelbare Entlohnung vor, auch wenn das hinausgeschobene Honorar größer war.
Vögel im Gefangenendilemma
Angesichts dieser Erfahrung fragten sich David W. Stephens und seine Kollegen an der Universität von Minnesota in St. Paul, ob Tiere vielleicht dann zu langfristiger Kooperation fähig sind, wenn man dafür sorgt, dass sich das kurzsichtige Schielen auf den direkten Vorteil nicht mehr auszahlt. Das lässt sich im Prinzip leicht erreichen – beispielsweise dadurch, dass es die Belohnung nicht sofort nach jeder Runde, sondern erst gesammelt am Ende des Versuchs gibt. Entsprechende Experimente führten die US-Wissenschaftler mit Blauhähern (Cyanocitta cristata) durch, die im östlichen Nordamerika beheimatet sind und zur Familie der Rabenvögel gehören – durchweg klugen, neugierigen und anpassungsfähigen Tieren (Science, Bd. 298, S. 2216).
Zunächst schufen die Forscher eine Situation wie beim üblichen Gefangenendilemma. Dazu setzten sie zwei Blauhäher in einen Käfig, in dessen hinterem Teil eine Sichtblende jeden Blickkontakt verhinderte. Lichtreize veranlassten die Vögel dann, nach vorne zu hüpfen. Dort hatten sie die Wahl zwischen zwei Stangen, von denen aus sie nun auch den Partner sehen konnten. Hüpfen auf die nahe am Nachbarvogel angebrachte innere Stange wurde dabei als Kooperation gewertet. Zog der Häher dagegen den äußeren Platz vor, galt das als "Im-Stich-Lassen".
Die Belohnung folgte den gängigen Regeln des Gefangenendilemmas: Hüpften beide Vögel auf die inneren Stangen, erhielt jeder eine ordentliche Futterration. Noch mehr Körner gab es aber für den, der die äußere Stange wählte, während der Partner sich auf die innere setzte. Der derart Betrogene hatte dann das Nachsehen. Wenn beide Vögel auf Abstand gingen, schauten sie gemeinsam in die Röhre.
Dieses Spiel wurde mit ein und dem-selben Paar mehrmals wiederholt. Dabei manipulierten die Forscher das Verhalten eines der beiden Häher durch entsprechende Lichtreize derart, dass er seinen Partner entweder permanent hinterging oder aber die Tit-for-Tat-Strategie verfolgte, das heißt beim ersten Mal kooperierte und dann stets das Verhalten des anderen Vogels beim vorherigen Durchgang nachmachte. Dabei bestätigten sich die Ergebnisse ähnlicher früherer Versuche mit anderen Tieren: Zwar rief das "Wie du mir – so ich dir" etwas höhere Kooperationsraten hervor, konnte aber die generelle Tendenz, den kurzfristigen eigenen Vorteil zu suchen, nicht dauerhaft brechen.
Nach diesem Vorversuch kamen die Wissenschaftler zu ihrem eigentlichen Test: dem Spiel mit verzögerter Gewinnausschüttung. Dabei erhielten die Vögel das Futter nicht sofort. Es sammelte sich vielmehr in einem Behälter an und wurde erst nach vier Durchgängen zugänglich gemacht. Damit die Häher auch verfolgen konnten, wie die Belohnung von Runde zu Runde wuchs, war der Sammelbehälter durchsichtig.
Verzögerte Belohnung macht kooperativ
Und siehe da – die Vögel kooperierten. Nachdem das Im-Stich-Lassen nicht mehr kurzfristig belohnt, sondern in der Summe der vier Durchgänge bestraft wurde, begriffen sie offenbar schnell, dass Kooperieren die günstigere Option war: Wenn der eine Partner eine Tit-for-Tat-Strategie verfolgte, entwickelte sich wie bei entsprechenden Experimenten mit Menschen meist auf Dauer eine hohe Kooperationsrate. Damit scheint bewiesen, dass die Vögel die Versuchsstrategie und den Zusammenhang zwischen ihrem gemeinsamen Verhalten und der daraus resultierenden Belohnung verstanden.
Auch nicht verwandte Tiere können also unter bestimmten Bedingungen ihren plumpen Egoismus überwinden und sich kooperativ verhalten. Nötig ist nur, dass der Nutzen für sie erkennbar wird. Das scheint dann der Fall zu sein, wenn sie ihre künftige Belohnung vor Augen und einen vertrauenswürdigen Partner haben, der sie nicht grundlos hintergeht.
Allerdings funktionierte der Versuch nicht bei allen Blauhäherpaaren. Deshalb bleibt offen, ob nicht vielleicht individuelle Unterschiede in der Neigung zur Kooperation existierten. So könnten Geschlecht und gegenseitiger Bekanntheitsgrad der Vögel eine Rolle gespielt haben. Solche Faktoren wirken sich ja auch auf die menschliche Kooperation aus.
Und so erhebt sich die Frage: War es in Wahrheit also doch nur das sympathische Lächeln, das uns bewogen hat, den Studenten vorzulassen?
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2003, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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