Tödliche Liebeslieder wie parasitoide Fliegen werbende Heuschrecken orten
Wie erst jüngst entdeckt wurde, verfügen bestimmte Fliegenarten über ein relativ hochentwickeltes Ohr. Damit können sie zirpende Heuschrecken orten, um ihre Eier oder Larven daran abzulegen. Das Opfer dient dann als Brutkasten und lebende Nahrungsquelle für den Nachwuchs.
Wenn das Männchen ruft, kommt das Weibchen angelaufen. So läßt sich, stark vereinfacht, die unemanzipierte Partnerfindung bei vielen Heuschrecken zusammenfassen. Die Männchen erzeugen einen Lockgesang, mit dem sie ihre Anwesenheit und Paarungsbereitschaft signalisieren. Weibchen hören und erkennen das Signal; und wenn sie gleichfalls paarungswillig sind, orten sie die Schallquelle und bewegen sich darauf zu.
Diese akustische Kommunikation ermöglicht die Partnerfindung auch bei niedrigen Individuendichten oder in den Nachtstunden, in denen nach Sicht jagende Räuber keine Chance haben. Insbesondere für die Weibchen verringert sich damit das Risiko, gefressen zu werden. Allerdings können sich Räuber auch an den akustischen und vibratorischen Signalen orientieren. Das bekannteste Beispiel für Heuschreckenjäger sind Fledermäuse in den tropischen Wäldern.
Aber auch in gemäßigten Breiten droht Gefahr: Wie erst jetzt entdeckt wurde, haben einige parasitoide Fliegen ein Ohr entwickelt, mit dem sie Heuschrecken-Männchen anhand ihres Gesangs orten können, um dann ihre Eier oder Larven auf ihnen abzulegen.
Auf diese Entdeckung führte eine merkwürdige Beobachtung, die Klaus-Gerhard Heller von der Universität Erlangen bei Exkursionen in Griechenland seit 1987 machte: Er fand immer wieder Fliegenlarven im Hinterleib von männlichen Laubheuschrecken der Art Poecilimon veluchianus, nie aber in Weibchen. Da nur die Männchen zirpen, lag der Verdacht nahe, daß die Parasitierung etwas mit der Lautäußerung zu tun hat.
Um diese Vermutung zu überprüfen, entfernte Heller adulten Männchen unmittelbar nach der Häutung einen Flügel, so daß sie nicht mehr singen konnten, markierte sie und ließ sie zusammen mit einer ebenfalls gekennzeichneten Kontrollpopulation frei. Nach einigen Tagen wurden alle Tiere wieder eingefangen und auf Parasiten untersucht. Das Ergebnis war eindeutig: Nur die zirpenden, nicht aber die stummen Tiere enthielten Fliegenlarven.
Doch wie nehmen die Fliegen das Zirpen wahr? Der Gesang der Laubheuschrecken ist sehr hochfrequent (20 bis 30 Kilohertz) und damit für den Menschen unhörbar. Aber auch bei Fliegen war bis dahin ein Ohr zur Wahrnehmung von Ultraschall unbekannt (ebenso wie eines zum Hören im menschlichen Hörbereich).
Im nächsten Schritt, bei dem ich mich den Untersuchungen anschloß, galt es also, nach einem solchen Organ zu fahnden. Allerdings wußten wir bis dahin nicht einmal genau, um welche Art von Fliegen es sich handelte. Um dies herauszufinden und uns die benötigten Studienexemplare zu beschaffen, fingen wir einfach parasitierte Heuschrecken ein und setzten sie in einem umschlossenen Bodenareal aus. Nach etwa einer Woche krochen die Larven heraus. Wie wir feststellten, hatten sie sich hauptsächlich vom Fettgewebe ihres Wirts ernährt und keine lebenswichtigen Organe zerstört. Dennoch überlebten die Heuschrecken nicht – wahrscheinlich starben sie an der relativ großen Wunde, die der Parasit erzeugte, wenn er sich durch die Cuticula (die weitgehend verhärtete Außenhülle) der Heuschrecke bohrte. Nach dem Austritt versteckten sich die Larven am Boden und verpuppten sich. Die nach 14 Tagen geschlüpften adulten Fliegen konnten schließlich als Angehörige der Art Therobia leonidei identifiziert werden, die zu den Schmarotzerfliegen zählen.
Diese Tiere tragen eine auffällige Blase an der Vorderbrust (Bild 1), die schon seit langem als taxonomisches Merkmal der Gattung Therobia genutzt wird, oh-ne daß eine Funktion bekannt gewesen wäre. Sollte es sich dabei um das gesuchte Ohr handeln? Anatomische und physiologische Untersuchungen bestätigten diese Vermutung. Die Blase ist eine luftgefüllte Erweiterung der Vorderbrust mit zwei häutigen Membranen, die direkt hinter dem Kopf liegen und in einem cuticulären Gerüst aufgespannt sind. Sie bilden gleichsam zwei Trommelfelle, die jeweils zur Mitte hin eingesenkt sind. An dieser Vertiefung setzt das eigentliche Sinnesorgan an (Bild 2).
Dabei handelt es sich um ein Skolopidialorgan, das bei Insekten weit verbreitet und nach seinen charakteristischen stiftführenden Zellen benannt ist (griechisch skolops, Dorn). Bei T. leonidei umhüllen diese Skolopidien die Dendriten (signalaufnehmenden Fortsätze) von ungefähr 200 Sinneszellen und sind über ein Anhefteband mit dem Trommelfell verbunden. Schwingungen der Membran werden so an die Sinneszellen weitergegeben und dort von Mechanorezeptoren in elektrische Impulse umgesetzt.
Wie konnte sich bei den Fliegen ein solches doch schon recht komplexes auditorisches System entwickeln? Tatsächlich befindet es sich an derselben Stelle, an der normale, nicht hörende Fliegen ein sogenanntes Chordotonal- oder Saitenorgan tragen, das gleichfalls Skolopidien enthält und auf Veränderungen in der Stellung gegeneinander beweglicher Körperteile (wie Antennen, Beinen und Rumpfsegmenten) reagiert. Um Genaueres über die Beziehung zwischen beiden Sinnessystemen zu erfahren, führte ich zusammen mit meiner Kollegin Kirsten Jacobs vergleichende neuroanatomische Untersuchungen mit dem Chordotonalorgan der Königlichen Glanzfliege Phormia regina durch. Es besteht aus ungefähr 50 Skolopidien, die im ultrastrukturellen Aufbau denen in der Hörblase von T. leonidei gleichen.
Auch in weiteren neuroanatomischen Details entdeckten wir Ähnlichkeiten. So ziehen die Axone (signalleitenden Fortsätze) der Sinneszellen ins Bauchmark der Fliegen (es entspricht dem Rückenmark der Wirbeltiere) und verzweigen sich dort an denselben Stellen wie die analogen Sinnesfasern anderer hörender Insektenarten (Heuschrecken, Grillen, Gottesanbeterinnen und Nachtschmetterlinge). Demnach haben sich die Hörorgane all dieser Insekten sehr wahrscheinlich aus Chordotonalorganen entwickelt; dies geschah offenbar unabhängig voneinander durch konvergente Evolution.
Mit physiologischen Untersuchungen prüften wir anschließend, ob das Skolopidialorgan von T. leonidei auch wirklich auf Ultraschall im fraglichen Frequenzbereich anspricht. Zunächst maßen wir mit einem Laser-Vibrometer (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, November 1995, Seite 90) die Schwingungen der Blasenmembran und fanden bestätigt, daß die größten Auslenkungen im Ultraschallbereich auftreten. Zusätzlich führte ich zusammen mit meinem Kollegen Andreas Stumpner elektrophysiologische Untersuchungen durch. Summenableitungen der elektrischen Aktivität vom Halskonnektiv (der Nervenverbindung zwischen Gehirn und Bauchmark) ergaben Reaktionen auf Luftschallreize im Frequenzbereich von 10 bis 40 Kilohertz. Deren Stärke entsprach annähernd der Kurve der größten Auslenkungen der Blasenmembran. Für einen Schalldruck von 45 Dezibel maßen wir die niedrigsten Reaktionsschwellen bei Frequenzen oberhalb von 15 Kilohertz – also genau in dem Bereich, in den das Zirpen der Laubheuschrecken fällt.
Aus unseren Meßdaten läßt sich berechnen, daß die weiblichen Fliegen ihre Wirte unter idealen Bedingungen bis 200 Meter weit hören können; die Ohren der Männchen sind dagegen viel kleiner und um 10 bis 20 Dezibel weniger empfindlich. Wozu die Männchen überhaupt ein Schallsinnesorgan haben, ließ sich noch nicht zufriedenstellend klären. Vielleicht können sie damit wie andere nachtaktive Insekten die Ortungslaute von Fledermäusen hören und den Jägern daraufhin ausweichen. Möglicherweise war das sogar die primäre Funktion des Ohres, und es wurde erst später von den Weibchen auch dazu eingesetzt, Heuschrecken für die Eiablage zu finden.
Der Hörbereich selbst sagt noch nichts darüber aus, inwieweit einzelne Parameter des Gesangs – etwa bestimmte Frequenzen oder zeitliche Strukturen – aufgelöst werden können. Um Informationen darüber zu gewinnen, registrierten wir mit feinen Glasmikroelektroden auch die elektrischen Potentiale einzelner Nervenzellen. Teils reagierten diese zwar auf Luftschallsignale – in Einzelfällen sogar innerhalb von nur fünf bis acht Millisekunden; ihre Frequenzabstimmung ähnelte aber meist der am gesamten Halskonnektiv gemessenen. Die Tiere können also offenbar keine Tonhöhen unterscheiden, was sie andererseits aber wohl auch nicht brauchen, weil die Heuschrecken ein relativ breitbandiges Signal im Ultraschallbereich aussenden.
Dagegen konnten wir bei Homotrixa alleni, einer hörenden parasitoiden Schmarotzerfliege aus West-Australien mit einem ähnlich aufgebauten Skolopidialorgan wie T. leonidei, auf einzelne Frequenzen abgestimmte Nervenzellen finden. Die von ihr hauptsächlich parasitierten Laubheuschrecken zirpen im für Menschen hörbaren Bereich bei ungefähr sechs Kilohertz. Entsprechend reagierte eine von uns abgeleitete Nervenzelle fast ausschließlich auf Töne dieser Frequenz – allerdings nur bei hohen Lautstärken; sie ist damit vielleicht für das Erkennen der Hauptwirtsart verantwortlich. Andere Nervenzellen sprachen dagegen besonders gut auf Ultraschallsignale an. Sie könnten entweder zur Detektion von Fledermäusen oder zur Ortung anderer Wirtsarten dienen. Tatsächlich fand Geoff Allen von der Universität Perth Larven der Fliege auch in zwei Laubheuschreckenspezies mit höheren Gesangsfrequenzen.
Erstaunlich ist, daß die Heuschrecken bisher kein Mittel gegen die Parasitierung entwickelt haben. Der diesbezügliche Selektionsdruck ist jedenfalls sehr hoch: Nach unseren Feststellungen sind an einigen Orten bis zu 90 Prozent aller Männchen befallen und haben möglicherweise eine verringerte Lebenserwartung (und damit schlechtere Fortpflanzungschancen).
Die ungewöhnlich tiefe Signalfrequenz der westaustralischen Laubheuschrecke könnte als eine solche Anpassung gedeutet werden: Die Männchen sind dem Hörbereich der Fliege ausgewichen. Mit ihrer tiefen Gesangsfrequenz sind sie zwar nicht völlig geschützt, aber deutlich weniger gefährdet; denn die Hörreichweite der Fliegen beträgt bei dieser Frequenz nur 15 Meter. Solche Nachrüstungsspiralen mit zwei oder mehr beteiligten Arten gibt es in der Natur in großer Zahl.
Mittlerweile haben wir in Göttingen bei einer ganz anderen Fliegengruppe ein sehr ähnliches Ohr gefunden. Es handelt sich um Fleischfliegen der Art Colcondamyia auditrix, die keine Heuschrecken, sondern Singzikaden parasitieren (die ihr Zirpen mit einem Trommelorgan erzeugen, dessen Membran sie durch Muskelkontraktionen in Schwingung versetzen, während die Heuschrecken zur Tonerzeugung nach dem Waschbrettprinzip eine verhärtete Flügelkante an einer Schrill-Leiste entlangreiben). Diese mehrfache Entstehung des Sinnesorgans in der Evolution verdeutlicht seine große Bedeutung in der Biologie dieser Tiere und unterstreicht, welche Risiken die akustische Kommunikation birgt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1997, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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