Tourette-Syndrom: Mehr als eine Bewegungsstörung
Es ist Donnerstagnachmittag in der neurologischen Ambulanz am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck, als der 20-jährige Bastian* zum ersten Mal in unsere Tourette-Sprechstunde kommt. Der junge Mann berichtet, er habe seit seiner Kindheit Tics (siehe »Kurz erklärt« S. 58) gehabt. Als wir ihn treffen, fallen vor allem seine gehäuften Mundbewegungen und ein Augenverdrehen auf. Über die Jahre, so sagt er, hätten sich seine Tics verändert. Früher hätte er zum Beispiel vermehrt seine Nase gerümpft, was er aktuell kaum noch tut. Außerdem erzählt uns Bastian, dass er kurz vor den unwillkürlichen Bewegungen immer eine Art Druck verspüre, genau an der Stelle, wo der Tic gleich auftreten würde. »Wenn ich den Tic unterdrücke, wird dieses Gefühl nur größer«, erläutert er. Es gelingt ihm zwar öfter, ihn hinauszuzögern, doch es fühlt sich sehr unangenehm an.
Was Bastian berichtet, hören wir häufig von unseren Patientinnen und Patienten. Das drückende Gefühl vor einem Tic, das er beschreibt, nennt sich in der Fachwelt »urge« (englisch für Drang, auf Deutsch auch Vorgefühl). Ein solches ist beim Tourette-Syndrom sehr typisch, besonders bei älteren Betroffenen. Während lediglich eines von vier erkrankten Kindern es bemerkt, sind es unter den Jugendlichen bereits mehr als die Hälfte. Neun von zehn erwachsenen Patienten kennen den Drang.
Manche empfinden ihn wie Bastian als Druck, andere als lokale Wärme, als Spannungsgefühl, als Taubheit oder als ein Kribbeln. Teilweise beschreiben Menschen mit Tourette auch ein Unruhegefühl oder Angst als Vorboten. Wenn sie Tics kurzzeitig unterdrücken, steigt der Drang an, und die nachfolgenden Tics sind oft schwerer ausgeprägt. Typischerweise ebbt das Vorgefühl vorübergehend wieder ab…
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