Tumortherapie mit Ionenstrahlen
Schnelle Protonen oder andere geladene Teilchen geben ihre Energie im Körper konzentrierter ab als Röntgen- oder Gammaquanten. Dadurch eignen sie sich besonders zur Bekämpfung von Tumoren. Richtig gesteuert, schädigen sie hauptsächlich die Geschwulst, während das umgebende gesunde Gewebe geschont wird. Dies bringt wesentliche Vorteile wie geringere Nebenwirkungen, schnellere Heilung und weniger Spätkomplikationen.
Die Idee der Ionenstrahltherapie ist überraschend alt. Schon vor fast 50 Jahren äußerte der amerikanische Astrophysiker Robert W. Wilson (Physik-Nobelpreis 1978) die Vermutung, daß sich schnelle Ionen besonders gut für die präzise und lokal begrenzte Bekämpfung von Tumoren eignen müßten. Ringbeschleuniger, mit denen sich geladene Teilchen auf die nötigen hohen Energien bringen ließen, hatte sein Landsmann Ernest O. Lawrence (1901 bis 1958; Physik-Nobelpreis 1939) bereits 1929 konzipiert und seit 1930 gebaut.
Dieser gründete 1936 das Lawrence-Berkeley-Laboratorium in Berkeley (Kalifornien) als Zentrum zur Erzeugung und Erforschung von Ionenstrahlen. Dort begann Ende der vierziger Jahre dann sein Bruder John, angeregt von Wilsons Idee, auch die medizinischen Anwendungsmöglichkeiten zu erkunden. Mit seinem Team untersuchte er die physikalischen und biologischen Eigenschaften von schnellen Protonen, Deuteronen (Ionen des schweren Wasserstoffs) und Heliumkernen. Von 1954 an bestrahlte er Patienten mit Protonen, und ab 1957 setzte er auch Heliumkerne und noch schwerere geladene Teilchen ein. Zu seinen ersten Erfolgen gehörte, die Funktion der Hypophyse ohne chirurgischen Eingriff teilweise oder gänzlich aufzuheben; eine gestörte Sekretion oder eine Wucherung dieser etwa kirschgroßen Drüse an der Hirnbasis kann eine Reihe von Hormonerkrankungen auslösen.
Ab 1957 untersuchten der Physiker Börje Larsson und der Strahlentherapeut Sten Graffman am Teilchenbeschleuniger in Uppsala (Schweden) die Wirkung von Protonenstrahlung bei Patienten mit chronischen Schmerzen oder mit Schüttellähmung (Parkinson-Krankheit). In den sechziger Jahren dehnten sie ihr Programm auf die Behandlung von tiefliegenden Tumoren aus. In diesem und dem folgenden Jahrzehnt wurde auch an einer Reihe von anderen Beschleunigeranlagen in den USA, Rußland und schließlich Japan mit Bestrahlungen von Patienten begonnen.
Dennoch litt die Ionenstrahltherapie jahrzehntelang unter dem Dilemma, eine Nebenanwendung von Beschleunigern der Kern- und Hochenergiephysik zu sein, die nur gelegentlich, soweit es ihre eigentliche Aufgabe nicht beeinträchtigte, auch für biologische oder medizinische Forschungen zur Verfügung standen. Zudem strebten die Physiker nach immer höheren Energien, und die entsprechend aufgerüsteten Maschinen waren dann nicht mehr ohne weiteres für therapeutische Zwecke geeignet.
Erfahrung ließ sich mithin nur sehr langsam sammeln. Dennoch waren bis zu den achtziger Jahren einige tausend Patienten behandelt worden – viele mit beeindruckendem Erfolg. So schien der Bau einer rein therapeutisch genutzten Anlage sogar für einen Privatinvestor vertretbar.
Diesen Schritt wagte schließlich das Loma Linda University Medical Center (Kalifornien). Es lud im Januar 1985 ungefähr 100 Physiker, Ingenieure, Biologen und Mediziner zu einem Treffen im Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab) bei Chicago ein, um ein Konzept für die erste Anlage ausschließlich für klinische Protonentherapie zu entwerfen. Die Religionsgemeinschaft der Sieben-Tage-Adventisten, Träger des Klinikums in Loma Linda, stiftete die 60 Millionen Dollar für das Projekt, und fünf Jahre später konnte die Anlage schließlich in der ersten Ausbaustufe den Betrieb aufnehmen.
Physikalisch-biologischer Hintergrund
Was sind nun die besonderen Vorteile der Tumortherapie mit schnellen Ionen, und worauf beruhen sie? Zwar ist der grundlegende Wirkungsmechanismus der gleiche wie bei anderen Strahlungsformen: Die Strahlen interagieren mit dem Körpergewebe, das sie durchdringen, und schädigen es dabei. Art und Verlauf dieser Wechselwirkung unterscheiden sich jedoch in wesentlichen Punkten.
So durchquert ein schnelles Proton anders als die Photonen der Röntgen- oder Gammastrahlen den Körper auf einer praktisch schnurgeraden Bahn. Wohl kollidiert es wiederholt mit den Elektronen von Molekülen, die es dadurch anregt oder ionisiert. Wegen seiner fast 2000fach größeren Masse wird es bei den Zusammenstößen aber jeweils nur leicht abgebremst und wenig abgelenkt.
Der zweite, noch wichtigere Unterschied ist, daß die Zahl der Zusammenstöße von der Geschwindigkeit der Protonen abhängt. Zu Beginn sind sie noch zu schnell, um intensiv mit dem Gewebe zu wechselwirken, so daß sie nur wenige Ionenpaare erzeugen. Erst wenn sie langsam genug geworden sind, kollidieren sie häufig und kommen dann sehr rasch zum Stillstand.
Schnelle Ionen verhalten sich damit genau umgekehrt wie die masselosen Röntgen- oder Gammaquanten (Photonen) oder die ungeladenen Neutronen, die einen Großteil ihrer Energie bereits kurz nach Eintritt in den Körper verlieren und mit wachsender Eindringtiefe den Rest kontinuierlich abgeben. Diese Strahlungsarten haben deshalb keine genau begrenzte Reichweite. Dagegen kann man die Eindringtiefe von Ionenstrahlen über die Anfangsenergie präzise steuern. Dadurch aber läßt sich die schädigende Wirkung weitgehend auf den Tumor konzentrieren; gesundes Gewebe davor wird nur wenig belastet, und Strukturen dahinter bleiben völlig verschont (Bild 2). Es ist darum nicht überraschend, daß der Heilungsprozeß nach Ionenbestrahlung oft schneller verläuft und die bei konventioneller Strahlentherapie gefürchteten Nebenwirkungen und Spätkomplikationen seltener auftreten.
Beide positiven Effekte – geringe Ablenkung und lokal begrenzte Energieabgabe – sind theoretisch um so ausgeprägter, je schwerer die Ionen sind, so daß beispielsweise Helium eine noch präzisere Bestrahlung ermöglichen sollte als Wasserstoff. Dies ließ sich jedoch therapeutisch bisher kaum ausnutzen, weil die Präzision eines Protonenstrahls (seitliche Streuung von ungefähr 5 und Reichweitenstreuung von rund 1 Prozent der mittleren Eindringtiefe) ohnehin schon im Bereich der Auflösung der üblichen Röntgendiagnostik lag.
Außerdem tendieren schwerere Ionen zum Zerfall durch Kernreaktionen, so daß zum Beispiel aus Neon sämtliche leichteren Elemente vom Fluor, Sauerstoff und Stickstoff bis hinunter zum Wasserstoff entstehen können. Diese Sekundärteilchen haben eine größere Reichweite und heben dadurch den positiven Effekt des steileren Dosisabfalls wieder auf.
Ebenso ungewiß in seiner praktischen Bedeutung ist ein weiterer theoretischer Vorteil der schweren Ionen. Modellstudien mit Einzelzellen haben ergeben, daß der Erfolg einer Bestrahlung mit Protonen (ebenso wie mit Röntgenstrahlung) davon abhängt, wie alt die Zellen sind, in welcher Phase des Vermehrungszyklus sie sich befinden oder wie gut ihre Sauerstoffversorgung ist. Beim Beschuß mit schwereren Ionen – etwa vom Kohlenstoff an – wirken sich solche äußeren Faktoren hingegen nicht mehr sonderlich aus. Je höher nämlich die Ordnungszahl der Teilchen, desto größer ist ihre Ionisierungsdichte, das heißt: desto mehr Energie geben sie auf einmal auf kleinem Raum ab. Getroffene Zellen gehen an dieser geballten Ladung meist zugrunde, während sie den Schaden durch ein einzelnes Proton oder Photon oft noch verkraften oder reparieren können.
Dem steht jedoch gegenüber, daß bei Neon und noch schwereren Ionen die biologische Wirksamkeit auch im vorderen Eintrittskanal erhöht ist, wodurch gesundes Gewebe gleichfalls geschädigt werden kann. Zudem ließen sich nicht alle an Zellkulturen festgestellten Unterschiede zwischen Protonen und schwereren Ionen in Berkeley auch klinisch bestätigen, was allerdings vielleicht daran lag, daß die Anlage dort nur bedingt für therapeutische Zwecke geeignet war und nicht alle physikalischen und biologischen Besonderheiten schneller Ionen nutzte.
Klinische Ergebnisse und Anwendungsgebiete
Bei einer Bewertung der bisherigen Erfahrungen mit der Ionenstrahltherapie ist zu bedenken, unter welch ungünstigen Bedingungen sie sich entwickelt hat. Die meisten der weltweit 16 Einrichtungen verwenden Zyklotronbeschleuniger aus den vierziger und fünfziger Jahren, die von den Physikern aufgegeben wurden, weil sie für deren Zwecke nicht mehr ausreichten, und sich mit geringem Aufwand umwidmen ließen. Einige davon liefern Protonen im Energiebereich um 60 bis 70 Millionen Elektronenvolt (MeV), was einer Reichweite im Körper von nur drei bis vier Zentimetern entspricht. Dies schränkt die Behandlungsmöglichkeiten deutlich ein.
So erklärt sich, daß der Schwerpunkt auf der Behandlung von Augentumoren lag. Da Bestrahlungen des Auges ambulant durchgeführt werden können und mit nur vier bis sechs Sitzungen von wenigen Minuten Dauer auch zeitlich wenig aufwendig sind, ist die Einrichtung eines entsprechenden Therapieplatzes unproblematisch und selbst in einem kernphysikalischen Umfeld ohne klinische Infrastruktur möglich.
Bei der Therapie von Augentumoren hat sich die Protonenstrahlgruppe am Zyklotron der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) hervorgetan. Gemeinsam mit der Augen- und Ohrenklinik des Staates Massachusetts und des Massachussetts General Hospital in Boston hat sie seit 1961 etwa 6500 Patienten behandelt, was fast 40 Prozent aller Ionenstrahltherapien weltweit entspricht. Rund 2000 Fälle betrafen Melanome der Aderhaut: der blutgefäßreichen Schicht unter der Netzhaut, die diese mit Nährstoffen versorgt (Bild 1).
Die Protonenstrahltherapie solcher Geschwülste gilt unter Fachleuten inzwischen als einer der größten Erfolge der Onkologie und der modernen Augenheilkunde. In fast allen Fällen ließ sich das Tumorwachstum dauerhaft unterbinden: In 95 Prozent war auch nach sieben Jahren keine Geschwulst am Auge mehr feststellbar. Neun von zehn Patienten konnten das bestrahlte Auge behalten, und über die Hälfte sah nach der Behandlung zumindest gleich gut oder sogar besser als vorher. Auch war die Langzeitüberlebensrate nicht geringer als bei Patienten, denen der gesamte Augapfel entfernt worden war; demnach birgt das Verfahren nicht etwa, wie ursprünglich befürchtet, ein erhöhtes Metastaserisiko.
Ein zweiter Schwerpunkt der Ionenstrahltherapie am Harvard-Zyklotron betraf Tumoren in unmittelbarer Nähe des Hirnstamms, der Schädelbasis und der Halswirbelsäule. Sie sind oft inoperabel oder nur unvollständig zu entfernen. Die unmittelbare Nähe zu Rückenmark und Hirn macht auch die konventionelle Strahlentherapie schwierig. Um das Nervengewebe nicht zu schädigen, muß man unter Umständen mit einer relativ niedrigen Dosis arbeiten und das Risiko erneuten Tumorwachstums in Kauf nehmen.
Herman Suit, John Munzenrider und ihre Kollegen vom Massachussetts General Hospital haben bei der Behandlung von Knorpelgeschwülsten (Chondrosarkomen) an der Schädelbasis große Erfahrung gesammelt. Unter 130 Patienten fand sich bei 127 während einer Nachbeobachtungszeit von fünf Jahren keinerlei Anzeichen von Krebs. Zwar gab es auch zwei therapiebedingte Todesfälle und zehn Fälle von schweren Hirnverletzungen und Erblindung, doch hätte bei konventioneller Behandlung keiner der Patienten eine realistische Überlebenschance gehabt.
Chordome der Schädelbasis stellen ähnlich hohe therapeutische Anforderungen. Es sind sehr seltene Tumoren, die sich histologisch vom embryonalen Vorläufer der Wirbelsäule ableiten. Nach konventioneller Röntgenbestrahlung ist bei etwa zwei Drittel der Patienten nach drei Jahren der Tumor nachgewachsen. Mit Protonentherapie hielt das Bostoner Team dagegen die Rückfallquote bei nur 25 Prozent.
Ähnlich erfolgreich war man am Lawrence-Berkeley-Labor bei der Behandlung von Hirnstammtumoren. In ungefähr 70 Prozent der Fälle gelang es, das primäre Tumorwachstum mindestens fünf Jahre unter Kontrolle zu halten. Ernsthafte Komplikationen wie Verlust des Augenlichts, Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung und Störungen der Drüsenfunktion gab es trotz der ausgesprochen schlechten Voraussetzungen des Patientenkollektivs nur selten.
Sowohl in Boston als auch in Berkeley erlitten von einer kleinen Gruppe von Patienten mit Hirnhauttumoren weniger als 20 Prozent Rückfälle. Derzeit läuft in den USA eine vergleichende Studie, in der dieses sehr gute Resultat an einer größeren Anzahl von Erkrankten überprüft werden soll. Auch von 17 als unheilbar eingestuften Patienten mit Weichteil- und Knochensarkomen – solche Kranke, denen Standardtherapien nicht mehr helfen, wählt man für die erste Phase klinischer Erprobung – lebten nach Behandlung mit Neon-Ionen immerhin sieben noch nach fünf Jahren.
Blieb die Ionenstrahltherapie anfangs weitgehend auf solche sehr seltenen Tumoren im Kopf- und Nackenbereich beschränkt, so wurde sie in letzter Zeit auch bei weitaus häufigeren Geschwülsten in anderen Körperteilen angewandt – in Boston und Loma Linda zum Beispiel beim Prostatakarzinom, der nach Lungenkrebs häufigsten Tumorerkrankung amerikanischer und europäischer Männer.
Auch hier sind die ersten Ergebnisse ermutigend. So konnte die Strahlendosis im Tumor mit Protonen im Vergleich zu Röntgenstrahlen um ein Fünftel gesteigert werden, ohne daß vermehrt Nebenwirkungen wie Blasen- und Darmschädigungen auftraten. In rund 90 Prozent der Fälle waren die Tumoren nach fünf Jahren nicht nachgewachsen. Ein gleich gutes Ergebnis erbringt nur die modernste Mehrfeld-Röntgenbestrahlung, die sich aber auch erst im Experimentierstadium befindet und dem Gros der Prostatapatienten (jährlich mehr als 20000 allein in Deutschland) bisher nicht zur Verfügung steht.
Hirohiko Tsujii, der das Protonentherapieprogramm in Tsukuba (Japan) leitet und seit kurzem zusätzlich Direktor am neuen Schwerionen-Therapiezentrum in Tschiba ist, hat sich als erster an Tumoren von Lunge, Speiseröhre und Leber gewagt. Lungenkrebs ist in Japan die zweithäufigste Tumorart bei Männern, und Leber- und Speiseröhrenkrebs, die in den westlichen Industrieländern relativ selten sind, stehen dort an dritter beziehungsweise fünfter Stelle in der Häufigkeitsstatistik für Männer. Allen drei Tumorarten ist mit Standardmethoden kaum beizukommen. Strahlentherapeutisch stellen sie höchste Anforderungen; denn die Organe in Brust- und Bauchraum bewegen sich beim Atmen oder ändern mit der Körperlage ihre Form.
Aus diesem Grunde wurde in Tsukuba eine spezielle Steuerung für atmungskontrollierte Bestrahlungen entwickelt. Ein Dehnungsmeßgerät registriert die Bewegungen der Bauchdecke und schaltet den Protonenstrahl immer nur während einer bestimmten Atmungsphase an. Die Bestrahlung dauert dadurch zwar etwa doppelt so lange, aber der Saum an gesundem Gewebe um das eigentliche Zielvolumen, der zur Sicherheit mitbestrahlt werden muß, konnte von 20 auf 5 Millimeter reduziert werden.
An Bedeutung verloren hat in den vergangenen Jahren die Ionenstrahlchirurgie, bei der eine unerwünschte Struktur mit einmaliger intensiver Bestrahlung – ähnlich wie bei einer Operation mit dem Skalpell – vollständig entfernt wird.
Die Behandlung von Hypophysentumoren, die den Beginn der Protonenstrahltherapie in Berkeley markierte, ist heute nur noch in Rußland üblich. In den westlichen Ländern entfernt man diese kleinen, gutartigen Tumoren inzwischen chirurgisch oder mit dem sogenannten Gammaknife, einem Bestrahlungsapparat mit mehreren Cobalt-60-Gammaquellen, der speziell für die Behandlung lokaler Störungen im Kopfbereich entwickelt wurde.
Dagegen werden immer noch arteriovenöse Mißbildungen mit Protonenstrahlen entfernt. Zwar lassen sich kleine, rundliche Ausprägungen dieser oft angeborenen Gefäßfehlbildungen im Hirn auch mit dem Gammaknife oder mit verwandten Photonentechniken eliminieren. Wenn das kurzgeschlossene Adernetz aber Faustgröße erreicht oder eine sehr komplizierte Geometrie aufweist, ist der Protonenstrahl weitaus besser geeignet.
Fortschritte bei den bildgebenden Verfahren lassen freilich erwarten, daß die Strahlenchirurgie mit Protonen wieder an Interesse gewinnt. Denn mit ihr kann man die hohe Auflösung anatomischer Strukturen und die bessere Unterscheidung zwischen normalem und entartetem Gewebe therapeutisch voll umsetzen.
Technische Voraussetzungen
Erst zwei Ionenstrahltherapie-Einrichtungen – in Loma Linda (seit 1990) und in Tschiba (seit 1994) – sind von vornherein für die klinische Nutzanwendung konzipiert worden und nicht aus physikalischen Beschleunigerzentren hervorgegangen. Immerhin bemüht man sich inzwischen immer öfter, bei der Planung von Forschungsbeschleunigern für die Physiker auch mögliche medizinische Anwendungen zu berücksichtigen. Daraus ergibt sich eine Reihe von Anforderungen.
So sollte die Reichweite der Ionenstrahlung zwischen zwei Zentimetern und fast Körperdurchmesser variierbar sein, damit großvolumige Geschwülste im Bauchraum ebenso zugänglich sind wie Tumoren am Auge. Gemeinhin gelten 40 Zentimeter Maximalreichweite als wünschenswert und 32 Zentimeter als ausreichend, um etwa 95 Prozent aller potentiellen Patienten behandeln zu können. Ferner sollten Strahlführungssystem und Beschleuniger so ausgelegt sein, daß man auch ausgedehnt wachsende Tumoren (zum Beispiel Speiseröhrenkrebs oder Weichteiltumoren) bestrahlen kann, ohne die Lage des Patienten zu verändern. Dazu muß das Bestrahlungsfeld bis zu 40 Zentimeter Durchmesser haben.
Wünschenswert sind schließlich hohe Dosisraten (ein bis zwei Gray pro Minute), um kurze Bestrahlungszeiten zu ermöglichen. Sie werden körperlich und psychisch besser verkraftet und sind auch wirtschaftlicher. Außerdem ist die Gefahr geringer, daß sich die Lage des Tumors durch Bewegungen des Patienten oder der Organe während des Ionenbeschusses verschiebt.
Dies alles ist möglichst bereits bei der Wahl des Beschleunigers zu berücksichtigen. Außer Zyklotrons, den am längsten bekannten und einfachsten Geräten, kommen inzwischen auch Synchrotrons und Linearbeschleuniger in Frage (Bild 3). Bei Zyklotrons werden die Ionen mitten zwischen zwei halbkreisförmige hohle Elektroden injiziert und durch ei-ne hochfrequente Wechselspannung zwischen ihnen beschleunigt. Ein konstantes äußeres Magnetfeld sorgt dafür, daß sie sich, während ihre Energie zunimmt, auf Spiralbahnen nach außen bewegen, bis sie durch eine Ablenkelektrode ausgefädelt werden. In Synchrotrons zwingt man die Ionen durch Magnetfelder auf eine vorgegebene ringförmige Bahn, während die Teilchen in Linearbeschleunigern durch hochfrequente elektrische Wechselfelder auf gerader Strecke beschleunigt werden.
Aus der klinischen Forderung nach 32 Zentimetern Eindringtiefe ergibt sich, daß die Energie eines Protonenstrahls mindestens 250 MeV betragen muß, wenn man zur Kompensation von Streuverlusten im Strahlführungssystem und an der Luft noch 10 Prozent Reserve einkalkuliert. Für Kohlenstoff- und Neonstrahlen liegen die entsprechenden Werte bei 450 beziehungsweise 620 MeV pro Teilchen.
Protonen mit einer Energie von 250 MeV lassen sich mit allen drei Beschleunigertypen erzeugen; für medizinische Zwecke geschieht das bisher aber nur mit Zyklotrons und Synchrotrons. Für schwerere Ionen, die wegen ihrer größeren Masse hohen Fliehkräften ausgesetzt sind, kommt ein Zyklotron jedoch allenfalls in Betracht, wenn es mit supraleitenden Magneten ausgestattet ist, die genügend hohe Feldstärken erreichen.
Außer der erzielbaren Maximalenergie ist die Möglichkeit der Energieabstufung ein wesentliches Kriterium. Bei schichtweiser Bestrahlung eines Tumors beginnt man sinnvollerweise am tiefsten Punkt und geht nach und nach zu kürzeren Eindringtiefen, das heißt geringeren Energien, über. Reichweitenabstufungen von fünf Millimetern entsprechen Energieschritten von 3 bis 5 MeV.
Bei Zyklotrons läßt sich die Teilchengeschwindigkeit nur dadurch verringern, daß man Kunststoffscheiben in den Strahlgang einbringt; dieses heute gängige Verfahren beeinträchtigt jedoch Intensität und Qualität des Strahls.
Bei modernen Synchrotrons läßt sich dagegen die Energie und damit die Reichweite ohne weiteres um 2 bis 5 Prozent abstufen. Schwierigkeiten bereitet nur, die Reduktionsschritte genau im Sekundentakt zu steuern. Bei der Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) in Darmstadt steht eine praktikable Lösung allerdings kurz vor dem Einsatz.
Das Bestrahlungsfeld wird auf einfache Weise groß genug, wenn man den Strahl mit magnetischen Linsen aufweitet und den Patienten entsprechend weit von der Austrittsstelle entfernt. Dies ist das übliche Verfahren. Statt dessen kann man aber auch – wie beim Erzeugen eines Fernsehbildes – einen feinen Strahl zeilenweise auslenken. Diese Rastermethode steht erst kurz vor der klinischen Erprobung. Aller Erfahrung nach dürfte sie jedoch deutliche Vorteile bieten; denn die bestrahlte Fläche läßt sich dabei genau den Umrissen des Tumors anpassen, was den Anteil gesunden Gewebes, der notgedrungen mit erfaßt wird, auf ein Minimum reduziert (Bild 4).
Die Rasterung stellt besondere Anforderungen an die Qualität des vom Beschleuniger gelieferten Strahls. Er sollte möglichst gleichförmig und zeitlich konstant sein oder in gleichartigen, nicht zu kurzen Pulsen ankommen. Ein Zyklotron, das über lange Zeit einen homogenen Ionenstrom ohne nennenswerte Pulsationen erzeugen kann, wird dem am ehesten gerecht. Ein Synchrotron liefert dagegen gepulste Strahlen mit Taktraten von 0,1 bis zu einigen Sekunden. Ähnliches gilt für den Linearbeschleuniger; allerdings dauern die Pulse hier lediglich Millisekunden, und die nachfolgenden Pausen sind oft zehnmal so lang. Bei dieser Zeitstruktur ist es schwer, den Strahl im vorgegebenen Zeitraster von Punkt zu Punkt im Bestrahlungsfeld zu bewegen und die lokale Dosis genau genug zu bestimmen.
Die Debatte, welcher Beschleunigertyp sich am besten für die Ionenstrahltherapie eigne, ist noch nicht abgeschlossen. Die meisten Erfahrungen gibt es mit Zyklotrons. Synchrotrons haben den Vorteil, daß sich die Strahlgeschwindigkeit leicht variieren läßt; dafür ist die Strahlintensität begrenzt. Linearbeschleuniger schließlich bieten zwar ein sehr günstiges Preis-Leistungs-Verhältnis, gelten vielfach aber nicht als ausgereift für diese Anwendung. Vermutlich werden die verschiedenen Systeme also noch einige Zeit nebeneinander existieren.
Strahlzuführung
Die meisten Zentren für Ionenstrahltherapie verfügen bisher nur über waagrecht fixierte Strahlzuführungen – auch das ein Erbe ihrer Herkunft aus physikalischen Labors, in denen diese einfache und kostengünstige Anordnung vorherrscht. Medizinisch ist es jedoch günstiger, wenn sich der Bestrahlungswinkel frei wählen und variieren läßt. In der konventionellen Strahlentherapie sind Bestrahlungsköpfe, die kreisförmig um den Patienten rotieren, inzwischen Standard. Solche isozentrischen Strahlführungen – auch Gantries genannt – erfordern bei schnellen Ionen allerdings viel mehr Platz und wurden aus technischen und finanziellen Gründen lange nicht realisiert.
Am Zentrum in Loma Linda gibt es aber mittlerweile drei Therapieplätze mit isozentrischer Strahlführung von etwa zehn Meter Durchmesser. Die erste kompakte Anlage für Protonenstrahlen mit nur vier Metern Durchmesser wird demnächst am Paul-Scherrer-Institut in Villigen (Schweiz) in Betrieb genommen (Bild 5). Für schwerere Ionen wie Kohlenstoff oder Neon wäre allerdings auch unter günstigen Bedingungen mindestens der doppelte Durchmesser zu veranschlagen. Deshalb gibt es im Schwerionenzentrum Tschiba pro Behandlungsplatz nur je einen horizontalen und einen vertikalen Strahl, und man versucht, durch vielfach verstellbare Patientenstühle und -tische die Einschränkungen bei der Wahl des Bestrahlungswinkels möglichst gering zu halten.
In Berkeley hat man sich bis zur Stilllegung der Anlage im Jahre 1992 damit beholfen, den sitzenden Patienten vor dem waagerechten Strahl zu drehen. Für Bestrahlungen im Schädel ist das kein Problem. Bei Behandlungen im Rumpf ergeben sich allerdings Schwierigkeiten daraus, daß kommerziell erhältliche Computer- und Magnetresonanztomographen die Patienten im Liegen durchleuchten. Die resultierenden Bilder aber lassen sich nicht für die Bestrahlungsplanung in sitzender Position benutzen, weil sich mit der Körperhaltung auch Lage und Form der Organe im Brust- und Bauchraum ändern. In Berkeley umging man das Problem mit einem speziell angefertigten Computertomographen für Aufnahmen in sitzender Position, der aber viermal so teuer wie ein reguläres Gerät war; außerdem konnte man unter diesen Umständen nie auf Daten aus anderen Kliniken zurückgreifen oder zusätzlich Magnetresonanz-Aufnahmen heranziehen.
Wichtig ist es, die Bestrahlung genau zu überwachen. Zahlreiche Detektoren, die über das gesamte System verteilt sind, analysieren mehrfach unabhängig voneinander die Qualität des Strahls und überprüfen, ob Parameter wie seine Energie, Intensität und Richtung mit den Planungsdaten übereinstimmen. Vor allem muß die Dosis exakt gemessen werden – und zwar an möglichst vielen Stellen gleichzeitig, zumindest jedoch in unmittelbarer Nähe strahlungsempfindlicher Strukturen; sobald der aufsummierte Betrag den Sollwert erreicht hat, ist die Sitzung zu beenden.
Ein gerasterter Strahl stellt in dieser Hinsicht noch höhere Anforderungen. Hochgenaue Meßgeräte müssen Bildpunkte von wenigen Millimetern Durchmesser auflösen und die Dosis in jedem Bildpunkt auf mindestens 2 Prozent genau bestimmen.
Für das korrekte Zusammenspiel aller Komponenten sorgt ein computergestütztes Steuerungssystem. Es überwacht und regelt die eingegebenen Parameter vor und während einer Sitzung, prüft die Funktion aller Einzelsysteme, reguliert die Strahlform, meldet Störungen und beendet die Sitzung regulär oder durch Notabschaltung. Alles in allem muß die Anlage weit sicherer, zuverlässiger und leichter zu bedienen sein als ein rein physikalisch genutzter Beschleuniger.
Behandlungsplanung
Große Bedeutung für den Erfolg haben die computergestützte Therapieplanung und die bildgebende Diagnostik. Deren begrenzte Leistungsfähigkeit war lange Zeit der Hauptgrund dafür, daß sich die prinzipiellen Vorzüge von Ionenstrahlen medizinisch nur ungenügend umsetzen ließen. Bei einem Ionenstrahl wird die Dosisverteilung sehr viel stärker durch Inhomogenitäten im Körper, wie Lufträume und Knochen sie hervorrufen, beeinflußt als bei Röntgenstrahlung. Präzisionsbehandlungen erfordern deshalb die genaue Kenntnis der Gewebedichte im zu bestrahlenden Volumen.
Nun haben sich Qualität und Leistungsfähigkeit der bildgebenden Verfahren in den letzten beiden Jahrzehnten enorm gesteigert. Den Anfang machte 1972 die Computertomographie, die Anomalien von wenigen Millimetern aufzulösen vermag und zum Standard in der Tumordiagnose geworden ist. Inzwischen hat sich aber auch die weniger belastende Magnetresonanz-Tomographie vor allem bei der Identifizierung und dreidimensionalen Darstellung von Weichteil- und Gefäßgeschwülsten als hochauflösendes Routineverfahren etabliert. Ultraschall, Angiographie und Positronenemissionstomographie (PET) kommen für ergänzende Spezialuntersuchungen sowie für Kontrollaufnahmen in Betracht.
Für Hirntumoren und die meisten Geschwülste im Rumpfbereich müssen allerdings zusätzlich metallische Marker chirurgisch implantiert werden, die als innere Bezugssysteme zum Abgleich einzelner tomographischer Aufnahmen und als Hilfsmittel bei der millimetergenauen Positionierung der Patienten dienen. Bei beweglichen Strukturen wie den inneren Organen sind die Daten für die Therapieplanung unter den gleichen Bedingungen zu erheben, unter denen dann bestrahlt wird.
Kein bildgebendes Verfahren ermöglicht indes, die Grenze zwischen gesundem und tumorösem Gewebe zweifelsfrei festzulegen, zumal die Entartung eine zelluläre Eigenschaft ist, die vielerlei Erscheinungsformen hat. Eine größere Zahl von Einzelschichtaufnahmen hilft zwar, die dreidimensionale Gestalt eines Tumors genauer zu ermitteln; zugleich nehmen aber auch Datenflut und Dauer ihrer Verarbeitung zu. Automatische Verfahren zur Ermittlung der Tumorgrenzen und zur Kennzeichnung kritischer Strukturen sind erst in der Entwicklung. Bislang müssen die Schichtaufnahmen noch einzeln manuell ausgewertet werden. Die Definition des Zielvolumens ist somit trotz des Einsatzes schneller Rechner ein sehr zeitaufwendiger Schritt der Therapieplanung.
Zuverlässiger kann der Umriß einer Geschwulst unter Umständen dadurch erkannt werden, daß man Datensätze verschiedener diagnostischer Verfahren kombiniert. In der Praxis erweist es sich jedoch als überraschend schwierig, jeweils Bilder identischer Schichten aufzunehmen und zu überlagern. Zur Sicherheit wird darum immer ein gewisser Saum um das Tumorgewebe in die Bestrahlung mit einbezogen.
Ist das Zielvolumen schließlich bestimmt, optimiert man die genauen Bestrahlungskonditionen durch Simulation am Computer. Dabei wird die Verteilung der Strahlendosis auf den Tumor und die benachbarten Strukturen dreidimensional für verschiedene Strahlwinkel, Feldgrößen, Ionenenergien und so weiter errechnet (Bild 6). Aus den resultierenden Dosis-Volumen-Histogrammen läßt sich abschätzen, wie weit man die Strahlendosis im Tumor steigern darf, ohne gesundes Gewebe übermäßig zu belasten.
Die wichtigsten Behandlungszentren
Vom technischen Stand bietet das Zentrum in Loma Linda gegenwärtig die besten Therapiemöglichkeiten. Es ist seit kurzem voll ausgebaut und verfügt jetzt über vier Behandlungsräume mit insgesamt fünf Therapieplätzen. An sechs Tagen in der Woche werden jeweils etwa 100 Patienten bestrahlt, gut die Hälfte wegen Prostatakarzinomen. Zusätzlich stehen drei Strahlplätze für Forschungszwecke zur Verfügung. Einen möchte jetzt sogar die amerikanische Luft- und Raumfahrtbehörde NASA nutzen, um die biologische Wirkung des Sonnenwinds zu studieren, dem Astronauten ausgesetzt sind. Mit drei weiteren Einrichtungen zur Ionenstrahltherapie führen die USA auch bei der Zahl der Anlagen (Bild 7).
An zweiter Stelle steht Rußland. An den Kernphysik-Laboratorien in Moskau, Dubna und St. Petersburg konnten sich Strahlentherapeuten schon früh etablieren; innerhalb von fast drei Jahrzehnten wurden rund 4000 Patienten behandelt, zumeist allerdings strahlenchirurgisch.
Als nächstes folgen Japan und Frankreich. In Japan ist das erwähnte neue Zentrum am Nationalinstitut für Strahlungswissenschaften in Tschiba besonders großzügig und modern ausgestattet. Außerdem dient es als derzeit einzige Anlage auf der Welt speziell der Therapie mit schwereren Ionen. Aufbauend auf den seinerzeit in Berkeley erzielten Ergebnissen wird man zunächst langsam wachsende, gegen Röntgenstrahlen resistente Tumoren wie fortgeschrittenes Prostatakarzinom, Knochen- und Weichteilsarkome sowie Speicheldrüsen- und Nebenhöhlenkrebs behandeln.
In Westeuropa sind am Paul-Scherrer-Institut bisher die meisten Patienten therapiert worden: rund 1800 in den letzten zwölf Jahren. Sie alle litten an Augentumoren. Demnächst wird zusätzlich ein 200-MeV-Therapieplatz für tiefliegende Geschwülste zur Verfügung stehen und als zweiter in der Welt mit einer isozentrischen Strahlführung ausgestattet sein. Weitere Besonderheiten sind ein Rastersystem, das tumorkonforme Bestrahlungen ermöglichen soll, sowie die Verwendung von Protonen zur diagnostischen Durchleuchtung (Radiographie) und zur exakten Ermittlung der Reichweite.
Damit greift das Schweizer Institut einen Ansatz auf, der wegen der begrenzten Verfügbarkeit von Protonenstrahlen lange Zeit vernachlässigt wurde. Monoenergetische Ionenstrahlen reagieren viel empfindlicher auf Dicke- oder Dichteschwankungen als Photonen, die in Computertomographen oder beim Röntgen als Abbildungsmedium dienen. Sie eignen sich somit besonders gut zur Darstellung von Inhomogenitäten in Weichteilgewebe und sind weniger belastend als Röntgenstrahlen; schließlich verliert ein Protonenstrahl den größten Teil seiner Energie erst kurz bevor er zur Ruhe kommt, und dieser Punkt liegt bei einer Durchstrahlung außerhalb des Körpers im Detektor.
Mit der Protonenradiographie läßt sich die optimale Patientenposition gleichsam aus der Sicht des Strahls selbst ermitteln und die Reichweite der Protonen in der Nähe empfindlicher, dosisbegrenzender Strukturen direkt im Körper messen. Schwierigkeiten bereitet zur Zeit allerdings noch die zeitaufwendige Bildrekonstruktion.
Noch in diesem Jahr werden an dem neuen Therapieplatz des Paul-Scherrer-Instituts voraussichtlich die ersten Patienten behandelt. Seine technische Ausstattung ist beispielhaft. Viel hängt jetzt von der klinischen Umsetzung ab. Die Behandlungsergebnisse werden die weitere Verbreitung der Ionenstrahltherapie in Europa sicherlich stark beeinflussen.
Nachzügler Deutschland
In der Bundesrepublik gibt es zwar mehrere Physikzentren mit Protonen- oder Schwerionenbeschleunigern, doch wird an keinem bisher Therapie betrieben. Dabei hatte schon Mitte der siebziger Jahre eine hochkarätig besetzte Wissenschaftlerrunde unter Federführung des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie eine Projektstudie über die Therapie und Diagnostik mit Ionen erarbeitet, die den unverzüglichen Bau einer klinischen Beschleunigeranlage empfahl. Das Projekt scheiterte jedoch, weil über Standort, Zuständigkeiten und Kostenaufteilung keine Einigung erzielt werden konnte.
Zu Beginn der achtziger Jahre plante die Kernforschungsanlage Jülich den Bau einer Spallationsneutronenquelle (als Spallation bezeichnet man die Aufsplitterung von Atomkernen durch Beschuß mit hochenergetischen Teilchen aus Beschleunigern, wobei größere Mengen an Neutronen freiwerden). Die Realisierungsstudie sah vor, den dazu benötigten hochenergetischen Protonenstrahl auch für die Medizin zu nutzen. Sogar eine isozentrische Strahlführung war vorgesehen, die es damals für schnelle Ionen noch nirgendwo gab. Auf Beschluß des Bundesministeriums für Forschung und Technologie wurde das Projekt jedoch 1984 eingestellt.
Etwa zur gleichen Zeit kamen Pläne auf, das Schwerionensynchrotron, das die GSI in Darmstadt baute, auch medizinischen Anwendungen zugänglich zu machen. Errichtung und Inbetriebnahme dieses Ringbeschleunigers verzögerten sich jedoch, und später wurden die knappen Strahlzeiten überwiegend für physikalische Grundlagenforschung vergeben. Dies und Geldmangel gefährdeten das Therapieprojekt immer wieder und ließen es nur langsam vorankommen. Erst neuerdings wird es stärker unterstützt; die Strahlenforscher der GSI, die mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum und der Radiologischen Klinik der Universität Heidelberg zusammenarbeiten, hoffen nun, Ende dieses Jahres den ersten Patienten behandeln zu können.
In Berlin haben das Klinikum Steglitz der Freien Universität und das Hahn-Meitner-Institut (HMI) vereinbart, am Zyklotron des HMI einen Therapieplatz für Protonenbestrahlung von Augenmelanomen einzurichten. Ausschlaggebend für die Kooperation waren die Nähe der beiden Institutionen und Kontakte zum Centre Antoine Lacassagne in Nizza, an dem die Bestrahlung von Augentumoren mit Protonen seit 1991 erfolgreich praktiziert wird. Die Einrichtung des Therapieplatzes erfordert nur geringfügige technische und bauliche Veränderungen. Vermutlich können hier ebenfalls Ende dieses Jahres die ersten Melanompatienten bestrahlt werden.
Weniger günstig sieht die Zukunft eines ähnlichen Projektes in München aus. Eine Gruppe von Wissenschaftlern an der Ludwig-Maximilians-Universität wollte ein im Forschungszentrum Garching installiertes supraleitendes Zyklotron für die Therapie von Augenmelanomen nutzen. Das nach einem neuartigen technischen Konzept arbeitende Gerät macht jedoch so viele Schwierigkeiten, daß die medizinische Verwendung derzeit äußert fraglich erscheint.
Als Ersatz für die Spallationsneutronenquelle wurde in Jülich vor drei Jahren der Beschleuniger COSY (für Cooler Synchrotron) in Betrieb genommen (Spektrum der Wissenschaft, April 1994, Seite 35). Vor etwa fünf Jahren, als die Anlage längst im Bau war, kam die Idee auf, sie auch medizinisch zu nutzen. Wie sich herausstellte, bietet COSY technisch sehr gute Voraussetzungen dafür, obwohl bei der Planung an diese Anwendung nicht gedacht worden war. Nachdem das Projekt zunächst großes Interesse beim Vorstand geweckt hatte, bewirkten Finanzierungsprobleme und eine Neuorientierung der Forschung allerdings, daß es derzeit nurmehr am Rande verfolgt wird.
Ausblick
Neue Beschleunigergenerationen, Verbesserungen in der Tumordiagnostik und flexible Bestrahlungstechniken schaffen mittlerweile die Voraussetzungen, die Ionenstrahltherapie mit der Präzision anzuwenden, zu der sie prinzipiell fähig ist. Inwieweit eine neue Technik auch tatsächlich genutzt wird hängt allerdings nicht nur von ihren Möglichkeiten, sondern auch von sozialen sowie volks- und betriebswirtschaftlichen Aspekten ab.
Seit dem Bau des Protonenzentrums in Loma Linda gibt es recht konkrete Zahlen zu den Kosten dieser Therapie. Die Investitionen für Geräte und Gebäude betrugen ungefähr 60 Millionen, und die laufenden Kosten liegen bei jährlich rund zwei Millionen Dollar. Amortisieren soll sich die Einrichtung in 20 Jahren, was angesichts der aus der kernphysikalischen Praxis bekannten Langlebigkeit der wesentlichen Komponenten vertretbar scheint. Wenn im Vollbetrieb während 50 Wochen im Jahr an sechs Tagen pro Woche jeweils 100 Patienten bestrahlt werden, ergeben sich Kosten von knapp 300 Dollar pro Bestrahlung und von 6000 Dollar für eine vollständige Therapie mit 20 Sitzungen. Dieser Betrag liegt im Rahmen der konventionellen Strahlentherapie und eher an der Untergrenze der chirurgischen Preisskala für eine Krebsoperation.
Zu ähnlich günstigen Kostenabschätzungen kommen auch drei europäische Studien, die belgische, französische und deutsche Daten über Therapieaufwendungen ausgewertet haben. Folgekosten einer erfolglosen Tumorbehandlung oder therapiebedingter Komplikationen, die schnell beträchtliche Höhen erreichen können, wurden dabei ebensowenig berücksichtigt wie die gesellschaftlichen Kosten durch Arbeitsunfähigkeit, Invalidität oder Tod eines Krebspatienten. Wenn man solche Faktoren einbezieht, dürfte sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Ionenstrahltherapie gegenüber dem herkömmlicher Behandlungsmethoden weiter verbessern.
Bei aller berechtigten Hoffnung muß man freilich auch die Grenzen des Verfahrens erkennen und akzeptieren. So ist der Ionenbeschuß nur bei einem Tumor sinnvoll, dessen Umrisse klar abgrenzbar sind. Wenn Geschwülste früh zur Metastasierung neigen, normales Gewebe stark infiltrieren oder diffus innerhalb gesunder Strukturen wachsen, bringt die Präzision keinen Vorteil. Das Verfahren läßt sich dann allenfalls dazu benutzen, lokal – zum Beispiel im Tumorkern – die Dosis zu steigern, um auf diese Weise sauerstoffunterversorgte Krebszellen abzutöten, die meist strahlenresistenter sind. Vordringliches Ziel bleiben somit örtlich begrenzt wachsende Tumoren in unmittelbarer Nähe strahlenempfindlicher Strukturen, bei denen die Heilungserfolge mit konventionellen Behandlungsmethoden ungenügend sind.
Aber auch unter dieser Einschränkung ergeben sich bisher unerprobte Einsatzgebiete. Dazu gehört die Bekämpfung von Tumoren des Mundbodens und Zungengrunds sowie von Geschwülsten im Magen-Darm-Bereich, an Blase und Gebärmutter. Die gezielte Energiedeposition macht die Protonenstrahlung auch für die heikle Tumorbehandlung bei Kindern und Schwangeren attraktiv.
Nur vergleichende Studien werden es letztlich erlauben, die Vor- und Nachteile der diversen Arten von Strahlentherapie verläßlich abzuwägen. Wegen der großen Unterschiede in den individuellen Krankheitsbildern und der Vielzahl an Parametern, die es zu berücksichtigen gilt, aber auch wegen der erforderlichen Beobachtungsdauer von vielen Jahren dürften solche Untersuchungen jedoch lange Zeit in Anspruch nehmen. Die Röntgenstrahlung wird immerhin seit nunmehr 100 Jahren medizinisch genutzt, aber die optimalen Verabreichungsmodalitäten und ähnliche grundsätzliche Fragen sind noch immer nicht endgültig geklärt. Solange keine onkologische Disziplin einen durchschlagenden Erfolg mit einer generell anwendbaren Behandlung errungen hat, gebieten es die einzigartigen Möglichkeiten zur gezielten Energiedeposition und die vergleichsweise hohen Überlebensraten, die selbst bei weit fortgeschrittenen Tumorstadien bisher erzielt wurden, das Potential der Ionenstrahltherapie stärker auszuschöpfen und gründlicher auszuloten, als dies bisher geschehen ist.
Literaturhinweise
- Ion Beams in Tumor Therapy. Herausgegeben von U. Linz. Chapman & Hall, London 1995.
– Schwerionen als chirurgisches Skalpell. In: Im Wunderland der Atome und Kerne, Seiten 33 bis 37. Broschüre der Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI), Darmstadt 1994.
– Hadrontherapy in Oncology. Herausgegeben von U. Amaldi und B. Larsson. Elsevier, Amsterdam 1994.
– Proton Beams in Radiation Therapy. Von H. Suit und M. Urie in: Journal of the National Cancer Institute, Band 84, Seiten 155 bis 164 (1992).
– Radiography with Protons. Von J. A. Cookson in: Naturwissenschaften, Band 61, Seiten 184 bis 219 (1979).
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 70
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