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Sinnesphysiologie: Turbo im Ohr

Die Sinneszellen im Innenohr fungieren anscheinend zugleich als mechanische Verstärker. Dabei nutzen sie offenbar ungewöhnliche Motorproteine, die elektrische statt chemischer Energie verbrauchen.


Zwar kann es das menschliche Gehör bei weitem nicht mit dem von Hunden oder gar Fledermäusen aufnehmen, trotzdem leistet es Beachtliches: Junge, gesunde Menschen nehmen Töne über das weite Frequenzspektrum von 20 bis 20000 Hertz wahr – und das in einem breiten Empfindlichkeitsbereich; denn das leiseste noch hörbare Geräusch ist millionenmal schwächer als das lauteste, das gerade die Schmerzgrenze erreicht.

Der Hörvorgang ist buchstäblich eine haarige Angelegenheit: Zellen im Innenohr, an deren Oberseite filigrane Härchen – so genannte Stereocilien – sitzen, wandeln die Schallwellen in elektrische Reize um (Bild unten). Die Haarzellen liegen zwischen zwei Membranen. Sie selbst sind unten mit der so genannten Basilarmembran verwachsen, während die Stereocilien oben in eine Deckmembran ragen. Treffen Schallwellen auf die untere Membran, pflanzt sich der mechanische Impuls durch den gesamten Zellverband fort und verschiebt die Haarzellen relativ zur Deckmembran. Die Verformungen lösen Nervenreize aus, die zum Gehirn geleitet werden, das dann interpretiert, ob es sich bei dem Geräusch um eine Opernarie oder das Pfeifen eines Teekessels handelt.

Bereits im Jahre 1948 postulierte Tommy Jones, damals Astrophysiker an der Universität Cambridge, dass die Haarzellen keine einfachen Empfänger sind, sondern den eintreffenden Schall zusätzlich verstärken. Er stieß mit seinen Überlegungen allerdings auf taube Ohren. Die Hörzellen, so die damalige Lehrmeinung, könnten wie eine angeschlagene Klaviersaite ausschließlich passiv auf eintreffenden Schall reagieren. Eine Verstärkung finde nur auf der Ebene der Nerven statt und nicht über ein mechanisches System im Hörorgan selbst.

Doch dreißig Jahre später fanden sich tatsächlich Hinweise auf eine biomechanische Verstärkung des Schalls im Ohr. Ende der siebziger Jahre zeigten physiologische Studien, dass die meisten Haarzellen von Säugetieren in einem elektrischen Wechselfeld von sich aus schwingen. Außerdem stellte sich heraus, dass im Ohr selbst unentwegt Schwingungen entstehen. Als so genannte otoakustische Emissionen kann sie der Ohrenarzt heute auf der Außenseite des Trommelfells mit einem Mikrofon hörbar machen. Ihr Fehlen deutet in den allermeisten Fällen auf Funktionsstörungen oder Defekte im Innenohr hin. Das Hörorgan funktioniert also offenbar nicht nur als Empfänger für eintreffende Schallwellen, sondern erzeugt selbst permanent Schwingungen.

Aktive Vibrationen verstärken Schall


Seit dieser Entdeckung überlegen Gehörforscher, ob und wie solche aktiven Vibrationen den eintreffenden Schall verstärken könnten. Jetzt haben Biophysiker um Frank Jülicher vom Curie-Institut in Paris ein mathematisches Modell entwickelt, das die Eigenschaften des Gehörs und insbesondere die große dynamische Breite der Hörwahrnehmung sowie die beachtlichen Verstärker-Effekte elegant auf ein einziges Funktionsprinzip zurückführt (Proc. Nat. Acad. Sciences, Bd. 97, S. 3183). Demnach sollen die Hörzellen oder die Härchen permanent schwingen; die Vibrationen würden aber durch einen bislang unbekannten Mechanismus gedämpft. Mathematisch gesehen, befindet sich dieses dynamische System an einer so genannten Hopf-Verzweigung: Ein kleiner äußerer Einfluss, beispielsweise eine eintreffende Schallwelle, bewirkt einen abrupten Wechsel aus dem gedämpften Zustand in ungehinderte, aktive Oszillationen und intensiviert dadurch die Geräuschwahrnehmung.

Je nach ihrer Position im Hörorgan spricht jede Sinneszelle dabei nur auf eine bestimmte Frequenz an und verstärkt ausschließlich diesen Anteil des Schalls. Nach den Berechnungen der Pariser Wissenschaftler justiert ein zusätzlicher Mechanismus das ganze System automatisch genau auf den kritischen Verzweigungspunkt ein.

Beim Menschen haben Physiologen bisher lediglich die erwähnten Oszillationen der Haarzellen in einem elektrischen Wechselfeld entdeckt; spontane Schwingungen der Stereocilien ließen sich dagegen nicht beobachten. Härchen aus Froschohren führen jedoch, wie Pascal Martin und Jim Hudspeth von der Rockefeller-Universität in New York kürzlich herausfanden, auch ohne äußere Einflüsse permanente Bewegungen aus (Proc. Nat. Acad. Sciences, Bd. 96, S. 14306). Die Haarzellen selbst sind bei Amphibien – wie auch bei Vögeln oder Fischen – starr und reagieren nicht wie die von Säugern auf elektrische Reize. Möglicherweise arbeiten bei Säugetieren beide Mechanismen – oszillierende Zellen und schwingende Härchen – zusammen. So ließe sich die enorme Leistungsfähigkeit des Gehörs von Säugern erklären, das im Tierreich unübertroffen ist.

Jülicher und seine Kollegen gehen davon aus, dass molekulare Motoren die aktiven Vibrationen im Innenohr hervorrufen. Inzwischen haben Peter Dallos und seine Kollegen von der Northwestern University in Evanston (Illinois) auch schon einen Kandidaten dafür aufgespürt. Es handelt sich um einen neuen Typ von Motorprotein. Er unterscheidet sich klar von den anderen bekannten Zell-Motoren wie dem Kinesin im Zellskelett, dem Myosin aus den Muskeln und dem Dynein, das bei der Bewegung der Geißeln und Wimpern von Einzellern eine Rolle spielt; anders als diese benötigt er nämlich keine chemische Energie in Form des zellulären Energielieferanten Adenosintriphosphat (ATP).

Um unbekannte Motorproteine in den Säugetier-Haarzellen zu identifizieren und näher zu charakterisieren, bedienten sich Dallos und seine Kollegen einer geschickten, aber aufwändigen Strategie (Nature, Bd. 405, S. 149). Sie isolierten je 1000 aktiv vibrierende und passive Haarzellen aus dem Innenohr einer Wüstenspringmaus und analysierten die beiden Zelltypen auf molekulare Unterschiede. In den vibrierenden fanden sie einige Proteine, die beim anderen Zelltyp fehlen. Gleich das erste davon, das sie näher untersuchten, erwies sich als Volltreffer. Zellen, in deren Membranen der Eiweißstoff sitzt, können bis zu 80000-mal pro Sekunde hin und her schwingen. Nach der in der Musik verwendeten Tempobezeichnung presto – schnell – nannten die Forscher das Protein deshalb Prestin.

Die Analyse seiner Aminosäuresequenz lieferte zwei bemerkenswerte Erkenntnisse. Zum einen ähnelt Prestin in seinem chemischen Aufbau einem weit verbreiteten Transporter-Protein, dem so genannten Pendrin. Zum anderen enthält es zwei Abschnitte, die unterschiedliche elektrische Ladungen tragen. Der positiv geladene Bereich liegt nur ein paar Aminosäuren neben dem negativ geladenen am einen Ende der Aminosäurekette. Die beiden Abschnitte könnten daher die Bewegung der Haarzellen hervorrufen, indem sie im Takt einer angelegten Wechselspannung hin- und herklappen. Da die Zellmembran wahrscheinlich dicht bepackt ist mit Prestin, würde die Haarzelle ihre Form verändern, wenn alle Moleküle gleichzeitig umspringen.

Um diese Vermutung zu überprüfen, bauten die Wissenschaftler das Prestin-Gen in kultivierte menschliche Nierenzellen ein, die sich normalerweise nicht rühren. Und tatsächlich: Beim Anlegen einer Wechselspannung fingen die manipulierten Nierenzellen unmittelbar an mit derselben Frequenz zu vibrieren. Für Dallos, der seit über dreißig Jahren das Gehör untersucht, ist das ein eindeutiger Beleg – auch wenn er noch keine Ahnung hat, wie im Ohr die nötigen Ladungsänderungen zu Stande kommen.

Antrieb für molekulare Maschinen?


Das neu entdeckte Motorprotein könnte auch technische Anwendungen finden. Vielleicht lässt es sich eines Tages als Antrieb für Maschinen im Molekül-Maßstab nutzen. Die anderen Motorproteine eignen sich dafür weniger, weil sie viel langsamer sind und chemische statt elektrischer Energie benötigen.

Doch solche nanotechnologischen Anwendungen will Dallos einstweilen anderen überlassen. Mit seinen Kollegen plant er derzeit Experimente, das Prestin-Gen in Mäusen gezielt auszuschalten. So wird sich zeigen, wie der Hörvorgang funktioniert, wenn der vermutete Verstärker-Effekt durch das Prestin wegfällt. Daneben wollen die Wissenschaftler die Struktur des Proteins genauer ermitteln, um so die Bestätigung für ihre Annahme zu finden, dass die Zellbewegung durch das Umschlagen der unterschiedlich geladenen Protein-Bereiche entsteht.

Außerdem bleibt zu klären, welche Aufgaben die übrigen Proteine haben, die in den bewegungslosen Haarzellen nicht vorkommen. Vielleicht helfen sie dem Prestin dabei, die spontanen Eigenschwingungen der Haarzellen von Säugern auszulösen. Sollten die kommenden Experimente die vermutete Rolle des Prestins nicht bestätigen, wäre auch das noch ein Fortschritt: Dann müsste man davon ausgehen, dass allein spontane Schwingungen der Härchen den Verstärkungseffekt hervorrufen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2001, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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