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Albrecht Beutelspacher, Norbert Henze,
Ulrich Kulisch und Hans Wußing (Herausgeber)
: Überblicke Mathematik 1996/97.

Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden 1996. 172 Seiten, DM 56,-.

Sie haben früher einmal Mathematik studiert, sind jetzt vielleicht Mathematiklehrer an einer Schule, arbeiten bei einer Bank oder einer Versicherung oder machen etwas ganz anderes? Und Sie möchten etwas leicht Verständliches, Interessantes und vielleicht Historisches oder Vergnügliches über Mathematik lesen? Keine Fachaufsätze für Spezialisten, aber auch nichts "Populärwissenschaftliches", sondern etwas, was durchaus daran appelliert, daß Sie Mathematik studiert haben, aber eben nicht mehr "drin" sind? Dann wendet sich die 1968 von Detlef Laugwitz begründete Reihe "Überblicke Mathematik" an Sie. Die Herausgeber haben nach nunmehr fast 30 Jahren das inhaltliche Konzept und das Layout überarbeitet, verfolgen aber nach wie vor das schon im Namen ausgedrückte Grundanliegen.

In der Tat wirkt das neue Gewand erfrischend. Neben den Hauptbeiträgen findet man Kurzrubriken wie "Ein Bild und seine Geschichte", in dem diesmal Matthias Kreck, der Direktor des Mathematischen Forschungsinstituts in Oberwolfach im Schwarzwald, zu einem anheimelnden Bild vom hellerleuchteten Bibliotheks- und Hörsaalbau des Instituts in der Abenddämmerung eine kurze romantische Schilderung der einzigartigen Atmosphäre und der Aufgaben dieser Einrichtung gibt. In der Rubrik "Prominente schreiben über Mathematik" lassen sich die Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine (Saarland) und Reinhard Höppner (Sachsen-Anhalt) auf Politikerart kurz über Mathematik aus.

Die Hauptartikel enthalten historische Beiträge, etwa zum 350. Geburtstag des Mathematikers und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716), zur Geschichte und Didaktik mechanischer Rechenmaschinen, zur Geschichte des Fluchtpunktes beim perspektiven Zeichnen und des Fernpunktes in der projektiven Geometrie, Erinnerungen von Detlef Laugwitz an seine Zeit als Assistent in Oberwolfach in den Jahren 1955/56 und eine Würdigung des fast vergessenen Mathematikers und Mathematikhistorikers Paul Stäckel (1862 bis 1919), der die Tagebücher von Carl Friedrich Gauß (1777 bis 1855) entdeckte. Alle diese Beiträge sind interessant und spannend geschrieben.

Weitere Beiträge behandeln geometrische Themen|: Penrose-Parkette (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1991, Seite 48), die Keplerschen Sternpolyeder und deren Zusammenhang mit semilinearen Abbildungen, Kugelpackungen (Spektrum der Wissenschaft, September 1992, Seite 12) und Möbius-Ebenen. Jörg Richstein aus Gießen gibt einen interessanten Überblick über den Stand der Forschung bei Primzahlzwillingen, also Primzahlpaaren mit der Differenz 2, wie etwa 11 und 13 oder 17 und 19 (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1996, Seite 26). Noch immer weiß man nicht, ob es unendlich viele solche Paare gibt. Ein weiterer Beitrag behandelt in knapper, aber gut nachvollziehbarer Form Architektur und Implementierungstechniken moderner Mikroprozessoren und gibt einen Vorblick auf die Zukunft.

Etwas ganz anderes bietet ein Artikel über Mathematik in der Lyrik mit Beispielen aus drei Jahrhunderten|: von Johann Christoph Gottsched (1700 bis 1766), Friedrich Rückert (1788 bis 1866) und Novalis (1772 bis 1801) bis

zu den Zeitgenossen Reiner Kunze, Karl Krolow und Hans Magnus Enzensberger, dessen Gedicht "Die Mathematiker" von 1991 mit folgenden bedrückenden Zeilen schließt|:



Dann, mit vierzig, sitzt ihr,

o Theologen ohne Jehova,

haarlos und höhenkrank

in verwitterten Anzügen

vor dem leeren Schreibtisch,

ausgebrannt, o Fibonacci,

o Kummer, o Gödel, o Mandelbrot,

im Fegefeuer der Rekursion.



Wenig bietet dagegen der Artikel über Mathematik im Internet, der nach einer sehr knappen Beschreibung der Organisation des Internets lediglich für einige dem Autor interessant erscheinende Seiten im WWW wirbt.

Von ganz anderem Kaliber ist ein Artikel von Jörg Schwenk vom Technologiezentrum der Deutschen Telekom in Darmstadt und Albrecht Beutelspacher von der Universität Gießen mit dem provozierenden Titel "Was ist ein Beweis?" Entgegen weitverbreiteter Ansicht ist das nämlich keineswegs so klar, wie es eigentlich sein sollte (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1993, Seite 88). Aber dieser Artikel handelt dann doch nicht von den hinter dieser Frage lauernden ungelösten Grundlagenproblemen, sondern von Komplexitätstheorie und sogenannten interaktiven Beweissystemen. Im Prinzip geht es darum, ob und wie ein allmächtiges Wesen (der prover) ein beschränktes Wesen (einen verifier mit polynomialer Denkgeschwindigkeit) von der Richtigkeit einer Behauptung überzeugen kann, deren vollständigen Beweis der verifier nicht zu erfassen vermag. Spannend geschrieben, aber im Vergleich zu den anderen Artikeln doch erheblich anspruchsvoller.

Daß nicht nur Professoren in Amt und Würden, sondern auch Studenten, Lehrer, wissenschaftliche Mitarbeiter und "alte Hasen" Beiträge geschrieben haben, trägt zu dem frischen Wind bei, der das vorliegende Heft durchweht und das Lesen zum Vergnügen macht. Wenn auch diese erste Ausgabe im neuen Gewand noch manche Mängel enthält, wie zum Beispiel die vielen Druckfehler, so kann man der Reihe insgesamt doch viel Erfolg wünschen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1998, Seite 129
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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