Überlebenskünstler unter Druck
Die winzigen Bärtierchen sind schier unverwüstlich. Von ihren Tricks beim Meistern extremer Situationen könnten möglicherweise auch Transplantationsmediziner lernen.
Ertragen Lebewesen hohe Drücke, und wenn ja, wie? Diese Frage beschäftigte die Wissenschaft schon vor über einem Jahrhundert. 1884 berichtete der Biologe A. Certes der Pariser Académie des Sciences über lebende Mikroorganismen in Proben vom Meeresboden, die bei Expeditionen der Forschungsschiffe "Travailleur" und "Talisman" gesammelt worden waren. Der Arzt und Physiologe Paul Regnard untersuchte daraufhin in einem Rundumschlag quer durch die gesamte bekannte Biologie die Beständigkeit von Pflanzen, Hefen, Muscheln, Fischen, Blutegeln, Infusorien (Aufgußtierchen) und Krustentieren gegenüber Drücken von bis zu 600 Atmosphären. Bei dieser Generalinventur, von der er noch im selben Jahr der Académie berichtete, stellte er fest, daß höhere Organismen offenbar empfindlicher sind als niedere. So waren die untersuchten Fische nach dem Druckschock "tot und steif", während die Infusorien und Blutegel lediglich in einen "Schlaf" verfielen, aus dem sie alsbald wieder erwachten; den Hefen schien die Behandlung dagegen überhaupt nichts auszumachen.
Wie viele weitere Untersuchungen seither ergaben, sind nicht alle Fische so empfindlich und nicht alle Mikroorganismen so robust wie die von Regnard getesteten. In neuerer Zeit galt das wissenschaftliche Interesse vor allem den Veränderungen auf zellulärer Ebene und darunter. So hat man bei Fischen speziell die physiologischen Reaktionen auf hohen Druck erforscht, etwa Umstrukturierungen in der Zellmembran, damit diese ihre optimale Fluidität bewahrt, darin eingebettete Proteine sich also weiterhin wie in einer zweidimensionalen Flüssigkeit frei bewegen können. An den etwas widerstandsfähigeren Mikroorganismen sind Biochemiker dagegen insbesondere der Frage nachgegangen, wie die Maschinerie der Zelle mit Druck fertig wird.
Mit dem von Regnard beobachteten "Schlafzustand" der Infusorien und Blutegel hat sich dagegen niemand gründlicher beschäftigt. Dabei finden sich, wie zwei japanische Wissenschaftler jüngst berichteten, gerade unter den mikroskopisch kleinen Primitivtieren die Überlebenskünstler mit der erstaunlichsten Widerstandsfähigkeit gegenüber hohen Drücken ("Nature", Band 395, Seite 853; 29. 10. 1998).
Kunihiro Seki und Masato Toyoshima von der Kanagawa-Universität wählten für ihre Experimente zwei Arten aus dem Stamm der Bärtierchen (Tardigrada). Diese mikroskopisch kleinen Minimonster werden höchstens einen halben Millimeter lang, hätten also ohne weiteres auf einem i-Punkt Platz. Sie leben für gewöhnlich in Wassertröpfchen auf Moosen und Flechten und sind auf allen Kontinenten zu Hause. Für die Fährnisse des Daseins verfügen sie über mindestens zwei verschiedene "Notprogramme". Wenn ihr Lebensraum überschwemmt wird und Sauerstoffmangel droht, blähen sie sich zu einem ballonartigen Passivstadium auf, das für einige Tage im Wasser umhertreiben kann. Bei extremer Trockenheit dagegen schrumpfen sie zu sogenannten Tönnchen, einem sporenartigen Dauerstadium, in dem sie nachweislich mindestens 100 Jahre ausharren können: Als man so alte Moosproben aus Museen in Wasser legte, wimmelten sie alsbald von wiederbelebten Bärtierchen.
An solchen Tönnchen beobachteten die japanischen Forscher eine schier unglaubliche Hochdruck-Beständigkeit. Weil die Dauerstadien in Gegenwart von Wasser rasch in den aktiven Zustand zurückgekehrt wären, wurden sie in einem Fluorkohlenstoff suspendiert (einer Flüssigkeit, die auch als Blutersatz dient) und für jeweils 20 Minuten Drücken von bis zu 6000 Atmosphären ausgesetzt – dem Sechsfachen des Wasserdrucks in den tiefsten Meeresregionen. Während Populationen im aktiven Zustand bereits bei 2000 Atmosphären vollständig abstarben, betrug die Überlebensrate der Tönnchen selbst bei 6000 Atmosphären für Exemplare der Art Macrobiotus occidentalis 95, und für Echiniscus japonicus 80 Prozent.
Eine derartige Belastbarkeit ist im Tierreich bisher ohne Beispiel – lediglich Flechten und Bakteriensporen sind vergleichbar zäh. Bewunderer der Bärtierchen wissen allerdings schon seit längerem, daß man die Dauerstadien problemlos in flüssigem Helium einfrieren kann – sie vertragen eisige Temperaturen bis mindestens 0,5 Kelvin (-272,64 Grad Celsius).
Worauf diese phänomenale Unempfindlichkeit beruht, läßt sich noch nicht im einzelnen erklären. Da die Tardigrada dem Menschen weder nützlich noch schädlich sind, hielt sich das wissenschaftliche Interesse an ihnen in Grenzen; daher ist auch über ihre Molekularbiologie relativ wenig bekannt. Doch weiß man immerhin, daß in den Dauerstadien hohe Konzentrationen des Zuckers Trehalose vorliegen, der auch der Bierhefe als Schutzmittel in Belastungssituationen dient.
Angesichts der fast unbegrenzten Haltbarkeit der Tönnchen erhebt sich die medizinisch interessante Frage, ob sich das Erfolgsrezept der Bärtierchen auch auf die Haltbarmachung von Organen für Transplantationszwecke übertragen ließe. In einem ersten Experiment haben Seki und seine Mitarbeiter Rattenherzen zunächst in Trehaloselösung getränkt, sie dann auf Silicagel getrocknet und schließlich in Fluorkohlenstoff unter Luftausschluß aufbewahrt ("New Scientist", 7.11.98, Seite 7). Nach zehntägiger Lagerung bei Kühlschranktemperatur konnten sie die Herzen problemlos rehydrieren und wiederbeleben. Man hofft, daß sich aus diesen vielversprechenden Anfängen innerhalb einiger Jahre ein Konservierungsverfahren für menschliche Spenderorgane entwickeln läßt, das die bisher auf frisch verstorbene Spen-der angewiesene Transplantationsmedizin revolutionieren könnte.
Auch als Hilfsmittel zur Haltbarmachung von pharmazeutischen Präparaten ist Trehalose schon seit längerem im Gespräch. Die Neigung zuckriger Lösungen, sich beim Abkühlen in einen Sirup und schließlich in eine glasartige Substanz zu verwandeln, könnte die Haltbarkeit vor allem jener Pharmaprodukte verbessern, die empfindliche Biomoleküle enthalten. Auch wenn diese es nicht unbedingt mit den Tardigrada im Museumsmoos aufnehmen und ein Jahrhundert unbeschadet überdauern müssen, so wäre doch eine garantierte Haltbarkeit von einigen Jahren erstrebenswert.
Die schiere Unverwüstlichkeit der von den Bärtierchen selbst erzeugten Biokonserven dürfte schließlich auch all jene interessieren, die über eine mögliche Ausbreitung von Lebensformen durch den Weltraum spekulieren. Bisher galten Bakteriensporen als die aussichtsreichsten Kandidaten für solche kosmischen Reisen. Doch die Tönnchen in Gesellschaft der ähnlich resistenten Flechten könnten möglicherweise ebensogut andere Himmelskörper besiedeln.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1999, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben