Direkt zum Inhalt

Unkonventionelle Anwendungen des Erbsubstanz-Moleküls DNA

Einfallsreiche Forscher haben herausgefunden, daß das Erbmaterial der Zelle noch mehr vermag als genetische Informationen zu speichern. Es kann auch als Baukasten für molekulare Gerüste, als elektrisches Kabel im Nanometermaßstab und sogar als chemischer Computer dienen.

In allen heutigen Lebewesen hat die Desoxyribonucleinsäure (DNA) ausschließlich die Funktion eines Archivs für die Erbinformation. Deshalb dauerte es nach dieser Erkenntnis einige Jahrzehnte, bis sich Wissenschaftler zu fragen begannen, ob die eher einförmigen Moleküle mit ihrer vieltausendfachen Wiederholung von nur vier Grundbausteinen (Nucleotiden mit der Kurzbezeichnung A, T, G und C) vielleicht noch andere, bislang verborgene Möglichkeiten bergen.

Immerhin offenbarte Anfang der achtziger Jahre die recht ähnlich aufgebaute Ribonucleinsäure (RNA), die vor allem als Material für Abschriften der Erbinformation dient, unerwartete enzymatische Fähigkeiten. Seither hat man solche Ribozyme mit immer vielseitigeren katalytischen Eigenschaften entdeckt oder konstruiert. Inzwischen wird sogar für den Beginn der Evolution des Lebens eine RNA-Welt postuliert, in der diese Moleküle Träger sämtlicher Lebensfunktionen gewesen sein könnten.

Sollte der DNA gänzlich versagt sein, womit das Schwestermolekül so reich begabt ist? Ende letzten Jahres konnten Ronald R. Breaker und Gerald F. Joyce von der Scripps Institution in La Jolla (Kalifornien) ein DNA-Enzym präsentieren, das RNA zu spalten vermag. Entstanden war dieses erste Desoxy-Ribozym als Ergebnis einer Evolution im Reagenzglas (siehe "Gelenkte Evolution von Biomolekülen" von Gerald F. Joyce, Spektrum der Wissenschaft, Februar 1993, Seite 52). Die Forscher hatten 1014 (100 Billionen) verschiedene künstliche DNA-Moleküle über ein RNA-Verbindungsstück an ein festes Trägermaterial gekoppelt. Nur die Moleküle, die ansatzweise fähig waren, RNA zu spalten, schafften es, sich von dem Träger zu befreien. Sie wurden anschließend durch Polymerase-Kettenreaktion vervielfältigt und zusammen mit den leicht abgewandelten Formen, die beim Kopieren zu einem sehr kleinen Prozentsatz entstanden, einem erneuten Auswahlschritt derselben Art unterworfen. Fünf Durchgänge genügten, bis sich eine Molekül-Variante herausgebildet hatte, die auch zugesetzte externe RNA-Ketten sehr wirksam zu zerschneiden vermochte.

Weniger von praktischen als von ästhetischen Gesichtspunkten ließ sich Nadrian Seeman von der Universität New York leiten, als er sich 1990 zusammen mit J. Shen daranmachte, einen Würfel aus DNA zu entwerfen und zu synthetisieren. Jede der sechs Seitenflächen sollte von einem ringförmigen DNA-Einzelstrang aus 80 Nucleotiden umschlossen sein, der an den vier Kanten mit dem jeweiligen Nachbarstrang durch Doppelhelix-Bildung verbunden ist. Die Kantenlänge von 20 Nucleotiden entspricht dabei genau zwei vollen Windungen der Doppelhelix.

Ausgehend von zehn offenkettigen DNA-Einzelsträngen benötigten die Forscher insgesamt fünf Schritte, zu denen Zyklisierung, Doppelstrangbildung, Verknüpfung und Zwischenreinigung gehörten, bis das Endprodukt vorlag. Daß es zumindest topologisch mit einem Würfel identisch ist, bewiesen sie durch Zuga-be von Restriktionsenzymen, welche die Doppelstränge genau an den zu erwartenden Stellen spalteten. (Topologisch identisch sind zwei Gebilde, wenn man sie nur durch Verformen – also ohne daß man sie an einer Stelle zerschneiden und neu zusammenfügen muß – ineinander umwandeln kann.) Ob das kunstvoll verschlungene DNA-Molekül wirklich würfelförmig ist oder nicht eher einer Kugel oder einem spitzwinkligen Rhomboeder gleicht, konnten die Forscher freilich nicht feststellen, weil sie nicht genügend Material für eine Röntgenstrukturanaly-se zur Verfügung hatten ("Nature", Band 350, Seite 631, 18. April 1991).

Das hinderte sie indes nicht an dem Versuch, noch kompliziertere Strukuren mit ihrem DNA-Baukasten herzustellen. Letztes Jahr gelang ihnen so die Synthese eines Oktaederstumpfs, der ebenso wie der Würfel Kanten aus 20 Nucleotiden enthält (Bild 1) – allerdings sind es diesmal 36 statt 12. Insgesamt besteht die neueste Kreation aus 1440 Nucleotiden und kann bei einem Molekulargewicht von knapp 800000 durchaus mit den großen natürlichen Proteinkomplexen mithalten.

Sollte sich herausstellen, daß Seemans Konstrukte tatsächlich die vorgesehene Geometrie haben und sich nicht etwa zu dichteren Strukturen verknäulen, wären sie sehr wohl auch von praktischem Nutzen. Mit ihren für molekulare Maßstäbe riesigen inneren Hohlräumen könnten sie zum Beispiel als Transporter für Pharmaka oder als Gerüst für andere molekulare Konstruktionen dienen, zumal sich die Bausteine durch chemische Modifikation den jeweiligen Erfordernissen anpassen ließen. Prototypen von Hohlraumstrukturen sind die anorganischen Zeolithe (aluminiumhaltige Silicat-Minerale), die seit Jahrzehnten vielseitig verwendet werden; so dienen sie zur Trocknung von Gasen und Kühlmitteln, als Enthärter in Waschmitteln, als Trägermaterial für Katalysatoren und als Molekularsiebe bei Stofftrennungen. Seemans Oktaederstümpfe enthalten freie Anschlußstellen, über die man sie vielleicht zu einem porösen endlosen Gitter nach Art der Zeolithe verknüpfen kann; dessen Hohlräume wären dann freilich noch wesentlich größer ("Journal of the American Chemical Society", Band 116, Seite 1661).

Vielleicht eignet sich die DNA außerdem als Draht für die elektrische Verkabelung solcher Miniaturbauwerke. Im Jahre 1993 jedenfalls erstaunte Jackie Barton vom California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena die Fachwelt mit Meßergebnissen, wonach DNA-Moleküle in der Doppelhelix-Form ausgezeichnete elektrische Leiter seien. Sie erklärte dies damit, daß die ringförmigen Stickstoffbasen aufgrund ihrer elektronischen Struktur (es handelt sich um aromatische Pi-Systeme) über frei bewegliche Elektronen verfügen; weil die Ringe in der Doppelhelix wendeltreppenartig übereinandergestapelt sind, könnten somit leicht Elektronen von einem zum nächsten überspringen. Allerdings waren die gemessenen Leitfähigkeiten so hoch, daß viele Forscher die Ergebnisse anzweifelten. Anfang dieses Jahres präsentierten Thomas Meade und Jon Kayyem, die ebenfalls am Caltech arbeiten, neue Befunde zur Elektronenleitung in DNA; ihre Werte sind ein wenig niedriger und haben die Zweifler verstummen lassen ("Angewandte Chemie", Band 107, Heft 3, Seite 358).

Meade und Kayyem benutzten Komplexe des Platinmetalls Ruthenium als Sender wie als Empfänger des schnellen Stromstoßes (Bild 2). Der Sender wird durch einen Laser-Lichtblitz aktiviert, und der zweite Ruthenium-Komplex verrät die Ankunft des Elektrons durch Änderung seiner spektroskopischen Eigenschaften. Möglicherweise ist die komplizierte Architektur des ersten Komplexes, den das Elektron durchdringen muß, bevor es zu den gestapelten aromatischen Ringen gelangt, der Grund für die etwas langsamere Übertragung. Jackie Barton glaubt jedenfalls, daß sie mit ihren Untersuchungen, bei denen die Elektronen direkt im Inneren der Doppelhelix freigesetzt wurden, die wahre Geschwindigkeit des Elektronentransports in DNA ermittelt habe.

Der Umstand, daß das DNA-Kabel nur funktioniert, wenn ein Doppelstrang vorliegt, eröffnet die Möglichkeit, einen spezifischen Biosensor für DNA-Sequenzen zu entwickeln. Eine korrekte Doppelhelix bildet sich nämlich nur dann, wenn die beiden Einzelstränge in ihrer Nucleotidsequenz zueinander passen, wenn also die Nucleotide an den gleichen Positionen jeweils komplementär zueinander sind. Sofern die elektrische Leitfähigkeit durch eine einzelne falsche Basenpaarung bereits merklich erniedrigt würde, wäre diese neue Art von DNA-Sonde empfindlicher und spezifischer als alle bisher benutzten. Praktische Anwendungen in der medizinischen Diagnostik, in der Gerichtsmedizin oder bei der Suche nach Krankheitserregern im Trinkwasser dürften dann nicht lange auf sich warten lassen.

Doch nicht genug damit, daß DNA Elektronen leitet – möglicherweise kann sie sogar die Basis eines kompletten Rechners bilden, der den heutigen elektronischen Computern weit überlegen wäre. Im November 1994 stellte Leonard Adleman von der Universität von Südkalifornien in Los Angeles einen DNA-Computer vor, der immerhin eine einfache Version des klassischen Problems des Handelsreisenden lösen konnte; es besteht darin, die kürzeste Route durch eine Anzahl von Städten zu finden. In DNA-Ketten läßt sich wie in Elektronenrechnern Information in einem Code speichern (darauf beruht schließlich ihre Funktion als Erbsubstanz), die man mittels molekulargenetischer Methoden lesen, vervielfältigen oder nach verschiedenen Kriterien sortieren kann.

Jeder dieser Schritte ist zwar um einige Zehnerpotenzen langsamer als der analoge Vorgang in einem herkömmlichen Silicium-Rechner. Dies wird jedoch weit aufgewogen dadurch, daß man in einem Reagenzglas leicht 1019 verschiedene DNA-Stränge und somit 1019 verschiedene Datensätze gleichzeitig handhaben kann.

Richard Lipton von der Universität Princeton (New Jersey) zeigte kürzlich anhand theoretischer Überlegungen, wie DNA-Computer dank dieser enormen Kapazität zur Parallelverarbeitung bestimmte Aufgaben lösen könnten, an denen herkömmliche Elektronenrechner scheitern ("Science", Band 268, Seiten 542 bis 545). Dabei handelt es sich um sogenannte Erfüllbarkeitsprobleme, bei denen es zu ermitteln gilt, welche Sätze von Wahr-Falsch-Aussagen eine Gleichung in Form einer bestimmten logischen Verkettung erfüllen.

Die Anzahl der möglichen Lösungen, die ein herkömmlicher serieller Computer der Reihe nach überprüfen müßte, steigt exponentiell mit der Zahl der Variablen und treibt so die benötigte Rechenzeit sehr schnell ins Astronomische. Der DNA-Computer könnte hingegen alle Lösungen eines solchen Problems auf einmal erfassen – in Gestalt verschiedener DNA-Moleküle, deren Nucleotide für "wahr" oder "falsch" codieren würden. Die Vorgehensweise ist an einem sehr einfachen Beispiel in Bild 3 demonstriert.

Diese Idee hat die Computerwissenschaftler, die von Adlemans molekularbiologischem Primitivrechner nur mäßig beeindruckt waren, aufhorchen lassen. Möglicherweise entsteht so im Grenzbereich zwischen Informatik und Molekularbiologie ein gänzlich neues Forschungsgebiet. Zweifellos aber hat sich in den letzten Jahren erwiesen, daß DNA zu mehr zu gebrauchen ist als zur Speicherung endloser Reihen von As, Cs, Ts und Gs.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1995, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.