Versauerung alpiner Hochgebirgsseen - Wechselspiel von natürlichen und menschlichen Einflüssen
Wie das Artenspektrum säureempfindlicher Kieselalgen in Sedimenten zeigt, hat auch vor Beginn der Industrialisierung der Säuregrad hochgelegener Alpenseen beträchtlich geschwankt. Dabei ergibt sich ein deutlicher Zusammenhang mit den mittleren Jahrestemperaturen.
Das Phänomen der Versauerung von Seen wurde in den siebziger Jahren entdeckt und seither intensiv untersucht. Daß auch Hochgebirgsseen in den Alpen davon betroffen sind, habe ich bereits in dieser Zeitschrift dargelegt (September 1990f Seite 30).
Die alleinige Ursache wurde bisher im Eintrag von starken Säuren – vor allem Schwefelsäure – gesehen, die seit Beginn der Industrialisierung mit den Abgasen von Verbrennungsprozessen in die Luft entweichen. Trotz Abgasreinigung und anderen Umweltschutzmaßnahmen erreichen diese Depositionen zur Zeit in den Alpen je nach Region und Höhenlage immer noch einen Mittelwert von 400 bis 800 Äquivalent Säure pro Hektar und Jahr – umgerechnet auf Schwefelsäure wären das 20 bis 40 Kilogramm.
Kieselalgen als Indikatoren
Eine paläolimnologische Untersuchung an zwei Hochgebirgsseen in Südtirol hat nun allerdings ergeben, daß auch natürliche Prozesse – und zwar insbesondere Klimaschwankungen – den Säuregrad (pH-Wert) von Seen wesentlich beeinflussen können. Dabei nutzten mein Kollege Roland Schmidt vom Institut für Limnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Mondsee und ich die Tatsache, daß Kieselalgen (Diatomeen), deren Schalen sich über Jahrtausende in Seesedimenten erhalten haben, jeweils einen ganz bestimmten Säuregrad bevorzugen. Sie eignen sich somit als Indikatororganismen, um historische pH-Werte, aber auch andere Umweltvariablen wie die Aluminium-Konzentration im Wasser zu ermitteln.
Für die jetzige Untersuchung mußte das Verfahren allerdings wesentlich verfeinert werden. So faßten wir die Arten nicht mehr nur wie bisher in vier bis fünf Gruppen abnehmender Säuretoleranz zusammen, sondern ordneten jeder Art einen bestimmten pH-Wert zu. Als Grundlage diente uns ein Datensatz von Aldo Marchetto von der Universität Mailand, der in 31 alpinen Hochgebirgsseen den pH-Wert elektrochemisch gemessen und mit der relativen Häufigkeit der einzelnen Diatomeen-Arten in der nur wenige Jahre alten obersten Sedimentschicht verglichen hatte. Eine umfangreiche rechnerische Auswertung lieferte für jede Art den pH-Wert, bis zu dem sie im Gewässer gedeiht.
Anhand dieser Auflistung konnten wir dann aus der relativen Häufigkeit der Diatomeen-Arten in verschieden tiefen Sedimentschichten den pH-Wert im See zur Zeit ihrer Ablagerung bestimmen. Zur Datierung der fünf Millimeter dicken Scheiben, in die wir die Sediment-Bohrkerne zerschnitten, dienten natürliche (radioaktives Blei-210) und künstliche Isotope (von Atombombentests und aus Tschernobyl stammendes Cäsium137). Dabei ermittelten wir Sedimentationsraten von ein bis zwei Millimetern pro Jahr. Die ältesten Sedimente, die wir mit unseren 30 Zentimeter tiefen Bohrungen erfaßten, waren etwa um 1800 abgelagert worden.
Die beiden untersuchten Seen, der Rassas- und der Portles-See im Vinschgau, liegen im Dreiländereck Italien/ Schweiz/Österreich auf knapp 2700 beziehungsweise 2900 Meter Meereshöhe und damit außerhalb direkter menschlicher Beeinflussung und deutlich oberhalb der jetzigen wie auch der höchsten historischen Waldgrenze (ungefähr 2400 Meter). Abgesehen von einigen möglichen sporadischen Besuchen durch Hirten oder Wanderer – die Fundstelle des ungefähr 5200 Jahre alten Homo tirolensis liegt nicht weit entfernt – sind also nur natürliche Einflüsse oder solche durch Ferntransport von Säuren und Schadstoffen zu erwarten.
Schwankungen des Säuregrads
mit der Temperatur
Unsere Untersuchung ergab in beiden Seen einen Rückgang des pH-Wertes – das heißt eine Zunahme des Säuregrads – seit Beginn des 20. Jahrhunderts (Bild). Dies war zwar vermutet, bisher aber an Gewässern in dieser Höhenlage nicht nachgewiesen worden. Überrascht hat uns das Ausmaß des Effekts: Mit etwa 0,8 pH-Einheiten ist die Versauerung so stark wie in höher belasteten Seen in England oder Süddeutschland. Vollends neu schließlich war der Befund, daß in beiden Seen bereits im 19. Jahrhundert anscheinend zeitgleich starke pH-Schwankungen von 0,8 beziehungsweise 0,6 Einheiten auftraten, wie man sie in dieser Frequenz und Amplitude bisher nirgends beobachtet hatte.
Wegen der großen Höhenlage beider Seen scheiden Schwankungen der Waldgrenze und damit zusammenhängende Veränderungen der biogenen Säureproduktion im Boden als Erklärung aus. Auch die parallel durchgeführte Pollenanalyse in beiden Seesedimenten ergab keine Hinweise auf wesentliche biogene Veränderungen im terrestrischen Einzugsgebiet.
Dagegen zeigte sich ein klarer Zusammenhang zwischen der Temperatur – es wurden sowohl die Schweizer als auch die österreichischen mittleren Temperaturen verwendet – und dem pH-Wert der Seen. Warme Jahre waren immer mit höherem pH (6,3 bis 6,5 im Rassas-und 6,0 bis 6,3 im Portles-See), kalte Phasen mit niedrigem pH korreliert (unter 6,0 im Rassas- und unter 5,8 im Portles-See). Die Korrelation ist so gut, daß sich über eine einfache lineare Beziehung aus den mittleren Temperaturen im 19. Jahrhundert eine pH-Kurve berechnen läßt, die weitgehend mit der aus Kieselalgen abgeleiteten übereinstimmt; die Abweichungen im Zeitraum von 1860 bis 1870 beruhen möglicherweise auf Datierungsfehlern oder darauf, daß die landesweite Mitteltemperatur von der in hohen Alpenlagen abweicht: Die Unterschiede zwischen kalten und warmen Phasen könnten in großer Höhe extremer sein als im Landesmittel.
Die Erklärung für dieses Phänomen suchen wir zur Zeit einerseits in hydrologisch-geochemischen Verschiebungen vor allem im Einzugsgebiet und andererseits in biogenen Veränderungen im See oder in der Sediment-Wasser-Kontaktzone. Generell findet man eine negative Beziehung zwischen Niederschlagshöhe und pH-Wert: Die Seen sind um so saurer, je mehr Regen- und Schneewasser sie durchströmt. Da warme Jahre meist auch besonders trocken sind, wäre ein Anstieg des pH-Wertes bei hohen Temperaturen verständlich.
Höhere Temperaturen bedeuten aber auch stabilere Schichtung, erhöhte Produktion von Biomasse und verstärkte Abbautätigkeit im See und auf der Sedimentoberfläche. Dadurch können Säure-Anionen wie Nitrat und Sulfat, aber auch Eisen-lonen reduziert werden, was das Säure-Base-Gleichgewicht zu höheren pH-Werten verschiebt. Dafür spricht, daß der organische Gehalt und das Konzentrationsverhältnis von Eisen zu Mangan im Sediment ganz ähnlich wie die pH-Kurve schwanken.
Bei aller Gemeinsamkeit in der Entwicklung beider Seen gibt es allerdings auch Unterschiede, die wir zur Zeit noch nicht erklären können. So wechselte im Rassas-See mit Beginn der anthropogenen Versauerung die Dominanz unter den Diatomeengattungen von Aulacoseira zu Achnanthes, obwohl die industriell verursachte Abnahme des pH-Wertes durchaus im Rahmen der klimatisch bedingten Schwankungen im 19. Jahrhundert blieb. Im Portles-See dagegen unterscheiden sich klimatisch und anthropogen bedingte Versauerungsphasen nicht erkennbar im Artenspektrum; hier war Achnanthes über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg die vorherrschende Gattung.
Aus unseren Ergebnissen lassen sich auch neue Schlüsse über die Umweltbedingungen für andere säureempfindliche Gewässerorganismen wie bestimmte Kleinkrebse, Mollusken, Insektenlarven und Fische ziehen. Alle einschlägigen Untersuchungen zeigen, daß sensitive Arten bereits bei pH 6,0 Schaden nehmen und daß die höchsten Artenverluste zwischen pH 6,5 und 5,5 auftreten. Nach unseren Erkenntnissen entspricht dies aber dem natürlichen Schwankungsbereich beider Seen vor dem Einsetzen der sauren Niederschläge. Demnach können auch vorindustrielle Belastungssituationen für das Verschwinden empfindlicher Tiere verantwortlich sein.
Bemerkenswerterweise traten in beiden Seen gleichzeitig um das Jahr 1950 – also in der Phase der stärksten anthropogenen Versauerung – zwei kleine pH-Gipfel auf, die mit dem ersten Wärmerekord unseres Jahrhunderts zusammenfielen. Mithin können natürliche Prozesse das Säure-Base-Gleichgewicht selbst bei massiver anthropogener Einwirkung noch modulieren. Deshalb muß die Erholungsphase seit Beginn der achtziger Jahre auch nicht unbedingt auf dem Rückgang der Schwefeldioxid-Emission beruhen, der überall in Europa die Sulfatgehalte des Niederschlags deutlich sinken ließ; möglicherweise machen sich zusätzlich die seit etwa 1970 stark steigenden Temperaturen bemerkbar, die den Eintrag von Säuren aus Schnee und Regen teilweise kompensieren.
Ob die gefundenen Beziehungen generell in Alpenseen gelten und ob sie zeitlich weiter zurückreichen – bis zum Ende der letzten Eiszeit – oder eventuell von anderen Einflüssen überlagert werden, soll in den nächsten Jahren im Rahmen des großen gesamteuropäischen Projektes ALPE (Acidification of Remote Mountain Lakes: Palaeolimnology and Ecology) untersucht werden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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