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Umsetzung des Vertrages: Vertrauen und Flexibilität

Die praktische Ausgestaltung des Vertrages wirft noch manche Fragen auf. Sie belegt aber ebenso seinen Nutzen und verdeutlicht das Potenzial für die Vertrauensbildung auch außerhalb des bisherigen Vertragsgebietes.


Wenngleich von der Unterzeichnung des Vertrages über den Offenen Himmel bis zu seinem In-Kraft-Treten fast zehn Jahre vergingen, herrschte in dieser Zeit kein Stillstand. Die Mehrheit der Vertragsstaaten nutzte intensiv die Chance, das Regelwerk in der Praxis zu erproben. Bereits im Juli 1993 startete die erste deutsche Testbeobachtungsmission von Ulan-Ude in Sibirien aus. Bis der Vertrag schließlich tatsächlich in Kraft trat, hatten alle beteiligten Staaten immerhin 420 Testmissionen im gesamten Vertragsgebiet durchgeführt.

In den Jahren 2000 und 2001 trafen sich die Teams mehrerer Vertragsstaaten in Fürstenfeldbruck zu einer "probeweisen" Zulassungsprüfung ihrer Beobachtungsflugzeuge und Sensorik. Zu dieser Testzertifizierung hatte das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr in Geilenkirchen eingeladen, dem alle nationalen Aufgaben im Zusammenhang mit der Anwendung des Vertrages obliegen. Inspektoren überprüften die Beo-bachtungssysteme auf Vertragskonfor-mität. Neben dem Erarbeiten einer erstaunlichen Routine gelang es hierbei auch, sich auf gemeinsame methodische Standards zu verständigen, was bei der Heterogenität der multinational zusammengesetzten Gruppe kein leichtes Unterfangen war.

Von den dadurch erworbenen Erfahrungen im Umgang mit komplizierten internationalen Vertragsbestimmungen konnten auch Staaten profitieren, die dem Vertrag über den Offenen Himmel bisher nicht beigetreten sind. So unterstützten Offiziere des Zentrums für Verifikationsaufgaben die Ausbildung von Rüstungskontrollexperten zahlreicher anderer Nationen. Einer der Schwerpunkte war hierbei das Ausbildungszentrum für Rüstungskontrolle für die Balkanregion, das im Sommer 2000 in Zagreb eingerichtet worden war.

Einsätze der Krisennachsorge mit den Konfliktparteien in Bosnien-Herzegowina und Flüge bei Umweltkatastrophen bewiesen auch die Eignung des Vertrages für weiter gehende Aufgaben. So konnte etwa während des Hochwassers an der Oder im Sommer 1997 den Einsatzstäben in Brandenburg und Warschau nahezu verzugslos aktuelles Bildmaterial über den gesamten Flussverlauf zur Verfügung gestellt werden.

Der Vertrag tritt in zwei Phasen in Kraft, um den Nationen Zeit zu geben, geeignete Beobachtungsflugzeuge mit vertragskonformer Sensorik zu beschaffen. In beiden Phasen sind hierfür exakte Leistungsparameter festgelegt, deren Einhaltung bei der Zulassungsprüfung von allen Vertragsstaaten akzeptiert werden muss. Quotenflüge sind nur mit einem zertifizierten Beobachtungsflugzeug gestattet.

Mit dem "Taxi" nach Russland

In der ersten Phase, der so genannten Ersten Fähigkeit, sind die Beobach-tungsflugzeuge nur mit optischen Sensoren ausgestattet. Die ersten drei Flugzeuge dieser Art wurden im vergangenen April auf dem Marinefliegerhorst Nordholz bei Cuxhaven in einem aufwendigen Verfahren zertifiziert. Diese Maschinen gehören Ungarn, der Ukraine sowie Russland und Weißrussland, die sich beide im Sinne des Vertrages zu einer Staatengruppe zusammengetan haben. Die Vereinigten Staaten haben ihr Beobachtungsflugzeug im Mai auf der Wright-Patterson Air Force Base zertifizieren lassen. Bis Juli folgen die übrigen Staaten mit eigenen Maschinen. Ab August werden dann die ersten offiziellen Quotenflüge stattfinden.

Bis dahin sind unter dem Dach der Beratungskommission in Wien noch technische Fragen beziehungsweise kleinere Probleme zu lösen. Hierunter fallen vergleichsweise einfache Anliegen wie die der Kostenstandards, die seit ihrer Festlegung 1992 nicht mehr an die aktuelle Preisentwicklung angepasst wurden. Etwas schwieriger dürfte dies in Bezug auf Regelungen sein, die man im Vertrag eindeutig festgelegt wähnte, die aber in der praktischen Ausgestaltung dennoch viele Fragen aufwerfen – etwa der Einflug in Luftsperrgebiete oder der Sicherheitsabstand zu Kernkraftwerken und Industrieanlagen. Hierbei könnte man sich an den generell sehr hohen deutschen Sicherheitsstandards orientieren (2000 Fuß Flughöhe / 1,5 Kilometer seitlicher Abstand). Zudem legen viele Staaten überzogenen Wert auf den Schutz des erflogenen Datenmaterials, das offiziellen Stellen aller Vertragsstaaten zur Verfügung steht. Weiterhin harren spezielle Fragen, wie die der Durchführung von Transitflügen von Russland in die Region Kaliningrad über die baltischen Staaten hinweg, noch einer detaillierten, endgültigen Regelung.

Russland beharrt als einziger Vertragsstaat auf dem vertraglichen Recht der so genannten "Taxi-Option". Das bedeutet, dass auch Nationen, die ein eigenes Beobachtungsflugzeug besitzen, bei Missionen über Russland ein vom beobachteten Staat zur Verfügung gestelltes Flugzeug benutzen müssen. Weil Russland – ebenso wie die USA – 42 Passivquoten hat, also 42 Beobachtungsmissionen über eigenem Territorium erdulden muss, die jeweils etwa eine Woche dauern, ist es gezwungen, fast ständig ein technisch einwandfreies Beobachtungsflugzeug bereitzustellen. Dadurch sieht sich Russland mit hohen Zusatzkosten konfrontiert und versucht diese unter anderem dadurch zu mindern, dass seine Passivquote durch die anderen Vertragsstaaten nicht in vollem Umfang ausgeschöpft wird.

Den Friedenswillen von Konfliktparteien testen

Mit Beginn der zweiten Implementierungsphase Anfang 2006, dem "Realen Konzept", ist zusätzlich zu den optischen Sensoren auch der uneingeschränkte Einsatz von Infrarot-Zeilenabtastgeräten und abbildenden Radargeräten erlaubt. Bislang gibt es jedoch noch keine Geräte dieser Art, die einen vertragskonformen Einsatz gewährleisten würden, zumal sich die Vertragsstaaten noch nicht auf alle technischen Details festgelegt haben.

Wenn man heute in die praktische Ausgestaltung des Vertrages über den Offenen Himmel investiert, muss man sich auch fragen, wo der Nutzen in einigen Jahren liegen wird. Für das bisherige Vertragsgebiet haben bereits die Testbeobachtungsmissionen gezeigt, welches Potenzial für die Vertrauensbildung vorhanden ist. Die Luftraumüberwachung ließe sich künftig auf viele Krisengebiete übertragen, beispielsweise unter Mandat der Vereinten Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Denn nichts testet den viel beschworenen Friedenswillen zweier Konfliktparteien mehr als die gemeinsame Vorbereitung und Durchführung derartiger Luftbeobachtungsmissionen, deren Ergebnisse ihnen uneingeschränkt und in vollem Umfang zur Verfügung stehen.

Eine zweite Entwicklungslinie führt zurück nach Europa, wo das gegenwärtige Ringen um ein gemeinsames Auftreten der Europäischen Union an einem zugegebenermaßen kleinen, aber wirkungsvollen Instrument der Rüstungskontrolle zum Erfolg gebracht werden könnte, nämlich im Rahmen des Vertrages über den Offenen Himmel.

In diese Richtung geht eine deutsche Initiative, die für die Beschaffung eines eigenen europäischen Beobachtungsflugzeuges und für die Gründung eines eigenständigen Verbandes der Europäischen Union für den Offenen Himmel wirbt. Dabei ist noch kein spezieller Flugzeugtyp ausgewählt. Die geforderten Leistungsparameter sind jedoch unter Experten unumstritten: Das Flugzeug sollte über das volle Sensorspektrum verfügen, eine Reichweite im Tiefflug (in etwa tausend Metern Höhe) von annähernd 4000 Kilometern haben und ausreichend Sitzplätze aufweisen, um zusätzlich zur Bedienungsmannschaft auch Vertreter von Konfliktparteien, internationalen Organisationen und Medien mit an Bord nehmen zu können.

Dieses Flugzeug könnte dann in europäischer Zusammenarbeit ausgesucht und ausgerüstet werden. Auch für den Einsatz sind die unterschiedlichsten Kooperationsmodelle denkbar. Am charmantesten ist unter dem Blickwinkel gesamteuropäischer Sichtbarkeit das eines eigenständigen Verbandes der Europäischen Union analog zum Awacs-Geschwader der Nato am Standort Geilenkirchen. Dabei ist es durchaus vorstellbar, ja sogar wünschenswert, ein derartiges Projekt der Europäischen Union so flexibel und offen anzulegen, dass es zur Kooperation in wichtigen Bereichen – beispielsweise in der Sensorik – mit den anderen Vertragspartnern, gerade auch Russland und Ukraine, genutzt werden kann.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2002, Seite 102
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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