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Viewegs Geschichte der Chemie.

Aus dem Englischen von Brigitte Kleidt und Heike Voelker. Vieweg, Braunschweig 1997. 484 Seiten, DM 78,–.

William H. Brock, dem bekannten englischen Historiker der Chemie und Alchemie, geht es nicht um eine umfassende Gesamtdarstellung, sondern um die Schilderung bestimmter signifikanter Abschnitte aus der Geschichte der Chemie und ihrer Vorläuferin, der Alchemie. Es wurden „Textbeispiele“ gewählt, „die jeweils für ein Paradigma stehen, für eine theoretische, instrumentelle oder organisatorische Entwicklung, der der Historiker der Chemie Bedeutung beimißt“. Das Konzept ist einleuchtend; Brock besitzt zweifellos den für eine kluge Auswahl erforderlichen Gesamtüberblick und macht mit den zitierten Worten explizit, daß eine solche Auswahl subjektiv sein muß: Was der Historiker für bedeutend hält, kann sich durchaus ändern.

Das erste der 16 Kapitel ist der Alchemie gewidmet; es endet mit „Newtons Alchemie“, während das nächste „Newtons Chemie“ anführt. In der Tat befaßte sich Isaac Newton (1643 bis 1727), der allgemein als Begründer der mathematischen Physik bekannt ist, im verborgenen auch sehr intensiv mit Alchemie und Chemie; er stand an der Grenzlinie zwischen der metaphysisch fundierten Alchemie und der auf Rationalität ausgerichteten Naturwissenschaft der Neuzeit.

Etliche Ungenauigkeiten des Originals sind in der Übersetzung nicht korrigiert worden (und einige grammatische Mängel hinzugekommen). So hat der Rosenkreuzerorden des 17. Jahrhunderts nicht, wie behauptet, „die Veröffentlichung zahlreicher emblematischer Texte“ gefördert; das war schon deshalb unmöglich, weil er nur als literarische Fiktion existierte. Gemeint ist vielmehr, daß als Reaktion auf die sogenannten Rosen-kreuzermanifeste eine Vielzahl von alchemisch-theologischen Texten erschien.

Abgesehen von derlei Unebenheiten, die besonders in den Anfangskapiteln auftauchen, ist das Buch flüssig und nicht ohne Humor geschrieben. So zitiert Brock einen Ausspruch von William Crookes aus dem Jahre 1865: „Chemiker stottern üblicherweise nicht. Es wäre sehr unpraktisch, wenn es anders wäre, da sie von Zeit zu Zeit Wörter wie Methylethylamylophenylium aussprechen müssen.“

Nach dem Kapitel 2 mit Robert Boyle (1627 bis 1691) als zentraler Gestalt tritt uns im dritten Kapitel Antoine Lavoisier (1743 bis 1794) entgegen, im vierten ist John Dalton (1766 bis 1844) der Mittelpunkt. Diese Abschnitte betreffen die Chemie als Ganzes: das Verständnis der Verbrennung, die Herausbildung der Begriffe „Element“ und „Molekül“, das Konzept des „chemischen Atomismus“.

Die nächsten Kapitel widmen sich den nunmehr entstehenden Teilbereichen: der Elementaranalyse organischer Stoffe, der chemischen Strukturtheorie und der Entwicklung der chemischen Industrie, die mit der Herstellung von Soda und Farbstoffen einsetzt. Es folgen wieder Themen, welche die ganze Chemie betreffen: die Entwicklung des Periodensystems, die Anfänge der Physikalischen Chemie, das Unterrichtswesen und die Etablierung von Fachzeitschriften.

Bis hierher bereitet das Buch, wie Brock in der Einleitung zutreffend bemerkt, „dem allgemein gebildeten Leser wenig Schwierigkeiten“, ohne deshalb trivial zu sein. In den vier letzten Kapiteln jedoch wurde der Autor durch seine beträchtliche Kompetenz gerade für die Chemiegeschichte des 20. Jahrhunderts anscheinend zu einem Gewaltmarsch verführt. Selbst Chemikern wird es nicht leicht fallen, Brock zu folgen, wenn er über die Natur der chemischen Bindung, die organischen Reaktionsmechanismen, die anorganische Komplexchemie, die Wandlungen in den Syntheseverfahren und die Verbindung von organischer Chemie und Biochemie schreibt.

Brock ist sich dessen bewußt und rechtfertigt sich mit dem Diktum seines Kollegen Peter Morris, wonach die „Geschichte dieser Wissenschaft zu dünn“ gerät und „trivial“ wird, wenn der Historiker auf Fachtermini verzichtet. Das ist schon richtig; nur bleibt der Bruch in der Darstellung, und der letzte Teil richtet sich an ein anderes Publikum als die ersten. Weniger Fachtermini und der Verzicht auf manche komplizierten Details hätten das Buch einheitlicher gemacht.

Brock hat sein Werk in allen Teilen narrativ angelegt: Biographische Angaben werden in einen Erzählstrang eingewoben, der – nicht unbedingt chronologisch – die Entwicklung eines bestimmten Sachgebietes schildert. Die gut zu lesende, geradezu spannende Darstellung verleiht der Vergangenheit eine ungewöhnliche Frische und Präsenz. Das geht allerdings auf Kosten der Übersichtlichkeit und Systematik. Die Ausstattung der deutschen Übersetzung ist deutlich besser als die des Originals. Nur die Druckqualität der Abbildungen liegt in beiden Fällen unterhalb des heutigen Standards.

Das Buch belegt zweierlei. Einerseits gibt es sehr wohl neue und erfolgverheißende Konzepte für die moderne Chemiegeschichtsschreibung; andererseits ist das Problem, wie man einer allgemeinen Leserschaft die Geschichte der hochkomplexen Chemie dieses Jahrhunderts nahebringt, noch nicht überzeugend gelöst. Davon sollte sich aber niemand den Spaß an Brocks (nicht Viewegs) Geschichte der Chemie verderben lassen; Gelegenheit dazu bietet das Buch genug.

Brock zitiert den Chemiker und bedeutenden Chemiehistoriker Hermann Kopp (1817 bis 1892) mit dem Ausspruch, es sei dem Menschen nicht gegeben, sein Leben über die ihm zugemessene Spanne in die Zukunft zu verlängern, „wohl aber vermögen wir unser Leben in gewissem Sinne rückwärts zu verlängern, indem wir uns die Erfahrungen Derer, die vor uns da waren, aneignen und die Ansichten derselben so kennen lernen, wie wenn wir Zeitgenossen von ihnen gewesen wären. Das Mittel dazu ist auch ein Lebens-Elixir.“ Die Geschichte als Lebenselixir – welch schöner, gar nicht verstaubter Gedanke! In diesem Sinne sei das Buch William Brocks als remedium vitae empfohlen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1999, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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