Meteoriten: Vom Asteroidengürtel nach Neuschwanstein
Eine spektakuläre Feuerkugel über Südbayern in diesem Frühjahr erwies sich als Glücksfall für die Planetenforscher. Der zugehörige Meteorit konnte in den Alpen geborgen und als Bote vom Asteroidengürtel ausgemacht werden.
Es war am 6. April kurz nach 22 Uhr, als Nachtschwärmer in Südbayern und Tirol ein ungewöhnliches Schauspiel erlebten: Binnen weniger Sekunden zog ein greller Feuerball über den nächtlichen Himmel. Hunderte sahen die eindrucksvolle Erscheinung; besorgte Anrufer hielten Polizei und Medien in Atem. Aber auch zahlreiche Amateurastronomen, wegen des günstigen Wetters auf der Suche nach dem Kometen Ikeya-Zhang, wurden Zeugen des Ereignisses. Die stationäre Videokamera eines Tierbeobachters im bayrischen Murnau zeichnete sowohl die vom Meteor hell erleuchtete Landschaft als auch das 25 Sekunden dauernde Donnergrollen auf.
Aber nicht nur für die zufälligen Beobachter des Spektakels war dies ein denkwürdiger Abend, er sollte auch ein Highlight für die Meteoritenforschung werden: "Auf diesen Moment haben wir Jahrzehnte gewartet", sagte Dieter Heinlein auf der internationalen Konferenz "Asteroiden, Kometen, Meteore ACM-2002" in Berlin Anfang August. Pünktlich zur Tagungseröffnung konnte der Koordinator des Europäischen Feuerkugelnetzes den 450 Teilnehmern den Verursacher des bayrischen Frühlingsfeuerwerks präsentieren: einen faustgroßen schwarzen Steinmeteoriten mit einer Masse von 1750 Gramm. Berliner Amateurastronomen hatten das Fragment nur wenige Tage zuvor bei einer gezielten Suchaktion entdeckt. Es lag an prominenter Stelle: nur sechs Kilometer entfernt von Neuschwanstein, dem berühmten Schloss König Ludwigs II.
Mit automatischen Kameras auf Meteorjagd
Der Fund krönt die langjährige Arbeit des Feuerkugelnetzes, das in der Bundesrepublik vom Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR) betreut wird. Zuletzt war es in Europa 1959 gelungen, einen Meteoriten auf Grund fotografischer Beobachtungen zu bergen. Auch in den USA und in Kanada ist bisher nur je ein solcher Fund bekannt. Trotz ihrer geringen Zahl sind diese Meteoriten aber von enormem wissenschaftlichem Wert: Aus ihrer Leuchtspur am Himmel lässt sich ihre Umlaufbahn um die Sonne errechnen und damit ihre Herkunft ableiten – eine äußerst wichtige Information.
Mit dem Aufbau des europäischen Netzes war in den 1950er Jahren in der damaligen Tschechoslowakei begonnen worden. Zehn Jahre später schloss sich Deutschland an. Mittlerweile sind Stationen in Österreich, Belgien und Luxemburg hinzugekommen; insgesamt ist so das weltweit einzige großflächige Meteor-Beobachtungsnetz entstanden.
Jede Nacht sind 25 automatische Kameras im Einsatz. Überwiegend handelt es sich um schlichte Kleinbildkameras, die mit dauerhaft geöffnetem Verschluss einen Parabolspiegel ablichten, der den gesamten Himmel erfasst. In der Tschechischen Republik bannen dagegen hochauflösende Fisheye-Objektive den Nachthimmel auf großformatigen Planfilm. Auf den Langzeitbelichtungen sind die Spuren der Sternschnuppen deutlich von denen der Sterne unterscheidbar – als kurzzeitige Erscheinungen nehmen sie nicht sichtbar an der Himmelsrotation teil, erzeugen also weitgehend geradlinige statt kreisförmiger Spuren. "Zwölfmal pro Sekunde unterbricht eine Sektorblende die Aufnahme, so können wir später die Geschwindigkeit des Meteors im leuchtenden Teil seiner Bahn bestimmen", erklärt Heinlein.
Auch am 6. April verrichteten die Stationen ihren Dienst. "Eine sofortige Entwicklung der Filme zeigte, dass acht deutsche Kameras und je eine in Österreich und Tschechien die Feuerkugel fotografiert hatten", erinnert sich Heinlein. Die Auswertung der Fotos und weiterer Aufzeichnungen ergab, dass der Stein etwa 600 Kilopond gewogen und knapp einen Meter gemessen hatte, als er in die Erdatmosphäre eintauchte. Heinlein: "Wie mit einem Sandstrahlgebläse ist das äußere Material beim Flug durch die Lufthülle weggerissen worden. Erst in der letzten Flugphase, als der Körper bereits stark abgebremst war, entstand die schwarze Schmelzkruste"; sie ist erfahrungsgemäß nur etwa einen Millimeter dick.
Ein tschechisches Fotometer regis-trierte auch Änderungen in der Helligkeit der Sternschnuppe. Zu Leuchtausbrüchen kommt es, wenn der Stein im Flug auseinander bricht. Während der Hauptfragmentierung strahlte die Feuerkugel kurzzeitig heller als der Vollmond. Mit den in Deutschland verbreiteten Kleinbildoptiken aus den 1960er Jahren lässt sich die Aufspaltung des Meteoritenkörpers aber leider nicht beobachten. "Hier sind die tschechischen Kollegen schon weiter", sagt Heinlein, "mit ihren Fisheye-Objektiven konnten sie bereits multiple Meteorspuren fotografieren."
Etwa fünf Sekunden erleuchtete die Sternschnuppe den Himmel, bevor sie unterhalb einer Höhe von 16 Kilometern in den so genannten Dunkelflug überging. Er kann je nach der Fragmentmasse mehrere Minuten dauern. Das größte Bruchstück, nach dem immer noch gefahndet wird, brauchte etwa neunzig Sekunden, um den Boden zu erreichen. Es wird an der Südflanke des Hohen Straußberges nahe Füssen vermutet. Heinlein schätzt seine Masse auf fünfzehn Kilogramm. Fast doppelt so lange dürfte das nur gut ein Zehntel so schwere Neuschwanstein-Fragment gebraucht haben. Mit rund 200 Stundenkilometern traf es die Schneedecke 1600 Meter hoch auf der Altenberg-Alm bei Füssen.
Die sieben Fotos, auf denen der Meteor am besten zu sehen war, wurden am Ondrejov-Observatorium bei Prag ausgewertet. Eine Woche dauerte die akribische Vermessung der Spuren anhand der Sternpositionen. Mit den Resultaten gelang die Berechnung der Flugbahn des Steinbrockens vor seiner unsanften Begegnung mit der Erde. "Der Körper umrundete die Sonne auf einem exzentrischen Orbit mit einer großen Halbachse von 2,4 Astronomischen Einheiten", erklärt Pavel Spurny, der in Ondrejov die Berechnungen leitete. Das sei nichts Ungewöhnliches bei Meteoren, die tief in die Erdatmosphäre eindringen und Meteorite produzieren. Die sonnenfernen Regionen der Bahn reichten bis in den Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter, der sonnennächste Punkt lag etwas außerhalb der Venusbahn.
Überraschung beim Bahnvergleich
In anderer Hinsicht gab es allerdings eine große Überraschung. Sie zeigte sich beim Vergleich der Bahndaten mit denen des Pribram-Meteoriten, der im Jahr 1959 fotografiert und in der Tschechoslowakei geborgen worden war. Spurny: "Die beiden haben fast identische Orbits. Es gibt keinen Zweifel, dass sie denselben Ursprung haben."
Bereits seit den 1980er Jahren waren Bahnähnlichkeiten von Meteoren Anlass zu der Vermutung, dass es analog zu den bekannten Meteorströmen auch Asteroiden-Ströme geben könnte. Sie sollten aus zerbrochenen Kleinplaneten stammen, die sich im Laufe der Zeit entlang der Umlaufbahn verteilen. Meteorströme bestehen dagegen aus Kometenmaterial. Mit dem neuen Fund sei ein "wichtiger Beweis für die Existenz von Asteroiden-Strömen erbracht", bekundete Spurny auf der Berliner Konferenz.
Auch die Einschlagstelle ließ sich mit den tschechischen Bahnrechnungen präzise ermitteln: Der Himmelsstein fand sich nur 400 Meter abseits der errechneten Flugbahn eines hypothetischen Zwei-Kilogramm-Fragmentes.
"Er gehört sehr wahrscheinlich zu den gewöhnlichen Chondriten, der häufigsten Meteoritenklasse", vermutet Jürgen Oberst vom Institut für Weltraumsensorik und Planetenerkundung des DLR in Berlin. Ihren Namen haben sie von kleinen silikatischen Einschlüssen. Diese "Chondren" bestehen aus einer Art verfestigtem "solaren Schlamm": abgekühlter, kondensierter Sonnenmaterie, allerdings mit sehr viel geringeren Anteilen von flüchtigen Substanzen wie Wasserstoff, Helium oder Stickstoff.
Als Chondrit würde der Meteorit von Neuschwanstein von einem relativ kleinen Mutterkörper stammen, der nicht die schwerkraftbedingten Schmelzprozesse der terrestrischen Planeten und größeren Asteroiden durchmachte. Deshalb wurden die metallischen und silikatischen Anteile des Mutterkörpers – anders als bei der Erde mit ihrem metallischen Kern und silikatischen Mantel – nicht getrennt. "Der Stein ist undifferenziert", ist sich Oberst fast sicher und schätzt den Eisengehalt auf zehn Prozent – genug, dass der Meteorit von Magneten angezogen wird. Rostspuren an seiner Oberfläche künden von den drei Monaten unter feuchten bayrischen Witterungsbedingungen.
Als Nächstes sollen Messungen der Reststrahlung des Steins seine Aufenthaltsdauer im All enthüllen. Nachdem er durch Kollisionen mit anderen Objekten von seinem Mutterkörper abgespalten worden war, prasselten während seines langen Irrflugs im Weltraum unablässig kosmische Strahlungsteilchen auf ihn ein und erzeugten durch Reaktion mit vorhandenen Atomkernen radioaktive Isotope, deren Konzentration sich aus der
Energieverteilung der Reststrahlung erschließen lässt. Die Menge dieser nachträglich erzeugten instabilen Kerne liefert Hinweise darauf, wie lange der Brocken der kosmischen Strahlung ausgesetzt war. Die Untersuchungen finden im Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg statt. "Wir können so die Hauptkollisionsereignisse datieren und auch die Größe des Mutterkörpers abschätzen", erklärt Oberst, der auf einen Vergleich mit den Daten des Pribram-Steins gespannt ist. "Erstmals sind zwei unabhängig gefundene Exemplare aus demselben Asteroiden-Strom für eine vergleichende Laboruntersuchung zugänglich."
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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