Vom Selbstverständnis der Technikwissenschaften zur Reform der Universitäten
Mit der Dampfmaschine setzte ein so tiefgreifender Wandel der Wirtschaft und der gesamten Gesellschaft ein, daß er rückblickend als industrielle Revolution bezeichnet wurde. Technik ist seither mehr als die zweckrationelle Reaktion auf unsere Umwelt und bewirkt auch mehr als nur eine produktive Nutzung der Natur.
Nach mehreren Innovationswellen ist nun neuerlich ein technologischer Umbruch im Gange, und zwar einer, der in seinen Effekten alle historischen Beispiele bei weitem übertrifft und deshalb besondere Reflexion erfordert. In dem Maße, wie Produktivität an sich sowie mittels neuer Formen der Information und Kommunikation unsere Arbeits- und Lebenswelt formiert, stellen sich kritische Fragen nach der Qualität des durch Kreativität beschleunigten Wandels, nach der Beherrschung der eingeleiteten Systemänderungen, nach der Stabilität ihrer Prozesse und – aus ganzheitlicher Sicht – nach der geistigen Bewältigung der Dynamik, die einen jeden und praktisch alle Lebensbereiche erfaßt: Technik wird nicht mehr allein durch ökonomische Präferenzen gesteuert, sondern muß zugleich durch politische, soziologische und ökologische Bewertung ihrer Folgen kontrolliert werden.
Damit gewinnen Ausbildung und Bildung immer mehr an Bedeutung, zumal in der Bundesrepublik, die im globalen Wettbewerb vor allem durch das Können und Wissen ihrer Bürger zu bestehen hat. Aber sind die Institutionen des Lehrens und Lernens zukünftig überhaupt imstande, Kompetenz auf dem nötigen Niveau zu vermitteln? Wird die demnächst tätige Generation genügend darauf vorbereitet, die bis jetzt geschaffenen Potentiale zu nutzen und die künftige Entwicklung verantwortlich zu gestalten, also Richtung und Tempo des Fortschritts angemessen zu wählen, um das Wohlergehen der einzelnen Menschen wie der weiterhin dramatisch wachsenden Menschheit langfristig zu sichern?
Aufbruch zur Universitätsreform
Das heutige Selbstverständnis der Technikwissenschaften verlangt nach einer Universitätsstruktur, die zu permanenter Reform fähig ist. Es kann diese allerdings begründen helfen. Die derzeitige Wissenschaftslandschaft ist wegen der Partikularisierung der Fachgebiete und Fachbereiche auf eine flexible Erneuerung von innen nicht vorbereitet. Noch verharren wir im Hochschulsystem in einem Separatismus der Disziplinen: Es mangelt an Vermögen, die Grenzen zwischen Technik- und Naturwissenschaften einerseits und den Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits zu überwinden. Aber wir brauchen ihr Zusammenwirken: "Je moderner die Welt wird, desto unvermeidbarer werden die Geisteswissenschaften", hat der Philosoph Odo Marquard von der Universität Gießen das Problem formuliert. Mithin muß gerade auch die Technische Universität sich dem öffnen und aus ihrer sachorientierten Funktionswelt heraustreten.
Eine Universitätsreform darf sich deshalb nicht darauf beschränken, vordergründig Fachgebiete umzusortieren und Institute umzudefinieren. Sie muß vor allem einen neuen Geist für wissenschaftsorientierte Gemeinschaftsleistung wecken. Dabei kommt es wie bei einem Konzert auf das Orchester ebenso an wie auf die Virtuosen und den Dirigenten. Es geht zunächst um eine Reform in den Köpfen; ist sie erreicht, dann folgt auch die Reform der Strukturen.
Das Ziel ist es, daß die Universitäten sich zu effektiveren und flexibleren Lehr- und Forschungsbetrieben wandeln. Sie können dabei von den Wirtschaftsbetrieben lernen, die der Wettbewerb längst reformiert hat. Eine zentralisierte Massenuniversität widerspricht jeglichen modernen Erkenntnissen über das Management von Großunternehmen, die Hochschulen im Prinzip ja auch sind. Universitäre Autonomie ist nicht gleichbedeutend mit einer hierarchischen Gliederung und der Entscheidungskompetenz an der Spitze. Dezentralisierung der Verantwortung bei entsprechender Dezentralisierung der Organisation sind die Leitlinien für das immer komplexere Wissenschaftsmanagement, das auf Sachkompetenz setzen muß. Mehr Eigenständigkeit der Institute würde deren Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Größere Handlungsspielräume würden unternehmerisches Denken fördern, wie es etwa die Einwerbung von Drittmitteln erfordert. Flexible Organisationseinheiten ermöglichten allen Beteiligten, sich schneller veränderten Forschungsinhalten anzupassen.
Die künftigen Hochschulen müssen ein durch spezifische Aufgaben definiertes unterschiedliches Profil ausbilden. Die gleichwohl unerläßliche wissenschaftliche Universalität haben sie dann durch ausgleichende Kooperation anzustreben. Neben den Massenuniversitäten werden also zunehmend kleinere, auf Effizienz orientierte Universitäten jeweils eigenen Charakters entstehen. Dabei sollte die funktionale Differenzierung in Hoch- und Fachhochschulen erhalten bleiben, denn die derzeit zu beobachtende Tendenz, beide einander anzugleichen, widerspricht offenkundig dem gesellschaftlichen Bedarf an differenzierter Ausbildung.
Die theoretische und langfristige Zielorientierung der Wissenschaft hält viele Unternehmen davon ab, mit der Hochschulforschung zu kooperieren. Hier bieten die Gründung und Förderung von sogenannten An-Instituten eine geeignete Basis, Verbundprojekte zwischen universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie der Wirtschaft zu gestalten.
Die Universitäten müssen zudem in Zukunft mehr Gelegenheit bekommen, Forschungsschwerpunkte in eigener Zuständigkeit zu definieren. Dazu gehören ausreichende Finanz- und Sachmittel, über deren Einsatz dort entschieden werden sollte, wo die wissenschaftliche Arbeit geleistet wird. Der Haushalt der Universitäten ist den tatsächlichen Erfordernissen von Forschung und Lehre anzupassen – Überlastquoten dürfen allenfalls eine kurzfristige Ausnahme sein.
Die Aufgabe der Universitätsverwaltung ist es, Dienstleistungen für Forschung und Lehre bereitzustellen. Bei der Modernisierung dieses Managements müssen zunehmend Effizienzkriterien berücksichtigt werden, die allerdings entsprechende Organisations-, Personal- und Finanzstrukturen erfordern. Der stetige Anstieg der Personal- und Verwaltungskosten verlangt auch eine Veränderung des Besoldungssystems.
Wissenschaftliche Arbeit, die zu sehr im Rahmen der überkommenen institutionellen Bedingungen verbleibt, läuft Gefahr, aktuelle praktische Herausforderungen der Gesellschaft gar nicht wahrzunehmen, statt nach Möglichkeit dazu beizutragen, Grundlagen für ihre Bewältigung zu schaffen. Professoren sollten deshalb korrespondierende Doppelfunktionen in universitären und außeruniversitären Forschungsfeldern übernehmen; so könnten sie ihre Ergebnisse alsbald anwenden und erproben. Darin läge zugleich die Chance, universitäre Forschung stärker an realen Problemen zu orientieren.
Zur Reform des Studiums
Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist die wichtigste Investition der Universität in ihre Zukunft und in ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Effektive Maßnahmen dafür sind längst offensichtlich.
So muß das Promotionsalter durch Vergabe altersbegrenzter Promotionsstipendien gesenkt werden; das kann durch Ausbau und Förderung von Graduiertenkollegs unterstützt werden. Des weiteren sollten für junge qualifizierte Wissenschaftler in ausreichender Zahl Postdoktoranden-Stellen eingerichtet werden. Zu ihrer Förderung gehören auch Angebote, sich regelmäßig weiterzubilden; und zur Ergänzung ihrer Universitätsarbeit sind Forschungsaufenthalte an wissenschaftlichen Einrichtungen des In- und Auslandes dringend erforderlich.
Unter den Lehr- und Forschungsbedingungen der Massenuniversität leidet insondere die Ausbildung der Studenten. Der unmittelbare, fördernde Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden ist weitgehend verlorengegangen. Vonnöten ist darum eine wieder individuellere, damit auch intensivere Leitung und Unterweisung.
Von den Absolventen der Universitäten werden zunehmend außer Fachkenntnissen auch Fähigkeiten erwartet, ohne die leitende Funktionen in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr erfolgreich wahrgenommen werden können, nämlich Flexibilität und Kreativität, Motivation, Denken in Zusammenhängen, die Folgenabschätzung des eigenen Forschens und Handelns sowie Kooperations- und Kommunikationsbereitschaft. In ihrer Ausbildung muß darum die fachliche Qualifizierung mit einer allgemeinen Persönlichkeitsbildung verbunden werden. Weil die wissenschaftlichen Disziplinen stark spezialisiert sind, ist die heutige Universität nicht imstande, dies zu leisten, sie müßte demnach wieder an die Idee des Studiums generale anknüpfen.
Die Lehrmethoden haben in vielen Bereichen das technische Niveau, das mit Erfindung des Buchdrucks erreicht wurde, nur unwesentlich überschritten. Die inzwischen bestehenden Möglichkeiten, systematisches Grundlagenwissen in Form didaktisch gestalteter Programme unter Einbezug aller geeigneten modernen Medien zu vermitteln, werden erst selten genutzt. Dabei würden dadurch nicht nur die Lehrenden von Routineaufgaben entlastet; auch die Studenten könnten den Wissenserwerb individuell und somit effektiver gestalten.
Die Konzentration des Studiums auf Grundlagen schließt ein, daß man sich dabei an den beruflich erforderlichen Qualifikationen orientiert. Wie die außerakademische Praxis schon einbezogen werden kann ist sicherlich von Disziplin zu Disziplin verschieden; doch sollten die jeweiligen Anforderungen repräsentativ für die spätere Tätigkeit sein. Dem entspricht die praktische Fundierung theoretischer Lehrinhalte.
Eine für die Studenten effektive und nützliche Form der Berufsorientierung wäre die bezahlte Mitarbeit in Forschung und Lehre ihres Fachs. Vor allem angehende Wissenschaftler könnten so frühzeitig in den Forschungsprozeß integriert werden. Die Finanzierung studentischer Hilfskräfte wäre auch sozialpolitisch weitaus günstiger als das verbreitete Jobben nebenher.
Überlange Studienzeiten haben viele Gründe, unter anderem zeitaufwendige Prüfungsverfahren. Sie sind aber vor allem ein Ergebnis von Studienordnungen, die unflexibel sind und für alle gleich lange Regelstudienzeiten vorschreiben. Abhilfe brächten differenzierte, aufeinander aufbauende Abschlüsse, die auf unterschiedlichen Ebenen als Qualifizierung für eine Berufstätigkeit anerkannt werden. So könnte sich das künftige Ingenieurstudium in drei Phasen gliedern und die Möglichkeit bieten, die Universität je nach individuellen Vorstellungen mit unterschiedlichen Ausbildungsgraden zu verlassen.
Offenheit und Leistungskontrolle
Um zur Lösung gesellschaftlicher Aufgaben beitragen zu können, wozu das Wissenschaftssystem dringlicher denn je gefordert ist, müssen jeweils mehrere, unter Umständen sogar viele Disziplinen zusammenwirken. Dabei dürfen selbstverständlich nicht die fachliche Autonomie und Kompetenz geschmälert werden.
Eine soziale Bedingung ist auch der zunehmende Kostendruck, gerade im Forschungsbereich. Das zwingt zu einer Aufgabenteilung unter den Hochschulen, denn die erforderliche Konzentration von Personal-, Investitions- und Sachmitteln kann nicht beliebig oft und an beliebig vielen Orten erfolgen. Einen weiteren Beitrag dazu müssen die Hochschulen selbst leisten, indem sie mit der Fortentwicklung der Wissenschaften nicht nur immer neue Ansprüche an staatliche Förderung begründen, sondern auch auf Einrichtungen verzichten, die ihren Zweck erfüllt haben oder ihm nicht mehr gerecht werden.
Bei der Weiterentwicklung der einzelnen Universitäten müssen solche Forschungsprofile erkennbar werden, die ein Interesse an Kooperationen mit und umgekehrt auch bei den im Umfeld ansässigen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen wecken. Im Idealfall sollten sie sogar Anlaß geben, daß Unternehmen eigens in Universitätsnähe gegründet werden oder sich dort ansiedeln. Diese Vorlauffunktion der Hochschulen würde dann insbesondere auch die Zusammenarbeit mit außeruniversitären Forschungsinstitutionen erleichtern, deren Aufgaben mehr an einzelnen Schwerpunkten orientiert sind. Schließlich entstehen, wo gute wissenschaftliche Arbeit geleistet wird, die überaus wichtigen Auslandskontakte ganz von selbst; dann müssen nur noch genügend Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten für ausländische Forscher geschaffen werden.
Ein besonderes Problem ist die verbreitete Unkenntnis über die Aufgabengebiete und Betätigungsfelder der Technischen Universitäten. Der rasche Zuwachs an immer komplexerem Wissen in ihren Disziplinen hat floskelhafte Kodierungen und Fachsprachen hervorgebracht, die sogar die Kommunikation der Wissenschaftler verschiedener Sparten untereinander erschweren oder verhindern. Die Spezialisten müssen wieder dialogfähig werden; zudem sollte verstärkte Öffentlichkeitsarbeit die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Hochschulen fördern, die nach wie vor Eminentes für die industrielle Zivilisation leisten.
Der Anspruch der Universitäten auf einen Freiraum – auf die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre – läßt sich nur dann rechtfertigen, wenn sie sich einer regelmäßigen Evaluation unterziehen. Finanzmittel für ihre Forschung sind künftig stärker als bisher an eine solche Qualitätsbewertung zu binden, wie das bei der Einwerbung von Drittmitteln schon lange gang und gäbe ist.
Dr. Spur ist emeritierter Professor für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der Technischen Universität Berlin. Er leitete dort das Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb sowie das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik. Zudem war er von 1991 bis 1996 Gründungsrektor der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. Er ist Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Institutionen und Akademien. Von den Universitäten Löwen, Chemnitz, Prag und Cottbus, der Stankin-Universität Moskau und dem Institut für Technologie in Beijing erhielt er die Ehrendoktorwürde; von der Tongji-Universität in Shanghai die Ehrenprofessur.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1997, Seite 39
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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