Vom Storchenflug zum Jumbo und Vom Laufrad zum 3-Liter-Auto.
CD-ROMs. Systemanforderungen: Multimedia PC, Pentium 133 MHz, Windows 95 oder 98 oder Windows NT 4.0, 12fach CD-Laufwerk, mindestens 32 MB Arbeitsspeicher. Springer electronic Media, Heidelberg 1999, je DM 49,90.
Wie läßt sich Technikgeschichte mit den Mitteln des Multimediums CD-ROM einem breiten Kreis näherbringen? Als umfassende und chronologisch aufbereitete Datensammlung? Als bunte Palette von Geschichten rund um das jeweilige Thema? Die Redaktion der Software-Reihe „Meilensteine der Naturwissenschaft und Technik interaktiv“ wählte einen Mittelweg, der sich als wenig golden erweist: Bar aller Mythen und soziokulturellen Hintergründe reihen Manfred Baur, Nina Hager und Anke Thulke herausragende Erfindungen und Entwicklungen auf, eben Meilensteine. „Wie funktioniert das?“ und „Wer hat was erfunden?“ sind die Fragen, die das Team beantworten will. Dementsprechend beginnt die CD-ROM „Vom Storchenflug zum Jumbo“ nicht mit dem übermütigen Ikarus, sondern im Jahre 1232, als – nach einem Bericht Marco Polos – die chinesische Armee von Schwarzpulver getriebene Raketen auf mongolische Angreifer schoß. In den fünf Kapiteln „Fliegen in der Natur“, „schwerer“ und „leichter als Luft“, „Utopien und Visionen“ sowie „Pioniere“ versuchen die Autoren einen umfassenden Abriß der Eroberung des Luftraumes. Für Systematiker stellen sie die Chronologie in einem sechsten Kapitel „Geschichte und Geschichten“ dar. Verknüpfungen der einzelnen Beiträge durch Hyperlinks durchbrechen eine bei dieser Gliederung naheliegende Vorher-Nachher-Struktur und eröffnen dem Nutzer viele Wege durch das Material. Multimedial geben sich die einzelnen Beiträge: Meist gleiten vier nicht unbedingt glücklich gewählte Symbole über den Bildschirm, die auf Mausklick bestimmte Funktionen aufrufen: eine Bildröhre der sechziger Jahre, eine Treibmine – warum auch immer –, ein Zahnradgetriebe und eine nicht minder sinnfällige Zielscheibe. Ein Beispiel: Zum Thema Hubschrauber startet der Klick auf die Bildröhre eine sekundenkurze Filmsequenz zur Manövrierfähigkeit dieser Fluggeräte; die Treibmine bringt erklärende Texte über die Physik von Vor- und Auftrieb, das Getriebe erlaubt das Bewegen eines stilisierten Hubschraubers, und beim Klick auf die Zielscheibe liest ein Sprecher einen auf dem Bildschirm sichtbaren Text vor: die Technologie der Luftfahrt zähle zu den fortschrittlichsten unseres Jahrhunderts, der Luftraum sei begrenzt und die Verkehrsdichte enorm angestiegen, aber computergestützte Flugsicherung, Wartungssysteme und Simulatoren sorgten dennoch für Sicherheit. Derartige Phrasen finden sich immer wieder. Trotz der Materialfülle bleiben die Inhalte eher oberflächlich und bieten wenig mehr als gesammeltes Allgemeinwissen. So gehen die Artikel zu den Flugpionieren nicht über das in beliebigen Print-Lexika zu findende Wissen hinaus, mit manchen darin enthaltenen Fehlern. Bekanntes und Belangloses Otto Lilienthal (1848 – 1896) wird ein weiteres Mal das Verdienst zugeschrieben, aufgrund von Beobachtungen segelnder Störche das Konzept des flügelschlagenden Fluggeräts verworfen, den Vor- vom Auftrieb getrennt und einen Segler mit starren Flügeln gebaut zu haben. Daß dieser Ansatz eigentlich auf den Briten Sir George Cayley (1773 – 1857) zurückgeht, ist der Redaktion gerade eine Bemerkung wert. Lilienthals großes Verdienst, mit seinem Segler das erste Serienflugzeug der Welt gebaut zu haben, findet überhaupt keine Erwähnung. Immerhin bereichern interessante Anekdoten im Kapitel „Geschichte und Geschichten“ die Silberscheibe: daß im Juni 1859 der Luftschiffer Eugène Godard und der Photograph Paul Nadar nahe der italienischen Stadt Solferino zur ersten Luftaufklärung feindlicher Stellungen aufstiegen, daß schon 1912 Captain Albert Berry als erster Mensch mit einem Fallschirm in 450 Meter Höhe aus einem Flugzeug sprang und daß 1981 bei einem Fluglotsen-Streik der Flugverkehr in den USA zum Erliegen kam. Diesen positiven Eindruck trübt eine willkürliche Vermischung mit Geschichtsdaten, die keinen erkennbaren Bezug zur Luftfahrt aufweisen und die fehlenden Angaben zum soziokulturellen Hintergrund der Entwicklung nicht ersetzen können: erster internationaler Frauentag am 19. März 1911, Inflation in Deutschland, November 1923, Schwarzer Freitag an der New Yorker Börse am 25. Oktober 1929. Unter den gleichen Mängeln leidet auch die andere CD-ROM der Meilenstein-Reihe, „Vom Laufrad zum 3-Liter-Auto“. Auch hier spiegeln die sechs Kapitel „Grenzgänge und Visionen“, „Energie und Umwelt“, „das Rad“, das Auto“, „Pioniere“ sowie „Geschichte und Geschichten“ eher das wider, was mit dem Medium formal möglich ist, als vertiefende Inhalte oder gar ein eigenständiges Geschichtsbild zu präsentieren. Ein Vergleich mit anderen CD-ROMs zeigt allerdings: Bislang ist es nur selten gelungen, die Komplexität des Multimediums mit seinen verschachtelten Ebenen im Griff zu behalten und ausschließlich in den Dienst einer inhaltlichen Darstellung zu stellen. Über die Attraktivität entscheidet dann meist die Qualität der interaktiven, spielerischen Elemente. Aber auch hier enttäuscht die Springer-Reihe. Die Interaktionen sind so phantasievoll wie das erwähnte Verschieben eines stilisierten Hubschraubers. Die kurzen Filmsequenzen – vermutlich aus Firmen- und Fernseharchiven – dürften einschlägig vorinformierten Nutzern größtenteils bekannt sein. Kleinere Mängel in der technischen Ausgestaltung verschärfen das schlechte Bild. Warum fehlen Möglichkeiten zur Volltextsuche und zum Ausdrucken von Texten? Warum gibt es keinen anderen Weg, eine Anekdote nachzulesen, als über das Stichwortverzeichnis? Und warum leiten die Hyperlinks dort nicht direkt zum Suchbegriff, sondern an den Anfang großer Textblöcke, die das gesuchte Wort irgendwo enthalten? Wer sich erstmals mit dem Thema beschäftigt und nicht zu viel erwartet, erhält einen brauchbaren Einstieg. Selbst wer ohne gezieltes Interesse von Link zu Link hüpft, verirrt sich dank einer brauchbaren Navigation nicht in den Ebenen und Themenbereichen. Die Graphiken sind hand-werklich von guter Qualität und die Systemvoraussetzungen erfreulich deutlich unter dem derzeitigen Standard. Doch wenn nach dem Gebrauch noch Wünsche und Fragen offen sind, empfiehlt sich eher ein herkömmliches Print-Produkt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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