Vom Traum und vom Träumen. Deutung, Forschung, Analyse.
Aus dem Englischen
von Christa Broermann, Ursel Schäfer und Renate Weitbrecht.
Kindler, München 1996.
512 Seiten, DM 58,-.
von Christa Broermann, Ursel Schäfer und Renate Weitbrecht.
Kindler, München 1996.
512 Seiten, DM 58,-.
Die Traumdeutung nach der Schule des Psychoanalytikers Sigmund Freud (1856 bis 1939) hat an Reputation verloren, weil sie nicht wissenschaftlich überprüfbar ist. Dies war Anlaß für den britischen Psychiater und Psychoanalytiker Anthony Stevens, die Interpretation von Träumen auf ein empirisches Fundament zu stellen – einerseits. Andererseits ist das träumende Gehirn für ihn eine "Poesie-Maschine": Psychoanalyse und Psychotherapie bleiben also mehr Kunst als Naturwissenschaft, und ihr Untersuchungsinstrumentarium ist unvollständig ohne Einsicht und Empathie. Stevens beschreibt zunächst die Traumtheorie im Wandel der Geschichte. Der antike Universalgelehrte Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) referierte die Vorstellung seiner Zeit, Träume seien durch übernatürliche Instanzen vermittelte Botschaften. Später hielt man sie für aktuelle Eindrücke, welche die im Schlaf vom Körper losgelöste Seele aufnehme. Erst in der abendländischen Kultur des 19. Jahrhunderts setzte sich die Auffassung durch, daß Träume natürliche Phänomene und Ergebnis der normalen Gehirntätigkeit im Schlaf seien. Freud wandte sich der Traumdeutung zu, weil er sich Aufschlüsse über das Unbewußte erhoffte: Der manifeste Trauminhalt verhülle die verbotenen Wünsche des latenten Trauminhalts. Ganz anders sein Schüler und späterer Gegner Carl Gustav Jung (1875 bis 1961): Er betrachtete den Traum als eine spontane Selbstdarstellung der aktuellen Lage des Unbewußten in symbolischer Ausdrucksform. Für ihn waren Träume ein Ausgleich für übermäßig eingeschränkte oder einseitige bewußte Vorstellungen und damit die Voraussetzung für Wachstum und Entwicklung. Zugleich hat sich in der Traumlehre bis heute eine antipsychologische, materialistische Auffassung gehalten, die in der Aktivations-Hypothese gipfelt. Demnach gibt es im Hirnstamm einen Traumzustandsgenerator, der während des traumreichen, durch rasche Augenbewegungen (rapid eye movements) charakterisierten REM-Schlafes das Vorderhirn mit wahllos synthetisierten Fehlinformationen bombardiert; die Großhirnrinde versucht dann, soweit sie kann, Sinn in dieses neuronale Gewitter zu bringen. Doch ebenso wie Freuds Auffassung kann auch diese nur Ausschnitte des Gesamtbildes beleuchten. Stevens hingegen bemüht sich um eine Integration des hermeneutischen, interpretierenden Ansatzes mit dem wissenschaftlichen, experimentellen. REM-Schlaf tritt nicht nur beim Menschen, sondern auch bei zahlreichen Tierarten auf und hat sich durch viele Millionen Jahre der Evolution hindurch erhalten. Daraus schließt Stevens, Träume müßten bei allen Säugetieren eine wichtige Funktion haben, und zwar im Zusammenhang mit ererbten stereotypen motorischen Sequenzen – Bausteinen von Verhaltensweisen, die für das Überleben und die Fortpflanzung erforderlich sind und in typischen Traumsequenzen ebenso deutlich werden wie in Verhaltensmustern. Diese Erbkoordination, konstatiert er, sei in phylogenetisch unterschiedlich alten Gehirnteilen lokalisiert. Dies erkläre auch die Träume von Kindern, die nicht von deren eigener Erfahrung abgeleitet sein können, sondern aus dem angeborenen Repertoire psychischer Anpassungen stammen müssen. Die Funktion von Träumen sei es, unser archaisches Erbe in das persönliche Leben des Träumers zu integrieren. Stevens beschreibt diese allen Menschen gemeinsamen Manifestationen der archetypischen Anpassungstendenzen, indem er die Ausdrucksformen, Bedeutungen und Funktionen typischer Träume darstellt. Des weiteren zeigt er am Beispiel des Chemikers Friedrich August von Kekulé (1829 bis 1896), dem die Idee des Benzolrings im Traum kam, des Mathematikers Carl Friedrich Gauß (1777 bis 1855) und des Physikers Albert Einstein (1879 bis 1955), welch kreatives Potential Träumen innewohnen kann. Ausführlich stellt er zudem Träume so verschiedener pathologischer Persönlichkeiten wie Adolf Hitler (1889 bis 1945) und René Descartes (1596 bis 1650) dar und bringt sie mit deren ungelebtem und nicht aktualisiertem archetypischem Potential in Verbindung. Psyche und Traum sind also nach Stevens evolutionäre Errungenschaften, ein Ausdruck biologischen Strebens mit dem Ziel zunehmender Bewußtheit im Dienste der Anpassung. Bewußtsein aber hängt ab von riesigen Mengen miteinander verbundener neuronaler Komplexe, die wie ein Orchester zusammenspielen und auch im Traum die bewußte Wahrnehmung einer Gesamtsituation steigern. Damit sind dem Traum nicht nur wertvolle Informationen über ein Problem und seine Entstehungsgeschichte zu entnehmen, sondern auch Hinweise auf seine kreative Lösung. Stevens hält die Traumarbeit in Psychoanalyse und Psychotherapie für erfolgversprechend, wenn es ihr gelingt, pathologische Komplexe bewußtzumachen und zu verändern. Dann nämlich verwirklicht sich die Anpassungsfunktion von Träumen: Das Ich erlebt einen Konflikt, und das Unbewußte reagiert, indem es das für eine anpassungsfördernde Lösung nötige Material liefert. Dies befähigt das Individuum, sich weiteren Problemen zu stellen, die dem Unbewußten weitere kompensatorische Reaktionen entlocken, und so weiter, wodurch insgesamt die Individuation vorangetrieben wird. Träume sind aber nicht immer kompensatorisch. Oft spiegeln sie auch das Verhalten des Träumers im Wachbewußtsein, denn die Kompensation ist nur eines der Mittel evolutionärer Anpassung. Der Sinn der Traumarbeit ist es, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Bewußtsein und Unbewußtem – den beiden Polen eines homöostatischen Systems – herzustellen. Nicht von ungefähr greifen Träume immer wieder bestimmte Themen auf, die Menschen überall auf der Welt bewußt und unbewußt beschäftigen: Angstträume beispielsweise haben die Funktion, vor Gefahren zu warnen, und können durchaus dazu motivieren, sich mit einem Problem auseinanderzusetzen. Träume vom Fallen und vom Fliegen haben ihren phylogenetischen Ursprung sicherlich darin, daß unsere frühen Vorfahren realen Gefahren ausgesetzt waren, wenn sie sich von Ast zu Ast schwangen; heute noch enthalten solche Traumszenen echte oder symbolische Warnungen vor allzu großer Sorglosigkeit in schwindelerregenden Höhen. In einer Zeit heilloser Verwirrung – die Freudsche Analyse ist diskreditiert, unzählige esoterische Heils- und Heilungsangebote lassen den Laien und oft auch den Fachmann immer ratloser werden – will Stevens eine Brücke schlagen zwischen der traditionellen Traumdeutung und den neueren Erkenntnissen der Neurobiologie, um in dieser Synthese eine solidere Legitimation für die Traumarbeit in der Psychotherapie zu finden. Sein interdisziplinärer und insofern durchaus vielversprechender Ansatz bestätigt allerdings weitgehend den überzeugten Jungianer, der in diesem Buch einige sehr interessante Traumanalysen findet; der Neurobiologe dagegen wird enttäuscht sein über die doch recht knappen und oberflächlichen Bezugnahmen auf die Erkenntnisse seines Faches. Das Buch ist dennoch lesenswert: Es vermittelt keine bahnbrechenden Erkenntnisse, gibt aber viele wertvolle Anregungen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1997, Seite 128
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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