Von der Kirchenkuppel bis zum Dampfbügeleisen: Anwendungsvielfalt kommerzieller FEM-Programme
Finite-Element-Programme sind heute Standard-Arbeitsmittel in der Industrie. Dabei haben sie ihr Nutzungspotential längst nicht ausgeschöpft. Die Anzahl der Nutzer im klassischen Anwendungsbereich steigt noch an, und es kommen immer wieder neue Anwendungsfelder hinzu. Das Werkzeug wächst mit dem Bedarf: Software-Entwickler erschließen neue Anwendungsfelder, verbessern die Methoden insbesondere in bezug auf Rechengeschwindigkeit, schaffen Möglichkeiten zur graphischen Darstellung, zur interaktiven Nutzung und viele andere. Preisverfall und Leistungszuwachs der Hardware, bessere Speicher, Kommunikationsmittel und Ausgabemedien haben sehr dazu beigetragen, daß auch Klein- und Mittelbetriebe verstärkt Finite-Element-Methoden einsetzen. Für Standardprobleme reicht inzwischen ein PC mit dem Betriebssystem Windows 95 oder Windows NT völlig aus. Kritischer Kostenfaktor wird zunehmend das Personal zur Durchführung der Berechnungen.
Bis zum Anfang der siebziger Jahre hatten mit wenigen Ausnahmen nur die Unternehmen der Luft- und Raumfahrt- sowie der Wehrtechnik hinreichend leistungsfähige Rechner zur Verfügung, um FEM-Programme kommerziell anzuwenden. Später war auch die Nuklearindustrie wegen des hohen Sicherheitsanspruchs bereit, so viel Geld auszugeben. Es ging fast ausschließlich um Festigkeitsprobleme: Man berechnete den Belastungszustand fester Körper unter Einwirkungen wie dem Eigengewicht und der Beanspruchung durch Lastwagen, Wind oder Wasser sowie Temperaturänderungen. Auch die Berechnung von Eigenfrequenzen zur Vermeidung unerwünschter Schwingungen gehörte zu den Grundaufgaben der Frühzeit.
Aus diesen Aufgabenfeldern heraus entsprossen zahlreiche Programmpakete. Einige, wie NASTRAN, STRUDL, AS-KA (PERMAS), ANSYS, MARC, ADINA und ABAQUS, wurden in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zu Allzweckprogrammen ausgebaut. Sie haben in jüngerer Zeit viel Konkurrenz bekommen, einerseits durch weitere Universalprogramme, deren Entwicklung zum Teil durch nationale und europäische öffentliche Gelder gefördert wurde, andererseits durch Spezialprogramme für eng umgrenzte Anwendungsfelder.
Eines von ihnen ist seit jeher die Statik im Bauingenieurwesen. Schon Anfang der siebziger Jahre gab es Berechnungsprogramme für über mehrere Felder durchlaufende Balken, die auf einfachsten Kleinrechnern liefen. Inzwischen haben sich die Ansprüche und die Möglichkeiten gesteigert; die ursprünglichen Programme für Stabwerke, Scheiben und Platten sind zu komplexeren Paketen herangewachsen, die fast beliebige Strukturberechnungen erlauben, mit dem Hauptgewicht auf Festigkeitsuntersuchungen. Aus wenigen Angaben machen sie fast vollständige Konstruktionspläne einschließlich Verteilung und Lage der erforderlichen Bewehrungseisen.
Dominierendes Entwicklungsziel ist ein Werkzeug zur kompletten Lösung einer Aufgabe mit hohem Bedienungskomfort. Zum Beispiel soll es leicht möglich sein, Eingaben wie Abmessungen, Gewichte und Lagerbedingungen zu ändern. Man möchte das Ergebnis als komplette baustatische Zeichnung sehen und möglichst gleich die Materialliste mitgeliefert bekommen.
Die großen Allzweckprogramme wurden in jüngster Zeit erstens auf ihren klassischen Anwendungsfeldern komplettiert, zweitens um neue Inhalte wie Temperaturanalyse, Magnetostatik und elektrische Feldberechnungen erweitert und drittens in Datenaufbereitung und Ergebnisdarstellung eingebunden. Was Geometrie, Randbedingungen und Komplettsimulationen angeht, bieten sie mittlerweile fast unbegrenzte Möglichkeiten, allerdings um den Preis einer komplexeren Handhabung. Auch gute Ingenieure sind von der Vielfalt der Möglichkeiten, aus denen sie selbst auswählen müssen, häufig überfordert. Dem versuchen die Programmhersteller durch weiteren Ausbau der Benutzeroberflächen abzuhelfen. Sie schaffen enge Verknüpfungen zum computergestützten Konstruktionsprozeß (computer-aided design, CAD) sowie zu Material- und anderen Datenbanken und stellen dem Benutzer zahlreiche Beispiellösungen und andere Hilfen zur Verfügung. Manche Benutzeroberflächen für Spezialgebiete schränken der Übersichtlichkeit zuliebe die komplette Palette auf die das Spezialgebiet betreffenden Programmbereiche ein.
Bei der graphischen Ausgabe reichen die Möglichkeiten von der einfachen Darstellung von Kurven und Schnitten bis zur dreidimensionalen virtuellen Realität. Bei kompliziert gestalteten räumlichen Strukturen wie Autokarossen oder Flugzeugrümpfen, bei Eigenschwingungen, Crash- oder Strömungssimulationen bekommt man dadurch einen guten Einblick in das Verhalten und gewinnt Aufschlüsse für weitere Konstruktionsmaßnahmen.
Die Breite der Anwendungen reicht von der Umformtechnik bis zum Wachstum von Bäumen (Spektrum der Wissenschaft, November 1989, Seite 14) und zu Simulationen von Unfällen wie der Explosion des Tanks der TWA-Maschine im Sommer 1996 vor New York.
Die Industrie erwartet, daß sie sich durch FEM-Simulation den Bau realer Objekte ersparen kann: Prototypen, Fertigungs- und Designvarianten sowie zahlreiche Exemplare des zu produzierenden Gegenstandes, die sie bislang in Fall- und Crashtests zerstören muß. Zugleich verspricht sie sich von den reicheren Experimentiermöglichkeiten besser (in bezug auf Gewicht, Belastbarkeit, Versagenssicherheit und Preis) und in kürzerer Zeit optimierte Produkte.
Die künftigen Einsatzmöglichkeiten der FEM erscheinen fast unbegrenzt. Kopplungen mit anderen Berechnungstechniken wie der Randelementemethode bieten weiteren Entwicklungsraum, zum Beispiel für Schallabstrahlungsprobleme. Durch die Weiterentwicklung der Methode an den Hochschulen weltweit werden Zuverlässigkeit und Anwendungsbereich immer weiter wachsen, insbesondere wenn gleichzeitig die Rechnerkapazitäten zunehmen. Die in den hochentwickelten Methoden ausgebildete Generation junger Ingenieure wird diesen Fortschritt in die Praxis tragen. Zugleich wird es gelingen, die Programme mit einer so geschickt gebauten Benutzeroberfläche zu umgeben, daß auch Konstrukteure ohne große Erfahrung und Methodenkenntnis eine Vielzahl an Standardberechnungen durchführen können.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 103
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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